Der marokkanische Weg

Europas arabischer Nachbar im Südwesten hat nicht durch große Rebellionen von sich reden gemacht. Manche vermuteten deshalb, dass Marokko ein besonders rückständiges und unterdrücktes Land ist. Doch angesichts vielfacher Krisen in der arabisch-islamischen Welt hat sich die Problemstellung umgedreht: Marokko wird interessant, weil es als Nation zusammenhält und ein verlässlicher internationaler Partner ist.

Denn diese harte Umwelt nimmt den größten Teil des Landes ein. Sie ist eine Grundbedingung des Wirtschaftslebens und auch der Maßstab des politisch Machbaren. Die Marokkaner müssen einen viel größeren Teil ihrer Ressourcen darauf verwenden, um elementare Lebensmittel zu erwirtschaften. Deshalb ist hier auch die Abwanderung vom Land in die Stadt ein größeres Problem als in Europa, denn sie hat nicht – wie in der mitteleuropäischen Geschichte – landwirtschaftliche Produktivitätsgewinne in ihrem Rücken. Nur die Tatsache, dass Marokko im Norden fruchtbare Gebiete hat, mildert ein wenig den Druck.

Es ist kurz nach 12 Uhr mittags, auf der Hauptstraße des Örtchens Tinjdad bietet sich ein erstaunliches Bild. Von überall kommen scharenweise Kinder und Jugendliche – die Schule ist aus. Sie sprudeln regelrecht hervor, lärmend, lachend, laufend. Wie gut das tut, so viel Leben nach so viel Stein. Einen erstaunlicheren Kontrast kann man sich gar nicht vorstellen. Die Wüste lebt. Und wer hätte gedacht, dass es hier so viel Fahrradfahrer gibt? Sie besetzen die Hauptstraße, als wären wir in Münster und nicht am Nordrand der Sahara. Doch die Bikerwelle macht durchaus Sinn, denn die Menschen wohnen in neuen Steinhäusern und die liegen nicht mehr so eng beisammen. Auch andere moderne Erfindungen erweisen sich in der harten Umwelt als besonders nützlich: der Dieselmotor, der Straßenasphalt, Kunststoffschläuche für die sparsame Bewässerung. Die Sahara ist inzwischen an etlichen Stellen eine Wüste mit Sonnenkollektoren und Internet. Aber es bleibt eine Wüste. „Das Leben ist leichter geworden, aber es hängt zum großen Teil vom Frankreich-Geld ab“, sagt Ahmed, unser einheimischer Reiseführer. Er meint die Überweisungen der Migranten, die in Frankreich arbeiten. Daneben subventioniert auch der Staat den privaten Wohnungsbau und versucht, eine Mindestversorgung bei Bildung und Gesundheit zu gewährleisten. Trotz all dieser Hilfen bleibt eine Kluft zwischen Süd und Nord. Sie ist einfach nicht zu schließen. Deshalb ist jede Entscheidung, dort doch ein neues Haus zu bauen und diesen Standort für die Familie nicht aufzugeben, bemerkenswert. Sie zeugt von einem starken Selbstbehauptungswillen, der ein Grundmerkmal der marokkanischen Nation zu sein scheint.

Man findet etliche Zeichen dieser Selbstbehauptung und es sind gerade die kleinen Zeichen, die am stärksten beeindrucken. Dazu gehören die Wege, die die Menschen täglich zurücklegen. Auch an den entlegensten Orten findet man immer Leute, die unterwegs sind – zu Fuß, auf dem Fahrrad oder mit einem Lasttier. Sie gehen meistens allein, bisweilen zu zweit, Männer, Frauen, Alte, Kinder. Nicht immer transportieren sie etwas, aber die Liste der Behälter ist ziemlich bunt – Karren und Körbe, Plastiktaschen und -flaschen, geschnürte Bündel und Rucksäcke. Oft kann man den Zweck der Wege nur erahnen: Eine Gelegenheitsarbeit, ein Einkauf oder Verkauf, ein Verwandtenbesuch, ein Weg zur Schule und zum Arzt? Doch die Mühseligkeit dieser Bewegung – bei Hitze oder Wind, verloren in der Landschaft – ist ein berührendes Bild.

Die Bewegung strahlt Würde aus. In diesen Zeiten, in denen „Flucht“ und „Migration“ in aller Munde ist, muss dabei auf einen Unterschied aufmerksam gemacht werden: Bei den langen, mühseligen Wegen, die hier zurückgelegt werden, handelt es sich um keine Abwanderung, kein Verlassen der Region, kein Kappen der eigenen Wurzeln, keine Suche nach etwas ganz Neuem in der Fremde. Die Wege werden vielmehr unternommen, um die Existenz zu erhalten und zu bewältigen. Es sind Wege mit Wiederkehr, Wege in einem großen und schwierigen Zuhause. Diese Selbstbehauptung nutzt durchaus auch moderne Erfindungen. Die Viehhirten transportieren ihre Herden von einer Weideregion zur nächsten inzwischen im LKW.

