Die Grenzlüge: Merkel flieht die Wirklichkeit

Die Kanzlerin hat die Verantwortung doppelt ausgelagert: auf das internationale Parkett und auf die örtlichen Verwaltungsebenen. Im Zwischenraum ist der Bund aus dem Schneider. Der Bund hantiert mit Worten und Geld, aber irgendeine direkte Berührung mit dem Migrantenproblem meidet er. Berlin hat sich auf die Moderatorenrolle zurückgezogen.

Zu welcher absurden Konsequenz hingegen das Merkelsche „Nicht möglich“ führt, zeigt die gegenwärtige Situation in Deutschland. Die dezentrale Verteilung von Migranten aller Art – davon viele Asylbewerber ohne Anerkennungsaussicht, viele schon rechtskräftig abgelehnte Bewerber und viele Migranten ohne jede Registrierung – hat dazu geführt, das wir Zigtausende von Standorten im ganzen Land haben. Würde man die Länge der Grundstücksgrenzen dieser Einrichtungen einmal addieren, käme man auf Zigtausende von Kilometern. Völlig unkontrollierbar, nicht zu schützen vor Übergriffen und mit hohen Kosten verbunden.

Eine bizarre Logik: Die Kanzlerin lehnt also ein striktes Grenzregime über 3000 km ab, und lässt eine wahre Grenzanarchie in den Stadtteilen und Ortschaften Deutschlands zu. Ihr Argument der Kontrollierbarkeit ist daher ein vorgeschobenes Argument. In Wirklichkeit ist Kontrolle überhaupt nicht ihr Ziel, sondern sie geht offenbar davon aus, dass sich die Probleme vor Ort schon irgendwie von selbst regeln werden – auf zivilanarchische Weise sozusagen.

Opportunismus pur

Frau Merkels „nicht möglich“ ist in der Sache unhaltbar. Mehr noch, die demonstrative Naivität, mit der der Einsatz des Verfassungsguts „Staatsgrenze“ behandelt wird, ist eine Unverschämtheit gegenüber den Forderungen von Kommunalverbänden und Polizeiorganisationen.

Glaubt man im Kanzleramt wirklich, man könnte die ganze Nation so an der Nase herumführen? Oder ist vielleicht folgender Satz über die Kanzlerin richtig, der sich in einem FAZ-Artikel von Günter Bannas (9.10.15) findet: „Zu ihren Gewissheiten gehört es, dass die deutsche Öffentlichkeit Zustände, wie sie seit Monaten im Umfeld des Eurotunnels von Frankreich nach England herrschen, wo Tausende von Menschen im Freien kampierten, nicht drei Tage lang aushalten würde.“

Wenn dies das eigentliche Motiv Merkels ist, dann geht es gar nicht um eine objektive Unmöglichkeit strikter Grenzkontrollen, sondern um eine subjektive Unverträglichkeit. Die ganze Zaunphysik ist Vorwand. Es geht darum, dass Frau Merkel ein Problem mit den Zwangsmaßnahmen des Staates hat, ohne die keine Staatsgrenze auskommt. Es geht um Psychologie: Um eine angebliche Psychologie der deutschen Öffentlichkeit, der unterstellt wird, sie könne nur freundliche Bilder ertragen – und tatsächlich um die Psychologie von Frau Merkel, die mit solchen Bildern nicht in Verbindung gebracht werden will.

Damit aber wäre die Unfähigkeit dieser Kanzlerin, Deutschland in der jetzigen Krise zu führen, noch größer. Denn dann gäbe es nicht nur ein Problem an der Bundesgrenze, sondern bei jeder restriktiven Maßnahme: keine Abschiebungen, keine Identitätskontrollen auf Bahnhöfen, keine Räumungen besetzter Plätze, keine Sanktionen von Gewalttätern in Heimen – denn überall wird es Bilder geben, die so auslegt werden können, dass „die Deutschen den Ausländern Gewalt antun“.

Es ist nämlich ein Härteproblem, das eigentlich die sogenannte „Unmöglichkeit“ der Einhegung der Migrationswelle ausmacht. Wo immer man auf das Wörtchen „geht nicht“ stößt, wird man bei näherem Hinsehen nicht auf das Problem stoßen, dass es keine Mittel gibt, sondern auf das Problem, dass ihr Einsatz schmerzvoll ist. Auch die netten „Transitzonen“ werden in dem Moment, wo sie nicht nur Durchgangsstationen sind, sondern Menschen festhalten und zurücktransportieren, zu bösen Zonen. Das trifft natürlich auch auf die „europäischen Hotspots“ zu, die die EU im Süd und Südosten einrichten will. Sie würden, wollte man sie ernsthaft betreiben, zu gigantischen Lagerbildungen – wie jetzt schon in Sizilien sichtbar – führen. Wie will man europäisch böse Bilder aushalten, die man national nicht aushält?

