Europa darf nicht an Deutschlands Eigenmächtigkeit zerbrechen

Soll Europa in dieser existenziellen Krise aus seinem verhängnisvollen Dissens in der Flüchtlingsfrage wieder herausfinden, liegt es vor allem an Deutschland, die durch sein eigenmächtiges Vorgehen verursachte Destabilisierung Europas nach innen und außen zu beenden und wirksame Schritte zu neuer Geschlossenheit einzuleiten.

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Ausgerechnet unter politischen Meinungsbildern in Deutschland, das von den anschwellenden Migrationsströmen am stärksten in Mitleidenschaft gezogen wird, treffen derartige pragmatische Lösungsansätze auf Unverständnis. So vermag Thomas Straubhaar, ein an der Hamburger Uni lehrender Schweizer Wirtschaftswissenschaftler, die „zunehmende Verunsicherung der bürgerlichen Mitte“ angesichts der ungebremsten Zuwanderung nicht nachzuvollziehen, wenn er fragt: „Sorgenvoll wird gezweifelt, ob angesichts einer Million Asylsuchender das Boot überquelle und ob Deutschland es schaffen könne, die Flüchtlingswelle zu bewältigen. Wieso eigentlich?“

Die Antwort, lieber Professor, müssten Sie sich eigentlich selbst geben können, denn es sollte sich herumgesprochen haben, dass in Vorderasien, im Nahen Osten und in Afrika 50 bis 60 Millionen wanderungsbereite Zeitgenossen in den Startlöchern stehen, um aus ihren prekären Lebensverhältnissen auszubrechen, und sich Deutschland bisher als einziges Land der Welt bereit erklärt hat, Flüchtlinge unbegrenzt aufzunehmen.

So besteht das eigentliche Problem der globalen Migrationskrise darin, dass ihre wahre Dimension und ihr besonderer Charakter selbst von verantwortlichen Akteuren und ihren beratenden Experten häufig verkannt und durch Desinformation interessierter Gruppen zusätzlich im Unklaren gelassen werden. Denn an Leib und Leben bedrohte Kriegsflüchtlinge, die in der medialen Berichterstattung im Vordergrund stehen, machen tatsächlich nur den geringeren Teil der globalen Migrationsströme aus. Daher geht der in der deutschen Politik verfolgte Strategieansatz, der Misere in erster Linie durch Kampf gegen Fluchtursachen im Syrienkrieg beizukommen, größtenteils ins Leere. Stattdessen müsste die weite Komplexität globaler Migrationsbewegungen Gegenstand eines viel umfassenderen Containment-Programms sein, dessen Federführung aber nicht im Bundeskanzleramt in Berlin sondern beim UNHCR in New York liegen müsste.

Das hier bestehende Politik-Vakuum wird durch lukrative Geschäftsmodelle international agierender Menschenhändlerringe ausgefüllt. Erst allmählich dämmert es hiesigen Nachrichtendiensten, dass es sich beim Großteil des Flüchtlingsansturms tatsächlich um den Angriff krimineller Menschenhändlerbanden handelt, die mit quasi „menschlicher Munition“ Europa den Migrationskrieg erklärt haben. So berichten Flüchtlinge in einer Dokumentation der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung („Staatlich geplantes Durchwinken“ vom 21. Februar 2016), dass falsche Registrierungspapiere in Griechenland nur 40 Euro kosten. „Für ein Zehnfaches sei es sogar möglich, auf den Inseln ein Originaldokument mit Stempel auf jeden gewünschten Namen und jede Nationalität zu erhalten. So könne ein Marokkaner für 400 Euro zum Syrer werden.“
Die Türkei unterstützt diese Machenschaften, indem sie es entgegen ihren offiziellen Bekundungen nicht nur unterlässt, die illegale massenweise Ausreise von Flüchtlingen an ihren Mittelmeerküsten zu stoppen, sondern, wie der SPIEGEL berichtet, die Voraussetzungen geschaffen hat, über ihre halbstaatliche Fluggesellschaft Turkish Airlines gewinnbringend nordafrikanische Migranten zur Weiterreise übers Mittelmeer gen Griechenland einzufliegen.

Push- und Pull-Faktoren der Migrationsströme

Versucht man, eine gewisse Übersicht über die Einflüsse zu gewinnen, die beim dynamischen Aufbau der Europa bedrängenden Migrationsströme inzwischen wirksam geworden sind, bietet die Migrationsforschung die Unterscheidung zwischen Push- und Pull-Faktoren an. Zu den Push-Faktoren gehören an erster Stelle die prekären Lebensverhältnisse in weiten Teilen Vorderasiens, des Nahen Ostens und Afrikas, aus denen heraus die über die Sozialen Medien verbreitete „Große Erzählung“ von der Wirtschaftskraft des Westens und von der freizügigen Vergabe von Sozialleistungen als Rettungsanker empfunden wird.

Auch hier zeigt sich die Janusköpfigkeit der digitalen Revolution, deren Segen in rascher Informationsvermittlung und unbegrenztem Austausch geistiger Güter, deren Fluch aber darin besteht, über die global hergestellte Transparenz ungleicher Verteilung von Arm und Reich zum Kampf um gleiche Teilhaberechte am westlichen Wohlstand anzustacheln.
Im Nahen Osten kommen die unentwegt mal schwelenden, mal glühenden Konflikte zwischen Arabern und Juden und innerhalb der islamischen Völker zwischen Schiiten und Sunniten hinzu, wie dies zur Zeit im Syrienkrieg der Fall ist. Schließlich gehört der internationale Menschenhandel mit seinen bereits dargestellten kriminellen Machenschaften zu den kräftigsten Push-Faktoren für die kontinuierliche Zuführung immer wieder neuer Migrantengruppen zum nicht versiegenden Strom der auf Deutschland zuwandernden Flüchtlinge.

