Was die Väter des Grundgesetzes sicher nicht wollten, sind eine Regierung und ein Parlament, die den Willen eines großen Teils der Bürger übergeht und ihr Land unkalkulierbaren Risiken aussetzt. Gastautor Joachim Stark zeigt die Defizite der bundesdeutschen Ordnung.
Eine Bundeskanzlerin setzt mit ihrer Flüchtlings- und Migrationspolitik ohne Rücksicht auf Anfeindungen, Zweifel, Debatten, gar Vertrauensverlust im Staatsvolk eine Politik durch, die ihr Land kulturellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Unwägbarkeiten und Risiken aussetzt, deren Folgen noch kommende Generationen beschäftigen werden.
Weder das Parlament, noch das Staatsvolk sind gefragt worden, ob es diese Politik mit dem Gemeinwohl für vereinbar hält. Eine demokratische gewählte Exekutive geht bewusst und methodisch das Risiko ein, gegen den Willen einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zu regieren. Es drohen eine dauerhafte Spaltung der Gesellschaft und die Zementierung von Konfliktlinien, die von neuen, nationalistischen Parteigruppierungen genutzt werden können.
Wie ist das im pluralistischen Rechtsstaat möglich?
Wie ist eine solche risikoreiche Politik, die einen ganzen Staat womöglich auf Jahrzehnte in Mithaftung nimmt, in einem demokratischen, parlamentarischen und pluralistischen Rechtsstaat möglich? Wie ist es möglich, dass eine Regierungsform, deren Legitimität und Funktionieren auf Diskussion, Aushandeln und Kompromiss basiert, im wesentlichen von einer einzelnen Person an der zentralen Stelle der Regierungsgewalt geradezu gegen sich selbst gewendet werden kann, indem zentrale Fragen der Zukunft des Landes der Diskussion entzogen und zu einer persönlichen Angelegenheit der Kanzlerin erklärt werden, die sich als alleinige Wahrerin des Staatswohls interpretiert?
Versuchen wir eine Analyse der tiefer liegenden Ursachen. Die mannigfachen Problematiken von Asylrecht, Obergrenzen für Zuwanderung, Grenzkontrollen, Abstimmung innerhalb der Europäischen Union, Rolle der Türkei, Finanzierungsfragen, etc. sollen hier nicht betrachtet werden. Ihre weithin strittige Behandlung durch die Kanzlerin ist wiederum nur Resultat der partizipatorischen Defizite im Parteienstaat und im repräsentativen Parlamentarismus, so wie er sich im Jahre 2016 darstellt.
Wer eine andere Politik will, soviel sei schon hier zu möglichen Lösungen gesagt, kann nur, solange er im Rahmen der herrschenden Verfassungsordnung bleiben will, auf den Rücktritt der Kanzlerin evtl. verbunden mit der Vertrauensfrage hoffen. Er kann evtl. auf ein Mißtrauensvotum aufgrund einer neuen Mehrheit im Bundestag jenseits der jetzt regierenden Koalition setzen. Oder er bleibt auf eine Bundestagswahl verwiesen. Sei es nach einer gescheiterten Vertrauensfrage oder turnusgemäß Ende 2017, wenn die Wählerinnen und Wähler möglicherweise andere, neue Mehrheiten bestimmen.
Die Kanzlerin nutzt diese Randbedingungen und Konstellationen – durchaus machiavellistisch inspiriert – für eine Art persönliches Regiment in der Flüchtlingsfrage. Und sie wird dieses Regiment solange führen, wie die Abgeordneten von CSU, CDU und SPD de facto die Kanzlerin im Amt halten. Solange es keine Mehrheit für ein Misstrauensvotum gibt, muss die Kanzlerin auch nicht über die Vertrauensfrage nachdenken. Die Wahlen in den Ländern im März werden neue Diskussionen in die Koalitionsparteien bringen, müssen Merkel aber nicht veranlassen, ihre Politik zu ändern.
Daran würde auch der Einzug der AfD in die Länderparlamente nichts ändern. Die AfD-Erfolge würden der Kanzlerin nur dazu dienen, einmal mehr die Einheit der Demokraten zu beschwören. Dadurch würde sie erneut Zeit gewinnen, um ihre Politik weiter zu verfolgen. Kurz: Eine Änderung der Flüchtlingspolitik seitens der Kanzlerin steht bis auf weiteres nicht in Aussicht.
