Eine kritische Woche beginnt und wir sollen wieder abwarten, was die Griechen uns vielleicht zu sagen haben. Die Musik spielt längst woanders. Es fließt nämlich unaufhörlich Geld nach Hellas, jede Woche, jeden Tag, jede Stunde. Unfassbare 325 Milliarden Euro haben die internationalen Gläubiger dem Land geliehen. Dazu kommt der griechische Überziehungskredit von der Europäischen Zentralbank (100 Mrd.) und die ELA-Notliquidität für Banken (43 Mrd.), ebenfalls von der EZB. Währenddessen hört man von griechischer Seite immer wieder, dass man sowieso nicht die Absicht hat, die Kredite zurückzuzahlen. Und die griechische Regierung redet nicht nur, sie schafft Tatsachen. Sie hat ihre Defizite erhöht, indem sie neues Personal im Staatsdienst eingestellt hat und bereits programmierte Ausgabenkürzungen und Privatsierungen rückgängig gemacht hat. Sie hat direkt die Zahlungsunfähigkeit des Landes organisiert, indem sie kaum noch Steuern einzieht und Abhebungen von privaten Bankkonten in großem Maßstab zulässt. Der Insolvenzbetrug ist also schon in vollem Gang. Doch Griechenland bedient sich weiter bei allen verfügbaren Geldern des internationalen Finanzsystems. Gerne nimmt es auch von ärmeren Ländern, die viel niedrigere Mindestlöhne, Renten und Gesundheitsleistungen haben. Das muss man immer mitdenken, wenn jetzt wieder ein neuer Kompromiss in Aussicht gestellt wird. „Solange geredet wird, wird gezahlt“ ist die griechische Taktik.
Die unfassbaren Rechtsverstöße
Die einzig interessante Frage ist: Wie konnte und wie kann das von den Gläubiger-Staaten zugelassen werden? Von Staaten, die an Verfassungen gebunden sind, und von Organisationen wie der EU, der EZB und dem IWF, die auf zwischenstaatlichen Verträgen beruhen? „Vor allem die europäischen Gläubiger machen sich durch ihre bisherigen Zugeständnisse mitschuldig an der Verschleppung der griechischen Staatsinsolvenz“, schreibt Jürgen Stark, der ehemalige Chefvolkswirt der EZB (in der FAZ vom 11.Juni). Es geht hier nicht um moralische Schuld, sondern um staatsrechtliche Fragen. Woher nehmen die Entscheidungsträger die Ermächtigung für ihre Handlungen? Wir brauchen keine Griechenland-Theorie und keine Europa-Visionen – wir müssen über Verfassungsbruch und Vertragsbruch in den Gläubiger-Staaten reden.
Es geht um konkrete Handlungen: Griechenland musste Anfang Juni eine Kreditrate an den IWF zurückzahlen. Doch Vertreter des IWF akzeptierten das griechische Begehren, die Rate zunächst nicht zu zahlen und sie am Ende des Monats zusammen mit anderen Raten „als Gesamtbetrag“ zurückzuzahlen. Zu dieser Zeit lagen schon Erklärungen von griechischer Seite vor, man sei nicht in der Lage, alle Rückzahlungen zu leisten. Auf welcher Grundlage hat der IWF trotzdem den Zahlungsaufschub gewährt? Wurden hier nach persönlichem Ermessen außerhalb der IWF-Regeln gehandelt? Wenn hier tatsächlich ein Anfangsverdacht der Begünstigung und Mitwirkung an einer Insolvenzverschleppung gegeben ist (ich bin juristischer Laie), wo bleiben die Staatsanwälte?
Noch etwas Gravierenderes findet in diesen Tagen statt. Ein Dreigestirn höchster Amtsträger – der Vorsitzende der EU-Kommission, die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Staatspräsident – haben die Griechenland-Sache „an sich gezogen“, wie es heißt. Von Amts wegen ist keine dieser Personen berechtigt, für die europäischen Gläubigerländer zu sprechen. Herr Junckers EU-Kommission ist keine „Europaregierung“, sondern eine Verwaltungseinheit. Die Bundeskanzlerin und der französische Präsident haben keinerlei Befugnis, im Namen anderer Mitgliedsstaaten der EU zu verhandeln. Sie haben auch von ihren eigenen Parlamenten kein Verhandlungsmandat bekommen. Das wäre angesichts der Schwere des Falls und angesichts der Rechtsgüter, die hier in Frage stehen, das Mindeste. Doch die Dreigestirn-Initiative ist eine rein persönliche Initiative, es handelt sich um eine Personalisierung der europäischen Griechenland-Politik. Das geschieht in einem Moment, wo sowohl für die Griechen als auch für ihre Gläubiger die Stunde der Wahrheit kommt.
