Nicht der SU-24-Abschuss selbst, sondern Erdogan ist das eigenliche Problem.
Glaubt man der Web-Plattform „AircraftCompare.com“, dann hat Russlands Militär heute über Syrien 36 Millionen US-Dollar verloren. So viel kostet demnach das von der türkischen Luftabwehr abgeschossene russische Jagdflugzeug Suchoi 24. Folgt man dem ukrainisch-russischen Portal „InformNapalm.org“, dann könnte es sich bei dem nach turkmenischen Angaben ums Leben gekommenen Piloten um Rumjanzew Sergei Alexandrowitsch handeln – Gardemajor einer in Schagol, Tscheljabinsk, stationierten Einheit.
Wenn die Behauptungen der turkmenischen Rebellen stimmen, dann ist Rumjanzew der erste Tote der auf Seiten Assads in den syrischen Bürgerkrieg eingreifenden Russen. Er starb nicht, weil die von ihm attackierten Rebellen nun über hochleistungsfähige Flugabwehrwaffen verfügen – er starb, weil er von der Türkei vom Himmel geholt wurde. Darin sind sich beide Seiten einig. Damit aber endet die Einigkeit bereits.
Die Türkei beharrt darauf, dass die SU-24 türkischen Luftraum verletzt und diesen trotz mehrfacher Aufforderung nicht verlassen habe. Zum Beweis ihrer Behauptung legt sie das Bild der Radarverfolgung vor. Russland wiederum behauptet, die Maschine habe den syrischen Luftraum nicht verlassen. Da der Grenzverlauf in dieser Region eindeutig festgelegt ist, sagt eine der beiden Seiten die Unwahrheit. Wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass die russischen Karten nicht korrekt waren. Und was vor allem nicht erklärt, warum der russische Pilot nicht auf die angeblich mehrfache Aufforderung reagiert hat, den türkischen Luftraum zu verlassen. Die Erfahrung von Flugzeugabschüssen über der Ukraine lehrt uns, dass das tatsächliche Geschehen möglicherweise niemals übereinstimmend aufgeklärt werden wird.
Was also kann tatsächlich geschehen sein?
Wer mit dem Luftwaffenkommando der NATO für den Ostseeraum Kontakt hat, der weiß, dass Russland seit Beginn des Ukraine-Krieges regelmäßig die Luftabwehrbereitschaft der Allianz testet, indem seine Maschinen haarscharf an NATO-Hoheitsgebiet entlangfliegen – ohne allerdings den NATO-Luftraum zu verletzen. Möglich, dass Alexandrowitsch Opfer eines ähnlichen Testfluges an der NATO-Südostgrenze geworden ist. Möglich deshalb, dass die SU-24 tatsächlich türkischen Luftraum verletzt hat. Dann wäre der Abschuss durch die Türkei zumindest völkerrechtlich nicht zu beanstanden. Ob er klug war, steht auf einem anderen Blatt.
Möglich auch, dass die SU-24 so nah an der türkischen Grenze entlang flog, dass die Türkei eine Chance erblickte, einen der ihnen schwer im Magen liegenden Russenflieger vom Himmel zu holen. Und sei es nur, um Russland zu beweisen, dass auch NATO-Mitglied Türkei über eine leistungsfähige Luftabwehr verfügt und die Russen gut beraten wären, der Grenze nicht zu nahe zu kommen.
Möglich aber auch, dass es sich bei dem Abschuss um ein türkisches Signal an die Kremlführung zur Abgrenzung von territorialen Ansprüchen gehandelt hat. Denn in dem Gebiet, in dem die SU-24 in einem Feuerball am Boden zerschellte, agiert eine Anti-Assad-Gruppe turkmenischer Syrer. Diese Turkmenen sind im Weltbild Erdogans längst als Mitglieder der türkischen Nation eingemeindet – und lange vor dem russischen Eingreifen stand für Erdogan fest, sich aus dem zerfallenden syrischen Kuchen das von Turkmenen besiedelte Gebiet als Kriegsbeute herauszuschneiden. Die SU-24 ist somit über eine Region geflogen, das die Türkei als ihre unmittelbare Einflusszone beansprucht. Sollte die Maschine tatsächlich über syrischem Gebiet abgeschossen worden sein, so wird es sich um das Signal an Russland gehandelt haben können, seinen Aktionsradius nicht bis dorthin auszudehnen. Das allerdings wäre dann ein eindeutig kriegerischer Akt der Türkei gegen Russland gewesen.