Es liegt an den Strukturen und Prozessen
Um diese für viele Gegner der Kanzlerin wenig aussichtsreiche Situation zu erhellen, gilt es, Strukturen und Prozesse des bundesrepublikanischen Regierungssystems zu beleuchten. Es sind diese Strukturen und Prozesse, die das Handeln der Kanzlerin erst ermöglichen. Die Kanzlerin nutzt sehr bewusst diese Strukturen und die spezielle Konjunktur des Parteiengefüges, um ihren Spielraum bis an die Grenze des juristisch und staatsrechtlich Möglichen, und darüber hinaus, auszunutzen.
Sie nimmt damit in Kauf, dass relevante Teile des Staatsvolkes, aber auch der intellektuellen Eliten sich von diesem Regierungssystem und seinem Parteiengefüge entfremden und ihr Heil bei anderen Anbietern im politischen Wettbewerb suchen. Zugleich besteht die Gefahr, dass die Partnerländer in der EU sich von Deutschland und der EU selbst abwenden, weil sie die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin so nicht mittragen wollen.
Die Risiken für Deutschland und die Europäische Union sind also erheblich. Dass es zu solch einer Situation kommen konnte, liegt an den Strukturen und Prozessen des bundesrepublikanischen Regierungssystems und an einer Kanzlerin, die bereit und gewillt zu sein scheint, diese Strukturen und Prozesse ohne Bedenken für sich und ihren Politikansatz einzusetzen. Damit wird das Regierungssystem einem Stresstest ausgesetzt, dessen kulturelle und ökonomische Kosten möglicherweise auf einer Reihe von Politikfeldern gewinnbringender eingesetzt werden könnten.
Eine Erklärung für den Handlungsspielraum der Kanzlerin liegt zum einen in den stark ausgeprägten repräsentativen Elementen des Parlamentarismus in der Bundesrepublik. Zum Anderen in der Struktur der Regierungsparteien der Großen Koalition, die derzeit nur mit sehr großen Schwierigkeiten ihre Rolle als Diskutanten und Kommunikatoren des empirischen Volkswillens ausfüllen.
Die Krise legt die Schwächen des Grundgesetzes offen
Kurz: die Einwanderungskrise offenbart eine Krise des demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozesses. Diese Krise bringt eine Schwäche des Grundgesetzes zum Vorschein, die auf Dauer die Legitimität dieser Regierungsform untergraben kann. Daran haben die Medien mit ihrer von vielen als parteiisch empfundenen Flüchtlings-Berichterstattung einen Anteil. Der Prozess der Willensbildung im Staatsvolk scheint dadurch zusätzlich behindert, wenn nicht gar verfälscht. Verunsicherungen und Ängste machen sich breit, und schaffen sich Ausdruck vor allem in den sozialen Medien.
Das Funktionieren des parlamentarischen Regierungssystems in der Bundesrepublik beruht auf einem fein austarierten Gleichgewicht von repräsentativen und plebiszitären Elementen. Das debattierende und beschließende Gremium „Parlament“ ist als stark repräsentatives Element ausgestaltet. Repräsentativ heißt hier: Es verständigt sich immer wieder neu auf das „hypothetische“ Gemeinwohl. Seine Gesetze sorgen dafür, dass die überwiegende Mehrheit der Regierten ihr Leben als erträglich, wenn nicht als auskömmlich oder gar zufriedenstellend empfindet.
Die plebiszitäre Komponente sind die Parteien. Plebiszitär bedeutet, dass die Parteien dem empirischen Volkswillen Ausdruck geben und ihm auch folgen. Die Volksabstimmungen in der Schweiz sind das Beispiel für eine plebiszitäre, direkte Demokratie. Diese Mitwirkungsform ist in Deutschland auf Bundesebene nicht vorgesehen. Der parlamentarische Rat hat 1948/49 vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung Volksabstimmungen zu politischen Einzelfragen eine klare Absage erteilt. Auf Bundesebene beschränkt sich die direkte Mitwirkung des Volkes deshalb allein auf die Wahlen zum Bundestag.
