Norbert Zerr berichtet aus 22 Jahren im Polizeidienst und erzählt, wie das war, als seine Flüchtlingsfamilie nach dem 2. Weltkrieg in den deutschen Südwesten kam.
Der unzutreffende Integrationsvergleich mit Flüchtlingen der Nachkriegszeit
Wenn mir das Schicksals- und Dauerthema Flüchtlinge, auf welche Art auch immer, entgegenfliegt, werde ich häufig in meine eigene Vergangenheit zurückkatapultiert. Ich gehöre mittlerweile zur Generation 50 Plus und stamme aus dem Flüchtlingsmilieu der Nachkriegszeit. Meine donauschwäbischen Vorfahren landeten nach der Flucht aus dem ehemaligen Jugoslawien in Süddeutschland, genauer in der schwäbischen Provinz. Ich wurde hier geboren und bin in unserem Dorf in einer Flüchtlingssiedlung zusammen mit Ostpreußen, Donauschwaben, Polen und ein paar Gastarbeitern aufgewachsen. Die Älteren, die in dieser Siedlung wohnten, wurden nicht in Deutschland geboren, nur ihre Wurzeln stammten von hier. Mein Vater wurde irgendwo am Westufer des Schwarzen Meers, damals Rumänien, heute Bulgarien, geboren. Man sah ihm an zweifelsfrei an, dass er keine Schwabe war. Ein wenig habe ich von diesem Aussehen abbekommen, weil ich oft als Südländer eingeordnet wurde. Als Schwabe wurde ich selten erkannt. Höchstens mein leicht schwäbelnder Dialekt machte mein Gegenüber gern stutzig, wenn ich auf neue Bekanntschaften traf. Mir wurde oft die Frage gestellt, ob ich Deutscher bin und auch hier geboren wurde. Ja, das trifft bei mir alles zu.
In unserem Dorf und der Region blühte nach dem Krieg gerade die Metallindustrie richtig auf. Arbeit gab es damals genügend. Die Flüchtlinge oder Vertriebenen, wenn man so will, verhielten sich unauffällig, fast schon obrigkeitshörig. Sie bekamen Arbeit und die Fabrikanten waren froh darüber. Damals wäre keiner auf die Idee gekommen, einen von uns als Facharbeiter zu bezeichnen. Es waren alles mehr oder weniger Hilfsarbeiter, die sich selbst zum Facharbeiter entwickelten. Ihre Perspektiven waren mehr als gut. Man hatte eine Zukunft. Kann man das mit heute vergleichen? Die Wirtschaftsbosse beklagen den Facharbeitermangel und Facharbeiter bekommen keinen Job. Dann setzen sie wie die Wirtschaftsbosse und die Verbände auf Flüchtlinge. Wie bei der Polizei, wird auch hier zum Leidwesen der unteren Etagen getrickst und geheuchelt. Hinter vorgehaltener Hand hört man auch von solchen Leuten in verantwortungsvoller Position, die medial angeblich mit der Flüchtlingswelle den größten Segen aller Zeiten bekommen haben, dass vielleicht 3 % der Flüchtlinge brauchbar sind. Interessant, zeitweise hätte man den Eindruck bekommen können, dass jetzt sämtliche Probleme der Wirtschaft gelöst sind. Vor kurzem habe ich mich mit einem etwa 35-Jährigen Facharbeiter (Techniker Maschinenbau) unterhalten, der nach über 100 Bewerbungen die Schnauze voll hatte. Manchmal fragte man sich, für wie blöd die Wirtschaft und Politik eigentlich das Volk halten. Dazu soll jetzt noch Integration kommen?
Denke ich an die Integration unserer Siedlung, so kann ich diese fast in einem Satz beantworten. Das war Land auf Land ab so, die Integration der Nachkriegsflüchtlinge, die zugegeben das Problem mit der Sprache kaum hatten. Die Gastarbeiter ohne deutsche Sprachkenntnisse wurden auf ähnliche Weise mitintegriert.
Sie suchten sich eine bescheidene Bleibe, wobei sie so gut es ging, unterstützt wurden und gleichzeitig einen Job. Damit war man integriert. Der Sprachunterricht fand in den Betrieben mit Händen und Füßen statt. Notizen, die gemacht werden mussten, wurden mit Rechtsschreibfehler akzeptiert, sofern man begriffen hat, was gemeint war.