Das höhere Interesse
Von Wahrheit ist allerdings nicht die Rede. Die Sonderrolle des Dreigestirns wird seltsam doppelbödig begründet: Einerseits wollen Merkel und Co. sogenannte „höhere Interessen“ und eine „europäische Sicht“ vertreten. Andererseits soll in einer vertraulichen Atmosphäre, sozusagen privatim, neues Vertrauen geschaffen werden. Diese Mischung aus hohem Anliegen und niedriger Verbindlichkeit wird als „politische Lösung“ tituliert und gegen die Verhandlungsführung durch die geldgebenden Institutionen (vormals „Troika“) ins Feld geführt. „Politisch“ bedeutet hier so etwas wie „freie Gestaltung“ – jenseits der harten Fakten der griechischen Ökonomie und den, daran gemessen, völlig überzogenen Staatsausgaben. Auch jenseits der verfassungsmäßigen Grenzen, die in den Gläubigerstaaten beim Eingehen von finanziellen Verpflichtungen im Ausland bestehen. Genau diese Wortblase „politische Lösung“ hatte auch Herr Tsipras gebraucht, als er eine Lockerung der bisherigen Kreditbedingungen forderte. Auf diese Basis haben sich nun Merkel, Hollande und Juncker eingelassen. Sie bewegen sich außerhalb der Verpflichtungen, die sie in dieser Sache bisher in ihren Ämtern und gegenüber ihren Ländern eingegangen sind. Sie haben sich sozusagen außer Landes begeben.
Zur Erinnerung: Die „Troika“ war einmal der institutionelle Eckstein in der europäischen Rettungspolitik. Auf sie wurde immer dann verwiesen, wenn den skeptischen nationalen Parlamenten die Zustimmung zu neuen Hilfsmilliarden abgerungen werden sollte. Nun wird diese Konstruktion innerhalb weniger Tage eingerissen.
Ja, hier geschieht etwas Ungeheuerliches. Man muss bedenken, dass unsere verfassungsmäßige Ordnung deutliche Grenzen beim Eingehen von finanziellen Verpflichtungen im Ausland setzt. Denn es besteht die Gefahr, dass der deutsche Staatshaushalt in einem Maße von der Entwicklung des kreditierten Landes abhängig wird, der die Souveränität unseres Landes gefährdet. Wenn eine Regierung das eigene Land im großen Stil zum Gläubiger anderer Länder macht, ist das ein ebenso heikler Schritt wie militärische Verpflichtungen. Besonders gefährlich wird es, wenn hier nicht nüchterne Erwägungen den Ausschlag geben, sondern sogenannte „höhere Ziele“. Diese Gefahr ist im Fall Griechenland akut. Entscheidende Regierungsämter, namentlich in Deutschland und Frankreich, sind von Personen besetzt, die die Finanzierung Griechenlands zur Frage des „Friedens in Europa“ gemacht haben. Im Grunde nehmen sie damit für ihr Handeln einen außergesetzlichen Notstand in Anspruch.
Frau Merkel hat dafür eine Formel gefunden, die umgangssprachlich harmlos klingt, aber aus dem Munde einer deutschen Bundeskanzlerin, die ja das Handeln des Staates darzulegen hat, alles andere als harmlos ist: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“. Hier herrscht nicht mehr das Recht, sondern der Wille. Der Wille ist in der Lage, sich jeden Weg zu bahnen. Damit liegt die Kanzlerin ganz dicht bei der politischen Willkür-Formel „Der Zweck heiligt die Mittel“. Im Namen eines höheren Zwecks „Europa“ und eines unbedingten Willens, ihn zu erreichen, ist sie offenbar bereit, bei einer Insolvenzverschleppung mitzuwirken. Das würde bedeuten, dass ein nicht unerheblicher Teil des deutschen Staatshaushalts auf Gedeih und Verderb mit der Entwicklung eines anderen Landes verknüpft wird. Wenn man selbst jetzt nicht aus dem Griechenland-Abenteuer aussteigt, schlittert unser Land in einer europäischen Dauerhaftung hinein. Und Deutschland würde auch andere Länder in diese Haftung hineinziehen.
Wir wissen nicht, wie diese Woche ausgeht. Aber es wird keine Woche wie jede andere sein.
Dieser Beitrag ist auf Achse des Guten erschienen.
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