Es ist ja in der Migrationskrise der Eindruck erweckt worden, die Mutigen wären dort zu finden, wo die Grenzen aufgemacht würden. Hier wird nun deutlich, dass der größere Mut dort benötigt wird, wo Grenzen gesetzt und verteidigt werden müssen.

Und wie haben wir von dieser ganzen unredlichen, scheinwissenschaftlichen Laberei die Nase voll. Vielleicht sollte Frau Merkel sich soweit ehrlich machen, dass sie sich nicht länger des Aushängeschilds „CDU“ bedient, sondern offiziell den Grünen beitritt und sich dann ihre eigene Mehrheit zu holen versucht.

Gilt der Amtseid der Kanzlerin noch?

Noch gibt es keine Neuwahlen. Aber es gibt einen Amtseid. Frau Merkel hat, unter anderem, geschworen, „Schaden vom deutschen Volk zu wenden“ und „das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und verteidigen“. Die Eidesformel bezieht sich auf durchaus präzise Größen – auf das deutsche Volk und auf das Staatswesen der Bundesrepublik. Es gab in letzter Zeit bereits einigen Anlass zu der Frage, ob Frau Merkel nicht persönliche Überzeugungen und globale Werte über die Verpflichtungen ihres deutschen Amtes stellt. Am 7.Oktober wurde nun eine Grenze überschritten.

Frau Merkel hat deutlich gemacht, dass die Schutzfunktion der deutschen Staatsgrenze in der Migrationskrise für sie keine Relevanz hat. Sie hat, in einer der größten Krisen der Nachkriegszeit, mit den Grenzen der Republik einen rechtsstaatlichen Grundbaustein aufgegeben. De facto hat sie Deutschland zum offenen Territorium erklärt. Es besteht Grund zu der Annahme, dass sie als Chef der Exekutive den Einsatz der Bundesgrenze auch praktisch verhindert hat oder sich zumindest einer Unterlassung schuldig gemacht hat.

Man sollte dabei bedenken, dass es hier auch um das Rechtsgut der deutschen Staatsbürgerschaft geht. Also um die Definition dessen, was „deutsches Volk“ heißt. Vor gut 10 Jahren ist die deutsche Staatsbürgerschaft vom Prinzip der Abstammung auf das Prinzip der territorialen Zugehörigkeit umgestellt worden. Das war ein durchaus richtiger Schritt, aber er bedeutet, dass dadurch die Wichtigkeit territorialer Grenzen steigt. Denn die Kontrolle jedes (dauerhaften) Zugangs zum deutschen Staatsgebiet ist das einzige Mittel, um die Zugehörigkeit zum „deutschen Volk“ steuern zu können. Wenn nun in einer Migrationswelle von historischen Ausmaßen die Bundesgrenze aufgegeben wird, wird im Grunde jede kalkulierbare Staatsangehörigkeit aufgegeben.

Stellt die amtierende Bundeskanzlerin also Ecksteine unserer staatlichen Ordnung in Frage? Betreibt sie nach der Energiewende jetzt eine Art „Staatswende“? Sieht sich diese Kanzlerin noch an ihren Amtseid gebunden?

Wenn solche Fragen im Raum stehen, muss eigentlich das Parlament die Initiative ergreifen. Notwendig wäre eine Sitzung des Deutschen Bundestags, in der Frau Merkel Gelegenheit gegeben wird, ihre Äußerungen zu erläutern und zu erklären, mit welchen Maßnahmen sie in der gegenwärtigen Krise die deutsche Grenzhoheit zu wahren gedenkt.

Und noch eine zweite Maßnahme wäre angebracht: Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss müsste gebildet werden, der klärt, welche internationalen Verpflichtungen und Absprachen die Bundesregierung in den vergangenen Jahren eingegangen ist, die die deutsche Grenzhoheit tangieren.

Lesen Sie auch Teil I und Teil II aus der Serie von Gerd Held:

Held_Teil1 Held_Teil2

Dieser Beitrag ist auf der Achse des Guten erschienen.

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