Dietrich Bonhoeffer über die Dummheit

Dietrich Bonhoeffer hätte sich den Gefährdungen des 3. Reiches durch seine internationalen Kontakte leicht entziehen können. Stattdessen suchte er bis zu seinem bewusst angenommenen Märtyrertod den Widerstand gegen jenes Un-Werk aus Lüge und Verbrechen. Von Martin Wisser

IMAGO / epd
Dietrich Bonhoeffer in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.

Unmittelbar vor Kriegsende, in der Morgendämmerung des 9. April 1945, also heute vor 77 Jahren, wurde auf Befehl Hitlers Dietrich Bonhoeffer im KZ Flossenbürg gehängt. Er hätte sich den Gefährdungen des 3. Reiches durch seine internationalen Kontakte leicht entziehen können. Stattdessen suchte er bis zu seinem bewusst angenommenen Märtyrertod den Widerstand gegen jenes Un-Werk aus Lüge und Verbrechen.

Es gibt nicht viele jüngere theologische Autoren, deren Denken und Sprache derart lebendig geblieben sind und deren Texte zu Wiedererkennen und überraschenden Einsichten in dieser Weise führen. Vielleicht ruft es die besondere existenzielle Situation hervor, in denen sie entstanden sind. Man kann nicht alles erklären. Das ist überhaupt eher die Ausnahme.

Immer wieder hat besonders „Widerstand und Ergebung“ in solcher Art gewirkt, die Aufzeichnungen aus der Haft ab 1943. Am Anfang bietet er dort eine tiefgehende Zerlegung der Gründe der Dummheit, so wie er zugleich die eher resignative Einsicht mitteilt, warum ihr mit Vernunftgründen kaum beizukommen ist.

In unseren polarisierten und verstörten Zeiten wirkt zu vieles beklemmend aktuell. Andererseits erscheint es als einer der so vortrefflichen wie wirkungslosen Texte, weil ein jeder in ihm die Spitzbuben der anderen Seite vortrefflich gezeichnet sehen wird. Eine klassische Einladung zur Projektion gewissermaßen.

Doch wir wollen zu seinem Text wechseln: „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit.“ So beginnt er. Gegen das Böse lasse sich protestieren, es lasse sich bloßstellen, notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trage immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurücklasse.

Eine zu optimistische Annahme, müssen wir leider einwerfen, aber hoffentlich hat er gegen uns recht, dass nämlich das Gespür für das Gute unzerstörbar bleibt. Doch zurück.

Gegen die Dummheit seien wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt lasse sich etwas ausrichten; Gründe verfingen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprächen, brauchten einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen werde der Dumme sogar kritisch – und wenn sie unausweichlich seien, könnten sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseite geschoben werden.

Dabei sei der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja, er werde sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergehe. Daher sei dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen. „Niemals werden wir mehr versuchen, den Dummen durch Gründe zu überzeugen; es ist sinnlos und gefährlich.“

Um zu wissen, wie wir der Dummheit beikommen könnten, müssten wir ihr Wesen zu verstehen suchen. So viel sei sicher, dass sie nicht wesentlich ein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt sei. Es gäbe intellektuell außerordentlich bewegliche Menschen, die dumm seien, und intellektuell sehr Schwerfällige, die alles andere als dumm wären.

Er beschreibt eine Besessenheit. Ein In-Besitz-Genommen-Sein.

Der Eindruck sei, dass die Dummheit weniger ein angeborener Defekt sei, als dass unter gewissen Umständen die Menschen dumm gemacht würden bzw. sich dumm machen ließen. Abgeschlossen und einsam lebende Menschen zeigten diesen Defekt seltener als zur Gesellung neigende oder verurteilte Menschen und Menschengruppen. So scheine die Dummheit weniger ein psychologisches als ein soziologisches Problem zu sein. Sie sei eine besondere Form der Einwirkung geschichtlicher Umstände auf den Menschen, eine psychologische Begleiterscheinung bestimmter äußerer Verhältnisse.

Der Mensch in seinen Verhältnissen, Zwängen und Illusionen. Was gewinnt ein Mensch, wenn er zugibt, in der Lüge zu leben, wenn er darüber hinaus nichts hat? Der verzweifelte Glaube an die Vernunft ist darum sinnlos und erklärt auch nichts. Die Wahrheit wird euch frei machen, ja sicher, aber wenn nicht mehr bekannt ist wozu. Was dann?