Vorstellbar bleibt auch, dass Russland selbst einen Angriff auf die turkmenischen Rebellen geflogen hat. Darauf deutet die Aussage Putins hin, dass es sich um „Rebellengebiet“ gehandelt habe. In diesem Falle wäre der Abschuss durch die Türkei vermutlich als Waffenhilfe für die Turkmenen zu verstehen – und die Türkei ab sofort als Kriegspartei in Syrien zu begreifen, die zum Schutze ihrer Verbündeten bereit ist, es auch mit Russland aufzunehmen.
Denkbar ist nicht zuletzt, dass Erdogan mit dem Abschuss einen NATO-Bündnisfall provozieren wollte. Das allerdings wäre dann deutlich zu kurz gesprungen. Denn eine Angriffsabsicht der SU-24 gegen das NATO-Land Türkei liegt selbst dann nicht vor, wenn die Maschine tatsächlich in türkisches Hoheitsgebiet geflogen ist. Der Bündnisfall liegt also nicht vor – sehr wohl aber Veranlassung zu erhöhter Alarmbereitschaft. Aber die besteht ohnehin schon seit April 2014.
Außer Frage steht, dass Erdogan den Bündnisfall seit Beginn des Konfliktes herbeisehnt. Denn er möchte nicht nur das ihm verhasste Alawitenregime Assads beseitigt sehen – er träumt auch – siehe oben – davon, seine Türkei zu Lasten Syriens nach Süden zu erweitern. Vor allem aber setzt er alles daran, einen kurdischen Nationalstaat zu verhindern. Der Deckmantel eines NATO-Einsatzes könnte ihm – so seine Spekulation – dafür freie Hand geben. Die NATO allerdings war bislang klug genug, die entsprechenden Provokationsversuche Erdogans zu ignorieren – bis auf den Patzer Obamas, ihm freie Hand bei der Bekämpfung des Islamischen Staates zu geben. Denn das nutzte der Türke vorrangig dafür, die sich zu diesem Zeitpunkt im Waffenstillstand mit der Türkei befindende kurdische PKK auf irakischem Hoheitsgebiet massiv unter Feuer zu nehmen. Ein Beleg übrigens dafür, dass Erdogan es mit Landesgrenzen dann nicht so ernst nimmt, wenn der Völkerrechtsbruch seinen Zielen dient.
Wie nun geht es weiter?
Wegen dieses Abschusses werden NATO und Russland nicht gegeneinander in den Krieg ziehen. Putin hat – anders noch als vor gut einem Jahr – mittlerweile verstanden, dass ein solcher Krieg sein persönliches Ende bedeuten würde. Das reicht ihm zum verbalen Abrüsten selbst dann, wenn ihm der Rest Russlands egal sein sollte. So fiel dann seine Reaktion zwar heftig gegen die Türkei aus, der er einen „Stoß in den Rücken“ vorwarf und dabei als „Helfershelfer von Terroristen“ an den Pranger stellte. Eine Mitverantwortung der NATO allerdings deutete Putin nicht einmal ansatzweise an – was bis vor kurzem noch ganz anders klang, als es beispielsweise um die angebliche Unterstützung der „Faschistenregierung“ in der Ukraine durch NATO-Kräfte ging.
