Foto-Journalismus: »Wenn stille Bilder schreien …«

Immer waren und sind es Bilder, die Menschen zutiefst berühren – und zu Veränderung und Handeln bewogen haben. Das zeigt der Blick in die Geschichte des Journalismus, von Vietnam über 9/11 bis zum Boston Marathon oder den Erdbeben von Haiti und Japan. Nicht immer sind es allerdings die Bilder, die den Opfern ihre Würde nehmen.

Ertrunkene libysche Kinder am Strand. Leichen erstickter Menschen im LKW an der österreichischen Grenze: Die unerträglichen Bilder der vergangenen Woche wurden heftig diskutiert, brachen mit Furcht erregender Wucht in unsere Filterblase der heilen, friedlichen Welt. Die instinktive Reaktion vieler Menschen, »Ich will das nicht sehen!«, ist einerseits verständlich. Andererseits ist die Verweigerung des Sehens oft genug verpackt in ethische Argumente, die merkwürdig hohl klingen: Die Realität, die solche Bilder zeigen, lässt sich nicht wegschieben noch ungeschehen machen. Dafür sind diese Bilder zu furchtbar.

Auf den Plattformen des Sozialen Netzes prasseln die Szenen ungefiltert und vielfach ungewollt auf die Nutzer ein. Den Filmsequenzen und Bildern von Kriegsgräueln, Enthauptungen, von Tod und Sterben zu entgehen, scheint nahezu unmöglich. Dennoch müssen viele Bilder gezeigt werden. Zur Aufgabe des Journalismus gehört, die Seelenruhe des Publikums zu stören. Auch für Journalisten ist das schwierig. Wie sehr, zeigen zahlreiche nachdenkliche Beiträge der letzten Tage: Viele Kollegen haben ihre Überlegungen zu den furchtbaren Fotos öffentlich gemacht. Ihre sorgfältige Abwägung, ihre Zweifel, den Umgang mit allen notwendigen Informationen und in jedem Fall möglichst genauer Überprüfung der Quellen. Die Bilder der Toten aus dem LKW, die Fotos der ertrunkenen Kinder stammen offenbar von Helfern und Einsatzkräften. Sie versuchen oft vergeblich, Leben zu retten und überschreiten dabei ihre Grenzen von Kraft und Vorstellungsvermögen.

Berichterstattung ist notwendig. Dazu gehört neben aller Differenzierung und intensiven Überlegung auch ein angemessenes Umfeld; eines, das ohne boulevardeske Gewohnheiten von Klickstrecken über Sensationslüsternheit bis hin zu marktschreierischer Getösigkeit auskommt. Intensive Diskussionen in Redaktionen sind dafür nötig, Gespräche mit Kollegen, ein gemeinsames Ringen um Positionen und eine klare, journalistische Haltung. Letztere zu finden und zu leben, geht nicht ohne Zweifel, ohne permanentes Infragestellen des eigenen Tuns und auch nicht ohne Veränderung der eigenen Perspektive. Zu Pressefreiheit gehört immer auch die Entscheidung für oder gegen eine Veröffentlichung. Es ist eine Gratwanderung, bei der sich ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ebensowenig definieren lässt, wie es allgemeingültige oder gar einfache Lösungen gibt. Manche Kommentare kritisieren, dass über Bilder gestritten wird anstatt über Hilfe und Lösungen in der Flüchtlingskatastrophe. Es bleibt wichtig, dass in Zeiten mangelnden Vertrauens in Medien und Journalismus solche Debatten öffentlich geführt werden. Ein wesentlicher Teil gesellschaftlicher und politischer Weiterentwicklung ist Information, zu der auch der ungeschönte Blick auf die Realität gehört.

Denn immer waren und sind es Bilder, die Menschen zutiefst berühren – und zu Veränderung und Handeln bewogen haben. Das zeigt der Blick in die Geschichte des Journalismus, von Vietnam über 9/11 bis zum Boston Marathon oder den Erdbeben von Haiti und Japan. Nicht immer sind es allerdings die Bilder, die den Opfern ihre Würde nehmen. Es sind Distanz, Namenlosigkeit und Abstraktion von Opferzahlen. Und viel entwürdigender ist das, was Menschen in ihrer Heimat ertragen müssen, ob in Afghanistan, Libyen, im Libanon oder Syrien. Sie lassen alles hinter sich, um anderswo Frieden und Sicherheit zu finden, nehmen tödliche Risiken auf sich in ihrer Verzweiflung – und bezahlen ihren Weg Richtung Frieden und Freiheit mit dem Leben.

