Das Flüchtlingsthema im deutschen Schulunterricht. Wir waren vor Ort.

Also, wat is ene Transitzon? Da stelle mer uns janz dumm.

Es ist schön zu sehen, wie die Klasse der Aufforderung folgt. Herr Dömmel hat sich eine Zeitung mitgebracht, hinter der er für den Rest der Stunde mehr oder weniger verschwindet. Man hört Kulis und Bleistifte über Papier gleiten. Ab und zu flüstert ein Schüler etwas zu einem anderen oder Herrn Dömmels Zeitung raschelt. (Dömmel hat sich übrigens seiner Schuhe entledigt und sitzt jetzt mit Ringelsocken am Pult. Die Schuhe hat er neben sich abgestellt. Ab und zu wirft er einen Blick auf sie, als wolle er sich vergewissern, dass sie noch da sind. Eigenartig.)

Da ertönt die Pausenglocke. Herr Dömmel verabschiedet sich freundlich von der Klasse und verlässt den Raum. Für fünf Minuten wird es wieder richtig laut.

Die Glocke ertönt erneut. Die nächste Stunde beginnt. Jetzt ist Sozialkunde dran. Herr Stechner kommt. Er ist mittelgroß, deutlich jünger als Dömmel, leger gekleidet.

Herr Stechner stellt seine Mappe ab, lehnt sich an das Pult und beginnt. „Guten Morgen allerseits. Wir haben uns letzte Woche mit der Flüchtlingsproblematik im Allgemeinen vertraut gemacht, heute befassen wir uns mit etwas Speziellem: der Transitzone. Ihr habt sicher schon davon gehört, aber – was ist los?“ Eine Art verwundertes Raunen ist durch die Klasse gegangen. Ein Schüler meldet sich: “Herr Stechner, wir hatten doch gerade den Herrn Dömmel, und der hat die Transitzone schon mit uns durchgenommen.“ Herrn Stechners Augen verengen sich etwas. „So so, der Herr Bömmel … hat er das … was hat er euch denn so erzählt, der Bömmel?“

Die Kinder liefern einen lebendigen Bericht. (Eine schöne Gelegenheit für uns, unsere Notizen zu ergänzen.) Herr Stechner hört schweigend zu. Seine Kiefer mahlen etwas. Etwas blasser kommt er uns vor. Nun hebt er die Hand. „Schluss damit.“ Die Angesprochenen verstummen. „Das ist ja wohl der HANEBÜCHENSTE Unsinn, den ich jemals gehört habe! Dieser Bömmel … aber gut, zum Glück kann ich euch zeitnah über den wahren Sachverhalt aufklären. Falschen Vorstellungen muss man entgegentreten, bevor sie sich zum Vorurteil verfestigen.“ (Herr Stechner hat seinen Kollegen wieder Bömmel anstatt Dömmel genannt, offenbar ist es kein Versprecher. Was steckt dahinter? Die Schüler scheinen es gewohnt zu sein.) Stechner schüttelt noch ein paarmal den den Kopf, dann steigt er ins Thema ein:

„Was also ist eine Transitzone, was hat man sich darunter vorzustellen? Ihr könnt sie euch als eine langgestreckte Höhle vorstellen, so eine Art Tunnel, nur, so möchte man sarkastisch hinzufügen, ohne Licht am Ende. Von mir aus auch als ein altes Fabrikgebäude oder ein paar Baracken. Darauf kommt es gar nicht an. Sie befindet sich an der Grenze, immerhin das hat der Bömmel auf die Reihe bekommen, und dient dazu, Flüchtlingen, die Hunderte und Tausende von Kilometern marschiert sind und deren letzte Hoffnung unser großartiges Land ist, den Weg abzuschneiden und ihnen so diese letzte Hoffnung zu rauben. Die armen Menschen werden abgefangen und dann scharenweise da hineingetrieben. Wenn sie nicht parieren, sogar mit Waffengewalt. Kinder, Frauen, Alte. Grad waren sie noch fröhlich auf einer Wiese unterwegs oder sie sind prustend und glucksend durch einen Fluss geschwommen oder sie kommen lachend aus einem Wäldchen marschiert, was weiß ich, und plötzlich werden sie umzingelt von ihnen wildfremden bewaffneten, uniformierten Männern. Die nehmen sie fest und transportieren sie zu der Transitzone, wo sich dann ein rostiges Tor hinter den armen Leuten schließt.“ (Herr Stechner schneuzt sich.) „Entschuldigung, es geht mir jedesmal nah, wenn ich davon berichte. Aber ich muss davon berichten. Auch euch Kindern, die ich nicht gern mit etwas so Grauenvollem belaste, kann ich die Wahrheit leider nicht ersparen. Die Wahrheit muss in die Welt, und ihr seid ja die Welt von Morgen.“