Sind Abgeordnete und Parteien erst einmal gewählt, sind die Parlamentsfraktionen und die aus ihr hervorgehende Regierung indes nur noch ihrem Gewissen und dem hypothetischen Gemeinwohl verpflichtet. Theoretisch können sie zwar ihr Mandat durchaus aus dem Willen ihrer Wähler im Wahlkreis ableiten, es also als imperativ verstehen. Aber die Einbindung in die Fraktionsdisziplin macht das in der Praxis und auf Dauer zu einem schwierigen Balanceakt.
Der Volkswille bleibt schnell auf der Strecke
Für die Wähler jedenfalls besteht nur noch die Möglichkeit indirekter Einflussnahme auf den politischen Prozess über Vereine, Verbände, die außerparlamentarischen Parteigliederungen, Demonstrationen, Versuch der Teilnahme an der veröffentlichten Meinung (etwa Leserbriefe), Stellungnahmen in den sozialen Medien und ähnliches.
Es versteht sich, dass der empirische Volkswille in vielen Formen ermittelt wird. Er wird durch Vereine und Verbände mittelbar formuliert, er wird durch Meinungsumfragen erhoben, Abgeordnete werden direkt von Wählern angesprochen oder nehmen Meinungsbilder aus Versammlungen in ihren Wahlkreisen auf, die Medien berichten über Stimmungen und Aktionen, über Demonstrationen und Gegendemonstrationen und bilden Stimmungsimpressionen aus den sozialen Medien ab.
Aber der empirische Volkswille hat es schwer, seinen Weg in den Bundestag zu finden (symptomatisch dafür Pofalla gegenüber Bosbach: „Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen“. Oder Julia Klöckner: „Klappe halten“.) Aber so wollten es die Mütter und Väter des Grundgesetzes. Hören wir dazu Ernst Fraenkel, einen der Gründerväter der Politikwissenschaft in Deutschland:
„Unter der Herrschaft des Repräsentationsprinzips wird die Entscheidung über die Modalitäten der Bildung des Staatswillens primär unter der Berücksichtigung der Erwägung getroffen, dem Gesamtinteresse eine tunlichst große und ungehinderte Chance der Entfaltung zu geben. Salus rei publicae suprema lex.“ (Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, 1958)
Der Repräsentationsgedanke geht also davon aus, dass es ein objektiv feststellbares Gesamtinteresse gibt und dass der Wille des Volkes auf die Förderung des Gesamtinteresses gerichtet sei. Der Abgeordnete ist deshalb nur seinem Gewissen verpflichtet und an Weisungen zum Beispiel seiner Wähler oder seiner Fraktionsführung nicht gebunden (Art. 38.1).
Zumindest in ihrer Rolle als Abgeordnete des Deutschen Bundestages kann sich Frau Merkel auf diese Idee der Repräsentation berufen. Sie handelt nach Maßgabe des Gesamtinteresses des deutschen Volkes, so wie sie es vor ihrem eigenen Gewissen erkannt hat und verantworten will. Sie fühlt sich an Aufträge und Weisungen nicht gebunden. Sie tritt auch nicht in eine Diskussion über das Gesamtinteresse ein, wie sie es als einfache Abgeordnete zwangsläufig tun müsste.
Als Kanzlerin, die die Richtlinien der Politik bestimmt, muss sie sich nicht einmal bereitfinden, ihre Politik zu erläutern, den Nutzen für die Allgemeinheit herzuleiten und nachvollziehbar zu machen. Es kann das meiste unklar bleiben und hinter den Kulissen der arcana imperii verschwinden. Daran wirken auch jene mit, an die die Öffentlichkeitsarbeit der Kanzlerin im Wesentlichen delegiert wird, wie Altmair, Seibert, Kauder, Klöckner, Laschet.
Die Gefahr der Erstarrung zur Clique
Die freihändige Migrationspolitik der Bundeskanzlerin Merkel wurde möglich aufgrund eines konstitutionellen Geburtsfehlers der parlamentarischen Repräsentation unter dem Grundgesetz, den auch schon Fraenkel im Anschluss an Rousseau gesehen hat: Einem jeden souveränen Repräsentativorgan wohnt die Gefahr inne, zu einer Clique zu erstarren und seinen repräsentativen Charakter zu verlieren.
Dieser Fehler kommt indessen nur dann zum Tragen, wenn das fein ausbalancierte Gleichgewicht zwischen repräsentativen und plebiszitären Elementen gestört ist.