Anfang 2014 schrieb ich in einem Psychogramm über Putin folgende Sätze: „Putin pokert. Er pokert mit hohem Einsatz. Er kann das tun, weil er in seiner Hand das bessere Blatt wähnt. Und weil er gelernt hat, dass die Chefs der gegnerischen Gangs zwar die Klappe groß aufreißen, aber eine höllische Angst vor einem blauen Auge haben. Bevor sie es auf einen Bandenkrieg ankommen lassen, werden sie unter Absingen böser Beschimpfungen den Schwanz einklemmen. So sind sie für ihn, den großen Bandenboss Putin, letztlich alles Schwätzer ohne Eier, kläffende Hunde ohne Rückgrat, bestenfalls Angstbeißer.“
Sein auf den Abschuss folgender Auftritt erinnerte mich spontan an diese Sätze. Denn dieses Mal war es Putin, der es auf einen „Bandenkrieg“ nicht ankommen lassen will – dafür aber die Klappe ganz groß aufreißt. Sein Auftritt lehrt uns: Putin ist und bleibt ein begnadeter Bluffer. Wenn es aber gefährlich für ihn selbst werden könnte, tritt er den Rückzug an. Er will zwar gern ganz oben an der Nahrungskette stehen – vermeidet es aber sorgsam, sich mit Stärkeren ernsthaft anzulegen. Das allerdings bedeutet nicht, dass er gegenüber der Türkei den Schwanz einklemmen wird. Er wird gegen die Türkei keine Angriffe fliegen. Vermutlich sogar werden sich seine Flieger künftig nicht mehr auf diese gefahrvolle Distanz der Türkei nähern. Aber er wird nach anderen Daumenschrauben suchen und diese finden, um die Türkei zu quälen. Eine Konsequenz könnte beispielsweise eine aktive Unterstützung der syrischen Kurden sein – wenn die dafür bereit sind, sich mit Assad zu arrangieren, was sich angesichts einer gemeinsamen Frontstellung gegen den IS ohnehin schon andeutet.
Größere Sorgen allerdings muss uns derzeit der Blick auf Erdogan bereiten. Nicht der SU-24-Abschuss ist das eigentliche Problem – Erdogan selbst ist es. In seinem öffentlichen Auftritt nach dem Abschuss hat er unmissverständlich klar gemacht, dass er seine Türkei als Schutzmacht der Turkmenen sieht. Der NATO-Partner und EU-Kandidat steht damit schon mit deutlich mehr als mit einem Fuß mittendrin im syrischen Bürgerkrieg. Wenn man dann noch unterstellen darf, dass Erdogan nicht nur den IS finanziert, indem er ihm sein Öl abkauft, sondern als heimlicher Muslimbruder auch sonst nach wie vor mit dem sunnitischen Terror liebäugelt, dann ist es für die NATO-Partner dringend an der Zeit, ihr Verhältnis zu Erdogan auf den Prüfstand zu stellen.
Denn eines hat Erdogan spätestens mit seinen heutigen Verbalinjurien einmal mehr unter Beweis gestellt: Im Zweifel geht seine Hybris auch rücksichtslos über die Interessen des eigenen Volkes hinweg. Nach dem Ausfall der westeuropäischen Urlaubsgebiete durch das gegenseitige Sanktionspoker zog es viele Russen nicht nur auf den Sinai, sondern auch in die Türkei. Nach dem Sinai ist nun für Russlands Bürger auch mit All-inclusive in Bodrum oder Antalya Schluss. Das könnte für die türkische Tourismusindustrie zum Desaster werden – denn auch westeuropäische Sommerfrischler werden es sich nach diesem Zwischenfall mehr als zweimal überlegen, in der Türkei abzuhängen.
Gleichzeitig allerdings wird in Russland selbst nicht nur der Abschuss der SU-24 in einem Krieg, dessen Notwendigkeit sich auch vielen sonst Putin-treuen Russen nicht erschließt, sondern gerade dieser Ausfall eines weiteren außerrussischen Urlaubsgebiets auf wenig Verständnis stoßen. Denn welcher Russe möchte schon gern Urlaub auf der Krim machen, wenn ein Sabotageakt von Krim-Tataren, „Rechtem Sektor“ oder wem auch immer genügt, um die putinsche Eroberung von der Stromzufuhr abzuschneiden.
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