Mein Urgroßvater war Mitte 60, als er hier ankam. Auch er bekam noch einen Hausmeisterjob, den er bis über 70 ausübte. Ich wurde gleich mit integriert, denn ich musste ihm abends helfen – ausfegen und dergleichen. Er war ein toller Urgroßvater, doch große Diskussionen, ob ich unbedingt sofort in die Arbeitswelt der 60er Jahre integriert werden wollte, stießen bei ihm auf taube Ohren.
Die ganz Schlauen und Fleißigen machten Karriere und bauten Betriebe mit auf. Sie fühlten sich auch immer gut bezahlt und nicht ausgebeutet. Auch die Eingeborenen kamen nie zu kurz. Hat man heute auch noch dieses Gefühl der harmonischen Gemeinschaft, wo alle einigermaßen gleich behandelt werden? Oder bei Unternehmern noch ein soziales Gewissen wenigstens spürbar ist?
Meine Situation im Vergleich
Ich fühlte mich in unserer Siedlung richtig wohl. Allerdings nur, wenn ich meinem Vater nicht begegnete. Klingt hart, ist aber leider so. Er trug auch dazu bei, dass ich in die unterste Schublade der Flüchtlinge von damals gesteckt wurde. Dennoch hatte ich die Chance und Perspektive, die ich mit heute keinesfalls vergleichen würde.
Mein Problem wurde, dass mein Vater den Kummer oder seine Situation mit Alkohol herunter spülte. Er hatte einen Job, bekam Angebote, von denen man heute nur träumen kann. Sein Vater, mein Opa, ist jung gestorben, ich glaube auf der Flucht oder an Ursachen davon. Mein Vater war der Älteste der Geschwister und war vielleicht mit allem überfordert. Vielleicht begann deshalb diese Sauferei. Es gab doch ehrlich gesagt einige der Flüchtlinge, die gern einen über den Durst getrunken haben und Vergleiche zur alten Heimat anstellten. Meist wurde eher aus Geselligkeit getrunken. Bei meinem Vater glaube ich, war das anders. Sein jüngster Bruder, genau das Gegenteil. Ich glaube mein Onkel war oder ist immer noch Millionär. Er machte einen Betrieb auf und rackerte Tag und Nacht und wusste, dass Leistung sich lohnte. Mein Vater ist längst tot, der Alkohol und Nikotin dürften ihn umgebracht haben. Mein Onkel, der heute Mitte 70 und noch rüstig ist, genießt sein Leben. Ist das heute noch möglich? Gut, mein Onkel holte die Meisterprüfung in Abendkursen nach. Den Vergleich können Sie nun selbst anstellen.
Wenn mein Vater dann wieder angetrunken war, was täglich der Fall war, wurde er zudem noch äußerst gewalttätig. Er prügelte mich grundlos herum. Meine Mutter war hysterisch und nervte ihn so lange, bis auch sie durch die Wohnung geprügelt wurde. Ich hatte oft panische Angst. Als ich etwa 11 Jahre alt war, klopfte er so auf mich ein, dass ich gegen den Küchenschrank donnerte. Ich überlegte, ob ich ihn nicht umbringe, aber wie? Immer musste ich mich für etwas rechtfertigen, von dem ich oft gar nichts wusste. Mal fehlte Werkzeug, das der väterliche Flüchtling selbst verschlampte, aber ich schmerzhaft zur Verantwortung gezogen wurde. Ich fing immer mehr an, meine Eltern zu hassen. Denn auch meine Mutter legte gern Hand an und stellte sich selten schützend vor mich.
Dadurch wurde ich frühzeitig auf den ständigen Rechtfertigungsmodus programmiert. Irgendwie entwickelte sich gleichzeitig ein gewisses Gerechtigkeitsgefühl in mir.
Das war sicher einer der maßgebenden Beweggründe, weshalb ich zur Polizei wollte. Doch als einfacher Flüchtlingsjunge sah ich mich selbst dafür für zu dumm an. Ein paar ältere Jungs aus unserer Straße schafften den Einstieg in die Polizei. Irgendwie beneidete ich sie. Blöd war außerdem noch, dass mein Vater auch beim Dorfpolizisten oft negativ aufgefallen war. Besoffen Autofahren und Unfälle gebaut, Schlägereien und ähnliche Begegnungen hatte er mit der uniformierten Staatsgewalt.