Bis vor kurzem waren die vielen auf der Flucht ertrunkenen Menschen namenlos. Jetzt kennen wir das Bild eines toten Kindes. Auf dem Weg von Kobane nach Kos im Meer ertrunken, angespült wie ein Stück Treibholz am Strand des türkischen Urlaubsorts Bodrum. Ein Video zeigt, wie ein junger Mann in Uniform am Meer steht. Minutenlang, bewegungslos, zu seinen Füßen liegt das ertrunkene Kind. Dann bückt sich der Mann mit der Sicherheitsweste, hebt den Jungen im roten Pullover behutsam auf seine Arme und trägt mit abgewandtem Gesicht die Leiche an den Strand, hinter einen Felsen. Flucht, Vertreibung und Tod sind nicht länger anonym; die Flüchtlingskatastrophe Tausender ist plötzlich ganz nah und trifft uns bis ins Innerste. Gerade weil es eine einzige Geschichte ist. Sie könnte die Geschichte unserer eigenen Kinder sein, hätten sie nicht das Glück gehabt, an einem anderen Ort geboren zu sein. Ein einziges Schicksal steht für tausende, lässt sich nicht mehr ungesehen und ungeschehen machen. Und hat einen Namen: Aylan Kurdi.

Das Foto des ertrunkenen kleinen Jungen am Strand von Bodrum zeigt, welche Macht dieser stiller Moment hat: Ein Bild, das andere Bilder weckt, Gedanken, Schmerz und Trauer. Ein Foto, das von Künstlern aufgegriffen und weitergetragen wird, dessen Botschaft weltweit verstanden wird. Ein Bild, das durch seine Stille zum Schrei wird. Ein Schrei, der plötzlich Veränderungen auslöst. Die britische Boulevard-Zeitung SUN hat bislang Camerons Abschottungskurs gegen Flüchtlinge verteidigt. Cameron, der mit mehr Hunden und Militär gegen Flüchtlinge vorgeht, stützte sich dabei auf die Meinung der Bevölkerung. Bei SUN hat dieses Foto eine radikale Wende eingeleitet; der Meinungskonzern kritisiert jetzt Cameron dafür.

Bilder können die Weltläufte ändern, immer wieder:  Kim Phuc, das Napalm-Mädchen aus Vietnam, das Nick Ut fotografierte und dessen Leid dazu beigetragen hat, den Krieg zu beenden. David Turnleys weinender Marine im Hubschrauber, zu dessen Füßen ein Leichensack mit dem gefallenen, besten Freund liegt: Eins der wenigen Bilder jenseits der oft kritisierten »Video War«-Bilder des ersten Golfkriegs. Der von Narben gezeichnete Hutu, den James Nachtwey in Ruanda traf; ein Mensch, dessen verstümmeltes Gesicht die Geschichte des Genozids erzählt. Jodi Biebers Porträt von Bibi Aisha aus Afghanistan, der die Taliban die Nase abschnitten. »The Falling Man«, den Richard Drew fotografierte, als er vom brennenden World Trade Center in die Tiefe stürzte. Nina Bermans Hochzeitsfoto eines bis zur Unkenntlichkeit von Narben entstellten Marines, dessen Braut mit leerem, abwesenden Gesicht neben ihm steht, wie in einer parallelen Welt. Eine trauernde Frau am Strand, nach dem Tsunami in Asien, fotografiert von Arko Datta. Taslima Akther, die in den Trümmern einer eingestürzten Textilfabrik in Dhaka ein Paar fotografierte, das sich im Tod umarmte.

All das sind Bilder, die oft als respektlos, entwürdigend und sensationslüstern kritisiert wurden. Die mit oft identischen Argumenten kontrovers diskutiert wurden, manchmal aus den Medien verschwanden wie »The Falling Man« oder Kenneth Jareckes verbrannter Soldat im Panzer. Dennoch sind diese Bilder mächtig. Sie berühren, bewegen bis heute und haben teils zu wesentlichen Veränderungen beigetragen. Weil sie veröffentlicht und gesehen wurden. Die Geschichten hinter all diesen aufgezählten Fotos könnten unterschiedlicher nicht sein. Dennoch haben sie alle etwas gemeinsam – auch mit dem Bild des ertrunkenen kleinen Jungen aus Kobane. Es ist der verdichtete, konzentrierte Blick auf einen vergleichsweise kleinen Ausschnitt, der abstrakte Statistiken und Fakten »übersetzt«, ihnen ein Gesicht verleiht. Das macht die Bilder der letzten Tage unerträglich. Notwendig bleiben sie dennoch.


 

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