Aus der Transitzone hat keiner wen rauskommen sehen

Herr Stechner atmet tief aus. Ein Mädchen nutzt die kleine Pause. Es sieht mitgenommen aus. „Herr Stechner, weiß man denn, was in der Transitzone mit den Menschen geschieht? Also der Herr Dömmel hat gesagt…“ Herr Stechner fällt ihr ins Wort: „Der Bömmel, der Bömmel! Lasst doch endlich den Bömmel aus dem Spiel! Was weiß denn der? Gar nichts weiß der! Die Menschen verschwinden in der Transitzone, und was mit ihnen passiert, das weiß man nicht, der Bömmel schon gar nicht! Vielleicht werden sie immer wieder verhört, vielleicht schlägt man sie auch, vielleicht sterben sie an Hunger oder falscher Ernährung. Man weiß es nicht, das ist ja das Fatale!“ Herr Stechner ist ordentlich in Fahrt geraten. Er trocknet sich die Stirn ab. „Und apropos Bömmel, hat der nicht gesagt, dass die Transitzone auch am anderen Ende ein ‚Loch‘ habe, und hat er nicht versprochen, dass ‚wir das später kriegen‘ – na, und, hat er es nochmal erwähnt? Nein, hat er nicht! Und warum wohl? Ganz einfach: weil bislang niemand jemals einen Menschen aus der Transitzone wieder hat herauskommen sehen! – Ja, was ist denn jetzt schon wieder?“ In der hinteren Reihe hat sich ein schlaksiger Junge erhoben. „Herr Stechner, könnte das vielleicht einfach daran liegen, dass die Transitzonen noch gar nicht gebaut worden sind? Da kann dann doch noch gar niemand rausgekommen sein.“

„Aha,“ (Stechner ist jetzt ziemlich rot im Gesicht.) „unser Rüdiger. So etwas musste ja kommen. Das ist wieder so eine typische spitzfindige Bemerkung von unserem Oberschlaumeier.“ (Stechners Blick schweift kurz über die Klasse.) „Der Rüdiger, sitzt da hinten und weiß alles, nicht wahr? Der glaubt wohl, er könne uns kirre machen mit seinen Frechheiten.“ (Stechners Blick schweift nochmal über die Klasse.) „Also das gibt jetzt einen Strich.“ (Stechner macht sich eine Notiz in ein kleines rotes Buch.)

„So, wo war ich? Ach ja. Aber eigentlich sind wir jetzt auch durch mit der Sache. In der restlichen Zeit ist wie immer Eigentätigkeit von euch gefordert. Holt mal alle eure Tablets raus und startet den Browser.“

Ein paar Minuten vergehen, bis alle bereit sind. „Also,“ fährt Herr Stechner fort, „zur Vertiefung des Themas werden wir jetzt ein wenig im Internet recherchieren, um zu sehen, wie Medien und Parteien über das Thema denken. Dazu tragt ihr in das Suchfeld das Wort „Transitzone“ ein. Zusätzlich müsst ihr aber auch noch andere Wörter mit angeben, z. B. „Haftzentrum“, „Inhaftierung“, „Gefängnis“ o. ä., andernfalls bekommt ihr viel zu viele und größtenteils irreführende Treffer. Was ihr findet, tragt ihr in einer Datei zusammen. Dann ordnet ihr das und macht euch ein paar Gedanken dazu, nächste Woche schreiben wir eine Arbeit über das Thema.“

Der Rest der Stunde ist nicht weiter berichtenswert. Die Schüler waren ins Recherchieren vertieft, Herr Stechner half ab und zu bei technischen Problemen.

Wir haben den Schulunterricht nachdenklich verlassen. Wir haben gesehen, wie aufgeschlossen Lehrer und Schüler für die Themen der Zeit sind. Wir haben aber auch gesehen, dass die Spaltungen, die im öffentlichen Diskurs sichtbar sind, vor den Schulen nicht haltmachen: die Konfliktlinien verlaufen mitten durch die Lehrerkollegien. Was in unseren Schülern vorgeht, darüber können wir einstweilen nur spekulieren. Und pädagogisch, wer hat uns besser gefallen, wer wird der Aufgabe, unsere Schüler mit den Themen der Zeit vertraut zu machen, eher gerecht? Herr Dömmel mit seiner altmodisch anmutenden, aber ganz offensichtlich die Herzen der Schüler ansprechenden Art oder der herbere Herr Stechner, der das Thema entschieden kritischer und unter souveränem Einsatz moderner Medien angepackt hat?

Und nun Sie, liebe Leser, wat is ene Transitzon?

Wir haben noch keine klare Position. Und wir wollen auch gar kein Resümee ziehen. Stattdessen fragen wir Sie, liebe Leser: Was sind Ihre Empfindungen, Einschätzungen, Gedanken? Das Kommentarfeld ist geöffnet. Wir freuen uns auf Ihre Nachrichten!

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