Das Foto des Königs

Gehört auch die Monarchie zu dieser Selbstbehauptung? Häufig wird aus der Tatsache, dass Marokko von einem König regiert wird, der auch das religiöse Oberhaupt ist, die Schlussfolgerung gezogen, dass das Land besonders rückständig sei. Der König Mohammed VI. ist wirklich stark präsent, so präsent wie die Nationalflaggen, die in keiner Ortsdurchfahrt fehlen. Seine Fotographie hängt in Cafés, Hotels, Apotheken, Bäckereien und auch in der Wohnung von unserem Reiseführer. Auf vielen Berghängen hat man mit weiß getünchten Steinen in großen Buchstaben die Losung „Für Gott, Heimat und König“ geschrieben. In der kargen Umgebung wirkt das nicht pompös und auch nicht wie eine Drohung. Eher wie eine Versicherung, dass auch diese Orte wichtig sind und sich die höheren Mächte nicht von ihnen abgewandt haben.

Doch beim europäischen Besucher, der gerne die Vielfalt lobt, hört das Verständnis meist beim Zentralismus, der auch zu Marokko gehört, auf. Hier ist der Besucher sofort geneigt, eine autoritäre Vormundschaft zu vermuten. Dabei übersieht er einen entscheidenden Unterschied: Der marokkanische König bildet nicht die Spitze eines Gesamtkomplexes, der allen Reichtum und alle Macht auf sich konzentriert – wie es in den Ölstaaten die Regel ist. Die Macht von Mohammed VI ist geringer. Die Einheit der Nation, die er verkörpert, ist nur ein begrenztes Gegengewicht in einem Land mit vielen zentrifugalen Kräften. Er muss sorgfältig auswählen, wo er eingreift. Oft kann er Konflikte nur begrenzen und das Nebeneinander der Lebensformen, das in Marokko so kompliziert ist, am Laufen halten. Wer sich das Foto von Mohammed VI. genau anschaut, sieht einen König, der sich Sorgen macht. Jede größere Umwälzung – siehe Libyen oder Syrien – bedeutet die Gefahr, dass das Land in einen Teufelskreis der Selbstzerstörung gerät.

Es ist also durchaus Vernunft im Spiel, wenn die Marokkaner zu ihrem König halten.

Ein Zettel von Najib

Auf meinem Schreibtisch liegt ein Zettelchen. In ungelenker Handschrift steht da „Najib“, „Taxi“ und eine Handynummer. Mit ein paar Strichen ist ein Rahmen angedeutet, damit das Papier nicht so schmucklos aussieht. Ich habe im Laufe dieser Reise viele solche Botschaften zugesteckt bekommen. Sie laden mich ein, einen Handy-Laden, eine Diskothek oder eine Immobilienagentur zu besuchen. Sie hoffen, dass ich komme, um ein Foto machen zu lassen oder einen Mosaikbrunnen zu erwerben. Die Zettel sind Wetten mit einer Chance 1:100.000 und anrührend in ihrer aussichtslosen Mühe. Ich habe sie meist von jungen Leuten bekommen – wie dicht muss bei ihnen Selbstbehauptung und Resignation beieinander liegen.

Also ein dunkel-romantischer Schluss? Nein, man sollte in der Schwierigkeit der Lage die Nüchternheit nicht verlieren. So beeindruckend der Glaube an solche 1:1.000.000-Wetten ist, so ist es doch ein Irrglaube. Für die riesige junge Generation, die in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Verdreifachung der marokkanischen Bevölkerung geführt hat, führt die Migration in die größten Städte des Landes (oder, noch weiter, nach Europa) in ein Niemandsland. Demgegenüber erscheinen die Versuche, die Landflucht zu bremsen und auch die Klein- und Mittelstädte zu stärken, als bessere Alternative – auch wenn sie keine Lösung sind. Etwas, das den Begriff „Lösung“ verdient, gibt es für diese Generation nicht. Kein Wachstum ist darstellbar, das alle ihre Aspirationen wirklich befriedigen könnte. Wie viele Länder in der Welt, muss auch Marokko im 21. Jahrhundert irgendwie „über den Bevölkerungsberg“ gebracht werden. Dabei ist die gewachsene Komplexität des Landes und seine längere Tradition als Nation ein Vorzug. Marokko hat seinen eigenen Weg, es sitzt nicht in der Falle des Panarabismus und Panislamismus. Auch zeigen die sinkenden Geburtenraten, dass der Bevölkerungsdruck für spätere Generationen geringer sein wird.

Aber für die nächsten Jahre und Jahrzehnte gibt es große Schwierigkeiten. Und es gibt die Gefahr einer Umkehrung: Dass nicht die komplexe Strukturen in Stadt und Land die Bevölkerungsdynamik auffangen, sondern dass die Bevölkerungsbewegung die Strukturen auflöst. Dann würde die Gefahr groß, dass auch Marokko sich in ein amorphes Heerlager verwandelt. Es gibt also allen Grund, in Marokko allen Romantisierungen von Aufbruch und Migration zu widersprechen – auch den Romantisierungen durch internationale „Helfer“. Wir brauchen eine neue Form des Einfühlungsvermögens für den eigenen Weg jener Nationen, die in den schwierigen Regionen dieser Welt zurechtkommen müssen.

Fußnote: Dieser Text ist kein wissenschaftlicher Länderbericht. Er beruht auf einzelnen Eindrücken einer Exkursion, die von vielen Zufällen abhingen. Der Text ist der Versuch, sich in das Land hineinzudenken und es als Realität in einem tieferen Sinn zu verstehen: Als Realität aus eigenem geographischen Recht – so wie der Historiker Leopold Ranke eine geschichtliche Epoche an ihren eigenen Maßstäben gemessen sehen wolle.

Dieser Beitrag ist auch bei Deutscher Arbeitgeber Verband erschienen

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