Ein stark auf Repräsentation ausgerichtetes Parlament funktioniert nämlich nur dann zufriedenstellend, wenn die Parteien ihre Rolle als plebiszitäres Element angemessen wahrnehmen.
Außerhalb des Parlaments haben Parteien in ihrer plebiszitären Rolle die Aufgabe, den empirischen Volkswillen in seinen mannigfachen Äußerungen und Strömungen aufzunehmen und zu aggregieren. Als Parlamentsfraktion, in ihrer Rolle als repräsentative Komponente, sollen sie diesen Volkswillen mediatisieren und politikfähig machen. Diese Vermittlungs- und Übersetzungsfunktion ist derzeit aber gehemmt oder gar unterbrochen. Daran ändern auch die Protestaktionen der CSU gegenüber der Kanzlerin ebenso wenig wie ein besorgter Brief von CDU-Abgeordneten. All das sind lediglich symbolische Aktionen, die nicht geeignet sind, die Politik der Kanzlerin zu ändern.
Denn die Kanzlerin weiß: Keine der Koalitionsparteien scheint derzeit gewillt, ein konstruktives Misstrauensvotum einzuleiten oder das Risiko einer Vertrauensfrage einzugehen. Eine gescheiterte Vertrauensfrage würde der Kanzlerin die Möglichkeit geben, beim Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages zu beantragen und Neuwahlen anzusetzen.
Neuwahlen würden unter den gegenwärtigen Bedingungen für alle Parteien und ihre Bundestagsabgeordneten jedoch unkalkulierbare Unsicherheiten bergen. Das wissen die Abgeordneten und deshalb wird niemand Neuwahlen anstreben. Das wiederum dürfte auch Bestandteil des Kalküls der Kanzlerin sein. Viele Abgeordneten aus den Koalitionsfraktionen könnten ihr Mandat einbüßen, möglicherweise zugunsten der AfD. Durch zahlreiche Protestwähler und Wahlenthaltungen könnte zudem das Regierungssystem selbst in eine Legitimitätskrise geraten. Mehrheitsbildungen könnten verkompliziert, Lösungen für die Flüchtlingskrise noch weiter erschwert werden.
Die Fortdauer der gegenwärtigen politischen Konstellation, die innenpolitisch der Kanzlerin nutzt, ist deshalb gewährleistet durch den Selbsterhaltungstrieb der Abgeordneten, aber auch der Parlamentsfraktionen, sowie der außerparlamentarischen Organisationen der Regierungsparteien. Das wissen auch Horst Seehofer und Sigmar Gabriel, Angela Merkel weiß es ohnehin.
Das Grundgesetz will eine dauerhafte und arbeitsfähige Parlamentsmehrheit und eine starke Exekutive. Davon profitiert nun Frau Merkel, die mit ihrem jetzigen Regierungsstil an die Kanzlerdemokratie zu Zeiten Adenauers erinnert. Der Preis für diese starke Regierung ist die Reduzierung der Parteien auf die Rolle von Erfüllungsgehilfen und das Beiseiteschieben des empirischen Volkswillens. Ein großer Teil der Staatsbürger, vielleicht die Mehrheit, fühlt sich nicht gehört, wenn nicht gar ignoriert.
„Verbonzung“ bei CDU und SPD
Das ist eine problematische Entwicklung, die Ernst Fraenkel schon in den 1950er Jahren sah. Wenn die Leitung einer Parlamentsfraktion einer Partei sich permanent in Widerspruch setzt zu den Instinkten und Meinungen der Funktionäre und Mitglieder an der Basis, dann droht die „Verbonzung“. Das scheint derzeit in der CDU und der SPD der Fall. Das Repräsentativsystem ist dabei, in ein plebiszitäres Regierungssystem umzuschlagen. Die Parteien sind nicht mehr Vereinigungen zu Verwirklichung demokratischen Lebens, sondern sie dienen qua Fraktionsdisziplin nur noch dem Machterhalt der Parteiführer, also etwa Frau Merkel. Das sind Zeiten, in denen die Keime gepflanzt werden für die Entfremdung zwischen Parlament und Parteien auf der einen, und Bürgern und Wählern auf der anderen Seite.