Doch zurück zu Bonhoeffer. Jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art, würde einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlagen, das scheine geradezu ein soziologisch-psychologisches Gesetz. Die Macht der einen brauche die Dummheit der anderen.

Macht brauche also gewissermaßen die Vernunft auf. Wir zögern.

Der Vorgang sei dabei nicht der, dass bestimmte – also etwa intellektuelle – Anlagen des Menschen plötzlich verkümmerten oder ausfielen, sondern dass unter dem überwältigenden Eindruck der Machtentfaltung dem Menschen seine innere Selbständigkeit geraubt werde und dass dieser nun – mehr oder weniger unbewusst – darauf verzichtete, zu den sich ergebenden Lebenslagen ein eigenes Verhalten zu finden.

Das von den Verhältnissen versklavte Ich also. Doch wir wollen ihn weiter sprechen lassen.

Dass der Dumme oft bockig sei, dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, dass er nicht selbständig sei. Man spüre es, dass man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihm mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen etc. zu tun habe. Er sei in einem Banne, verblendet, er sei in seinem eigenen Wesen missbraucht, misshandelt.

So zum willenlosen Instrument geworden, würde der Dumme auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfähig, dies als Böses zu erkennen. Hier liege die Gefahr eines diabolischen Missbrauchs. Dadurch würden Menschen für immer zugrunde gerichtet werden können.

Aber es sei auch ganz deutlich, dass nicht ein Akt der Belehrung, sondern allein ein Akt der Befreiung die Dummheit überwinden könne. Dabei werde man sich damit abfinden müssen, dass eine echte innere Befreiung in den allermeisten Fällen erst möglich sei, nachdem die äußere Befreiung vorangegangen sei; bis dahin müssten wir auf alle Versuche, den Dummen zu überzeugen, verzichten.

„… daß die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei, sagt, daß die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist.“

Eine andere Herrschaft also. Genauer, die, die diesen Namen verdient. Darum unsere Zweifel an der unterschwelligen Annahme, dass Macht per se böse sei. Aber in diesem äußerlich einfachen Text schießen auch vielerlei Dinge untergründig durcheinander. Nicht überraschend daher, gönnt er sich eine kleine intellektuelle Ausflucht am Ende:

Übrigens hätten diese Gedanken über die Dummheit doch dies Tröstliche für sich, dass sie ganz und gar nicht zuließen, die Mehrzahl der Menschen unter allen Umständen für dumm zu halten. Es würde wirklich darauf ankommen, ob Machthaber sich mehr von der Dummheit oder von der inneren Selbständigkeit und Klugheit der Menschen versprächen.

Warum sollten sie?

Lüge ist Besessenheit, und ihr mit Vernunft begegnen zu wollen, bedeutet, das Spiel nicht verstanden zu haben, das hier waltet.

Dennoch. Hier tritt uns durch Dietrich Bonhoeffer ein großes Zeugnis – unter der Herrschaft des Bösen – entgegen, von der Freiheit und Wahrheit, die der Glaube und das Vertrauen auf Christus, unseren Herrn, zu schenken vermag.


Martin Wisser, Neustrelitz


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Kommentare ( 24 )

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Andreas Spata
2 Jahre her

„Freiheit hat offene Augen“ heißt die sehr, sehr gute Biographie über Diedrich Bonhoeffer die mich sehr bewegt hat. Besonders in den letzten Jahren denke ich oft an das Buch mit dem markanten Buchtitel zurück. Nicht umsonst ist das Buch mit fünf Sternen bewertet.

Ohanse
2 Jahre her

Über dem Text habe ich schon öfter gesessen. Befreiung statt Belehrung, innere Befreiung – sofern überhaupt möglich – erst nach vorangegangener äußerer Befreiung. Dabei muss der Dumme mangels eigener Einsichtsfähigkeit konsequenterweise gegen seinen eigenen Willen befreit werden. Je nachdem, wie dringend die äußere Befreiung des Dummen ist, kann sich ein recht radikaler Ansatz ergeben. Bonhoeffer hat seiner Nachwelt mit diesen Betrachtungen ein ganz dickes Brett hinterlassen.

ChrK
2 Jahre her

Was gewinnt ein Mensch, wenn er zugibt, in der Lüge zu leben, wenn er darüber hinaus nichts hat?

Nachdem ich ein solcher Fall bin, aber davon meine, mit meiner Lage und meiner Lüge nur mir selbst zu schaden…bleibt die Antwort – fast schon zwangsläufig – „Ich gewänne nichts“. Warum? Weil dann auch mein Lebensziel und -grund entfiele, und dann könnte ich auch gleich morgen in die Grube kriechen.