Diesen vier die Flüchtlingsströme auslösenden Push-Faktoren steht eine Reihe von Pull-Faktoren gegenüber, deren verschärfende Anziehungswirkung auf die Migrationsbewegungen zugleich deren geografische Zielrichtung bestimmt. Dazu gehört vorneweg die deutsche „Willkommenskultur“, zu der Georg Paul Hefty in dieser Zeitung, das Lob der Holocaust-Überlebenden Ruth Krüger am Auschwitz-Gedenktag 27. Januar 2016 im Deutschen Bundestag würdigend, jenen Satz formulierte, der an den Urgrund des gegenwärtigen europäischen Dramas rührt: „Es ist klar, dass sich Deutschland dieses Markenzeichens nicht mehr entledigen will, auch nicht der Gemeinsamkeit mit den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zuliebe“.

In Verbindung mit dem auch hier zur Wirksamkeit gelangenden Flashmob-Effekt der digitalen Medien (von der Bundeskanzlerin in einem anderen Zusammenhang als Einstieg in ein weithin unbekanntes „Neuland“ bezeichnet), kommt in der „Refugee Welcome“-Geste die wohl stärkste Anziehungskraft auf Menschen zum Tragen, die aus kriegerischer Not oder wirtschaftlichem Elend fliehend nach einem sicheren Hort Ausschau halten.

Einer der nachhaltigsten Pull-Faktoren dürfte mit der von höchsten deutschen Instanzen gemachten Aussage zur Wirksamkeit gelangt sein, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Diese als vielfach apodiktisch und programmatisch verstandene Erklärung eines deutschen Bundespräsidenten und einer deutschen Bundeskanzlerin dürfte für die politische Auseinandersetzung in Deutschland und in Europa auch künftig erheblichen Sprengstoff bergen, weil sie erwiesenermaßen nicht mit der Mehrheitsmeinung der deutschen Bevölkerung in Einklang steht.

Auch die von der deutschen Bundesregierung unabgestimmt und im Alleingang verkündete „Politik der offenen Grenzen“ hat zu jener Sogwirkung auf die Flüchtlingsmassen beigetragen, die inzwischen von den meisten EU-Mitgliedern als Nötigung empfunden und mit zunehmend schärferen Gegenmaßnahmen bekämpft wird. Umstritten ist vor allem die deutsche Interpretation des Asylrechts, dass es keine Obergrenzen kenne, was aber einer inneren Logik entbehrt, da Asylgewährung ein auf den Einzelfall gerichtetes Notrecht ist, das nicht unbegrenzt in Anspruch genommen werden kann, weil das irgendwann zur Auszehrung der Fähigkeit des Asylgewährenden zur Hilfeleistung führen würde. Peter Sloterdijk hat dazu angemerkt, dass es schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung gebe.

Eine besondere Attraktionswirkung auf die Migrationsströme entfalten zudem die freizügig angebotenen sozialen Leistungen, deren Finanzierung hierzulande zu 90 Prozent aus dem vom Mittelstand aufgebrachten Steueraufkommen erfolgt und auf die nach höchstrichterlicher, deutscher wie europäischer Rechtsprechung praktisch jeder Erdenbürger Zugriff hat, der aufgrund seiner sozialen Bedürftigkeit darauf Anspruch erhebt.

Spielräume gemeinsamer europäischer Migrationspolitik

Betrachtet man die Push- und Pull-Faktoren in ihrer geballten gemeinsamen Wirkung  könnte der Eindruck entstehen, dass die Europäer für lange Zeiten vor einem unlösbaren Problem stehen. Bei genauem Hinsehen unterscheiden sich die beiden Einflusskategorien jedoch in einem entscheidenden Punkt, woraus sich mögliche Lösungsansätze ableiten ließen.

Während die Push-Faktoren gemäß der ihnen inhärenten Natur durch politisches Handeln so gut wie gar nicht, zum Teil nur in langen Fristen veränderbar sind, sieht es für die Pull-Faktoren in dieser Hinsicht anders aus. Alle vier genannten Attraktoren wären durch mutiges und abgestimmtes Handeln der deutschen und europäischen Regierungen veränderbar, sofern das Gemeinschaftsinteresse bei allen Beteiligten wieder die Oberhand gewönne und soweit ein solcher „Pakt der Vernunft“ von den meinungsbildenden Eliten aller Mitgliedsländer nachhaltige Unterstützung erhielte.

Dabei wäre es, wenn Europa in dieser existenziellen Krise aus seinem verhängnisvollen Dissens in der Flüchtlingsfrage wieder herausfinden soll, vor allem an Deutschland, die durch sein eigenmächtiges Vorgehen verursachte Destabilisierung Europas nach innen und außen zu beenden und wirksame Schritte zu neuer Geschlossenheit einzuleiten. Die deutsche Bundesregierung ist jetzt gefordert, beim Aufbau eines funktionsfähigen Sicherungsregimes der europäischen Außengrenzen die Führung zu übernehmen, das prioritär den Interessen aller Europäer an der Aufrechterhaltung ihrer innerstaatlichen Ordnungen genügt.

Darüber hinaus muss im Zusammenwirken der EU-Mitgliedsregierungen und der EU-Kommission alles getan werden, um die Hauptverantwortlichkeit der für die internationale Migrationspolitik zuständigen Vereinten Nationen bei der Befriedung der Kriegs- und Krisenherde und bei der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen in der geografischen Nachbarschaft ihrer kulturellen Heimaten einzufordern und sie dabei nach Kräften zu unterstützen.

Gastautor Wolfgang Müller-Michaelis ist Wirtschaftswissenschaftler und emeritierter Honorarprofessor für Angewandte Kulturwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg.

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