Zwischen dem Nachkriegsdeutschland und heute klaffen Welten
Vor dieser ganzen Unruhe fand ich Zuflucht beim meiner über alles geliebten Urgroßmutter. Sie musste zwei Weltkriege und die Flucht in ein im Aufbau befindliches Deutschland ertragen. Als sie Mitte der 50er Jahre mit der Familie hier ankam, wusste man noch gar nicht, ob und wie es weiter gehen sollte. Man spürte zwar das bevorstehende Wirtschaftswunder, hatte aber keine Vorstellung davon.
Glauben Sie, es kommt noch einmal so ein Wirtschaftswunder wie damals, das problemlos Flüchtlinge mit einbettet und kaum merkbare Kosten verursacht? Obwohl die neue Heimat vielversprechend war, gab es anderes Leid, das nicht einfach abgelegt werden konnte oder gar ein Leben lang mitgeschleppt wurde.
Der jüngste Sohn meiner Urgroßeltern, der Bruder meiner Großmutter mütterlicherseits, wurde anscheinend von den Partisanen im ehemaligen Jugoslawien bestialisch ermordet und der Älteste wollte auf keinen Fall in dieses Nazideutschland der Nachkriegszeit. Er ließ sich in Chicago nieder. Einige nahe Verwandte von uns machten einen Bogen um Deutschland und siedelten ebenfalls in die USA, die meisten blieben in Chicago hängen. Der älteste Bruder meiner Großmutter ließ sich wie gesagt in Chicago nieder und zog damals damit kein schlechtes Los. Vom Tellerwäscher zum Millionär? Fast, vom Hausmeister zum Wohlstand.
Meine Urgroßmutter erzählte mir viel davon, aber auch immer nachdenklich. Schau deinen Urgroßvater an, was die beiden Kriege aus ihm gemacht haben. Im Gegensatz zu meinen Eltern liebte ich meine Urgroßeltern mütterlicherseits über alles. Mein Urgroßvater war oft komisch und in sich gekehrt. Dann brach es aus ihm plötzlich heraus, der Krieg und mein kleiner Johann, einfach ermordet und Tony ist in Chicago. Ich kapierte die Situation als Kind nicht richtig. Meine Urgroßmutter war eine starke Frau, sie versuchte ihre wässrigen Augen vor mir zu verbergen, wenn es wieder soweit war. Ich glaube mein Urgroßvater hatte ein schweres Trauma, aber wir wussten damals gar nicht, was das war. In der Siedlung hatten die Familien ähnliche Schicksale. Natürlich auch die Einheimischen.
Der feine Unterschied
Durch die Erzählungen meiner Urgroßmutter verstärkt durch den häufigen Zustand meines Urgroßvaters, wurde dem Thema Hitler und den Nazis nur Abscheu und Verachtung entgegengebracht. Das alles hat sich bei mir festgesetzt und ist auch heute noch so bei mir. Deshalb werde ich mich von niemand auch nur annähernd in eine rechte Ecke stellen lassen. Ich würde mich auch nie von Leuten mit diesem naziverseuchten Gedankengut hinreißen oder gar instrumentalisieren lassen. Mir ist es egal, wer wo herkommt und welche Hautfarbe jemand hat. Das war und ist meine persönliche Einstellung. Für mich ist aber auch selbstverständlich, dass beispielsweise das Strafrecht für jeden gilt. Dort steht nichts von Unterscheidungen nach der Herkunft. Nehmen wir als Beispiel den Körperverletzungsparagraph. Dort heißt es „Wer“, gemeint ist der Täter männlich wie weiblich. Dieses „Wer“ beinhaltet auch beispielsweise Flüchtlinge aus Nordafrika oder Syrien, also egal woher. Doch inzwischen verliert man den Glauben daran und bekommt den Eindruck, dass dieses „Wer“ gewisse Unterscheidungen beinhalten könnte.
Ich nehme mir das Recht heraus, solange das noch geht, das Vertrauen an die verantwortlichen Politiker und diese auch grenzübergreifende Politik total verloren zu haben. Nach über zwei Jahrzehnten in meinem Beruf, mit dem ich Gerechtigkeit und Sicherheit verbunden habe, mache ich mir viele Gedanken und halte die Augen weiter offen. Heute sagt man wohl, einmal Cop, immer Cop.
Norbert Zerr, Hauptkommissar a.D., war 22 Jahre bei der Polizei, engagierte sich in der CDU, war Bürgermeister und gab 2000 zusammen mit Professor Adolf Gallwitz das Buch Horrorkids? heraus.
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