Vorher will ich aber noch ein bißchen was gesehen haben von den Wundern dieser Welt. Soviel sollte die Lüge mir gegenüber dann schon noch hergeben…

C’est la vie, Sellerie.

Der Ketzer
2 Jahre her

Ich erinnere mich an ein schon länger zurückliegendes Interview, in dem ein Bürger nach dem Verlassen des Wahllokals danach gefragt wurde, welche Partei er gewählt habe. Seine Antwort: „Ich habe die SPD gewählt.“. Auf die Frage, warum er die SPD gewählt habe, kam folgende Antwort, die ich hier nur ungefähr wiedergeben kann: „Schon mein Großvater und mein Vater haben SPD gewählt. Die SPD ist die Arbeiterpartei …“. Dies ist natürlich die plakativste Art von Dummheit. Die heutige ‚Dummheit‘ ist aus meiner Sicht im Wesentlichen dadurch geprägt, dass Dinge nicht hinterfragt werden. Darüber hinaus brauchen viele Mitbürger einen Religionsersatz, den Sie… Mehr

Last edited 2 Jahre her by Der Ketzer
Kristallo
2 Jahre her

Das Leben und Sterben Bonhoeffers ist äußerst eindrucksvoll in seiner Konsequenz. Mir ist aber letztlich nicht ganz klar geworden, warum er (als Theologe) zwischen Dummheit und Bosheit unterscheidet. Der Mensch ist im Prinzip aufgrund seines freien Willens frei, sich um das Gute zu bemühen oder das Böse geschehen zu lassen. Wer das Streben zum Guten unterlässt oder verachtet, ist nicht „dumm“, sondern schlicht und einfach böse und schlecht. Ist das nicht die eigentliche Aussage der Bibel?

haasel
2 Jahre her

Das Gute ist gefährlicher, weil jeder folgen kann ohne nachzudenken. Diese dumme Masse kann jeder problemlos mit der Knute dressieren. Ohne Werte. Unrecht in einer homogenen Masse wird nicht mal wahrgenommen. Die wahren guten Taten werden im Alltag vollbracht, ohne daß sie erkannt oder anerkannt werden. Bonhoeffer kämpfte mit Intellekt für Wenige und verlor sein Leben für das große Nichts. Respekt an einen mutigen Mann!

haasel
2 Jahre her

Es wird als Dummheit in der Gefahr verstanden, in Situationen, wo es auf das gesunde Zünglein an der Waage ankommt. Wenn die „dumme „ Herde mal in Fahrt auf den Abgrund ist, gibt es kein Stoppen mehr, alles auf dem Weg wird platt gemacht. Pfeifen Sie da mal die Leitkuh zurück!

Stiller Ruf
2 Jahre her

Sie haben Bonhoeffers Text, den er kurz vor seiner Hinrichtung (übrigens von A. Hitler persönl. angeordnet) verfasste, weder intellektuell noch metaphysisch verstanden. Merke: „In der Folter sterben dumme PHRASEN!“ (Pater Alfons Klein. Als Jugendlicher ebenfalls wegen Widerstand gegen das NS-Regime in diversen KZ’s gelandet, wo man ihn und Mithäftlinge bis zum Skelett abmagern ließ, um sie zu brechen)

nethoesi
2 Jahre her

Natürlich hat jeder das uneingschränkte Recht auf seine eigene Dummheit (vielleicht auch als bequeme Wahrheitsverweigerung zu bezeichnen). Dieses endet aber wie alle anderen Rechte sofort, wenn es das Recht anderer auf Erkenntnis negiert, speziell auf Körperverletzung abzielt oder gar einen Angriff auf deren Leben zum Ziel hat. Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Tee Al
2 Jahre her

2016 war ich im KZ Flossenbürg und stand in Andacht vor den Gedenktafeln von Dietrich Bonhoeffer, Hans Oster und Wilhelm Canaris. Es sind Minuten die man kaum minder beschreiben kann als große Ehrfurcht und Respekt vor diesen Größen des Deutschen Widerstandes.
Wenn man dann ins Tal des Todes runtergeht und an den Platz der Nationen, fängt man an zu zittern.
Ich persönlich konnte die Tränen nicht mehr halten, ganz besonders vor der Tafel der Deutschen, die sinngemäß wiedergibt:
„Verraten vom eigenen Volk weil Ihr anders wart“