Es mag sein, dass die Kanzlerin mit ihrer Flüchtlingspolitik glaubt, den höchsten Werten der Menschheit zu dienen, wie Menschenwürde, Nächstenliebe, Barmherzigkeit. Es ist ihr bislang nur nicht gelungen, den Nachweis zu führen, dass eine entschiedene Mehrheit des Wahlvolkes ihr das glaubt und ihr deshalb folgt und sie somit demokratisch legitimiert.
Zweifel an diesen Werten als Motiv sind nicht völlig von der Hand zu weisen. Die Widersprüche der Merkelschen Flüchtlingspolitik liegen ja unverkennbar zu Tage. So sollen die Binnengrenzen der EU unter anderem deshalb nicht strenger kontrolliert werden, weil damit der Wirtschaft mit ihrer grenzüberschreitenden Just-in-time Logistik Einbußen entstehen könnten.
Auch sollen statt der nationalen Binnengrenzen die Außengrenzen der EU besser kontrolliert werden, damit nicht jeder Armutsmigrant in die Union gelangt. Und schließlich soll die Türkei, ein Staat mit nicht eben lupenreiner demokratischer Reputation, dabei helfen, die Flüchtlingsbewegungen aus dem Raum des Mittleren Ostens zu begrenzen. Ganz zu schweigen von der mangelnden Bereitschaft der EU-Mitgliedsstaaten, Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu entlasten.
Hier liegt eine ganz offenbare Fehleinschätzung der Kanzlerin vor hinsichtlich der Bereitschaft anderer Staaten, ihre nationalen Interessen zurückzustellen. Und wäre es völlig abwegig zu sagen, dass Nächstenliebe und Barmherzigkeit lediglich Konzeptlosigkeit und die Neigung zu passivem Zuwarten übertünchen sollen?
Aller Bedenken zum Trotz nimmt die Kanzlerin unbeirrt und ohne den Anschein von Selbstzweifel ihr Land mit auf einen Weg, dessen Ziel sich bis auf weiteres im Nebel der Ungewissheit verliert. Die starke Betonung der repräsentativen Komponente im Regierungssystem gibt ihr dazu die Möglichkeit. Aber auch die Schwäche der Parteien nutzt der Kanzlerin. Die Parteien sind nicht in der Lage, Gemeinwohl und Interessen des Landes mit den Bürgerinnen und Bürgern angemessen zu diskutieren und das Resultat der Diskussion in eine praktische und zeitnah wirkende Zuwanderungspolitik umzusetzen.
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes wollten einen starken Regierungschef und ein stabiles, mehrheitsfähiges Parlament. Was sie sicher nicht wollten, sind eine Regierung und ein Parlament, die den Willen eines großen Teils der Bürger übergeht und ihr Land unkalkulierbaren Risiken aussetzt. Risiken, deren Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit mit Bezug auf die Flüchtlings- und Migrationspolitik eher Züge eines Roullettspiels zu tragen scheinen, so zahlreich sind die unbekannten Variablen, mit denen Kanzlerin und Bundesregierung jonglieren.
Und Roulette hat eher wenig zu tun mit Verantwortung. Ein Regierungschef und sein Kabinett, aber auch die Parteien haben sich immer auch zu fragen, welche Belastungen ein staatliches Gemeinwesen aushalten kann. Denn das Grundgesetz spricht in eben jenem Artikel 65, wo von den Richtlinien der Politik die Rede ist, auch von der Verantwortung des Regierungschefs für seine Politik. Das meint: Eine Verantwortung vor dem Gewissen, vor dem Parlament, aber eben auch vor dem Willen der Staatsbürger.
Dr. Joachim Stark, Jg. 1952, Politikwissenschaftler, Soziologe und Kunsthistoriker
war als Tageszeitungsredakteur und Pressereferent in einem Großunternehmen tätig.
Autor von unter anderem:
- Das unvollendete Abenteuer. Geschichte, Gesellschaft und Politik im Werk Raymond Arons (1986)
- Raymond Aron: Über Deutschland und den Nationalsozialismus. Frühe politische Schriften (Hg. 1993)
- Identity, gender and the performative in Christo and Jeanne-Claude’s work (2006)
- Elements of Surrealist practices in contemporary visual art: Louise Bourgeois’ critical reworking of Surrealism (2008)
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