Die wundersame Vermehrung der Zahl der Abgeordneten gab es schon durch die Bundestagswahl 2013, jetzt ist noch eine viel größere bei der Bundestagswahl 2017 zu erwarten. Ein Beitrag zum Nachrechnen und Nachdenken.
Nach unserem derzeit gültigen Wahlgesetz für den Bundestag kann jeder Bürger auf seinem Stimmzettel zwei Kreuze machen: Eines für einen Wahlkreisabgeordneten (Erststimme), eines für die Landesliste einer Partei oder Wählervereinigung (Zweitstimme). Dem Wahlbürger wird immer wieder erklärt: Entscheidend ist die Zweitstimme! Weil sie über die Zusammensetzung des Bundestages nach Parteien entscheidet. Dem zugrunde liegt das in Deutschland geltende Verhältniswahlrecht. Gäbe es allein die Erststimme, hätten wir in Deutschland ein Mehrheitswahlrecht, wie es dies in reiner Form in Großbritannien gibt. Wegen der Erststimme ist unser Wahlsystem kein reines Verhältniswahlrecht, bei dem gilt: Ein Bürger – eine Stimme.
Erstens wegen der 5%-Klausel. Dadurch bleiben viele Stimmen unberücksichtigt. Das war 2013 mit 16-Prozentpunkten nicht berücksichtigter Stimmen besonders krass.
Zweitens wegen der Erststimmen. Sie entscheiden zwar nicht über die Zusammensetzung, aber über die Größe des Bundestages über die gesetzliche Mindestzahl von 598 Mandaten hinaus. Das ist etwas komplizierter und darin liegt ein schwerwiegendes Problem, das noch vor der nächsten Bundestagswahl im September 2017 gelöst werden müsste. Davon handelt der Beitrag.
Das Problem ist, – wenn es „ganz dumm kommt“ – dass im Reichstagsgebäude für die Abgeordneten über 700 Plätze gebraucht werden. Das ist nicht nur ein Platzproblem, sondern auch ein erhebliches Kostenproblem, denn jeder einzelne Abgeordnete kostet den Steuerzahler eine Menge Geld, viel mehr als seine schon nicht gerade bescheidene Abgeordneten-„Diät“ mit entsprechenden Versorgungsansprüchen. Ob mit steigender Quantität auch die Qualität der Abgeordnetenarbeit mithält, kann bezweifelt werden. Steigen wird sie auf keinen Fall.
Bundestagspräsident Lammert von der CDU hat das Problem schon längst erkannt und aktuell wieder eine Änderung des Wahlgesetzes mit dem Ziel vorgeschlagen, die Zahl der Abgeordneten nach oben auf 630 zu begrenzen. Das ist schon ein Fall von problematischer Besitzstandwahrung weit über die Sollzahl 598 nach dem Bundeswahlgesetz hinaus. Die Normalzahl der Abgeordneten für den Bundestag ist 598, weil Deutschland in 299 Wahlkreise eingeteilt ist und die Zahl der Abgeordneten auf Grund der Erststimmen und der Zweitstimmen nach dem Bundeswahlgesetz gleich groß sein soll.
Die augenblickliche Zahl 631 kommt durch 4 Überhangmandate und 29 Ausgleichsmandate zustande. Die Überhangmandate hat allein die Union ausgelöst. Die daher angeblich notwendigen 29 Ausgleichsmandate kamen dann auch den anderen Parteien im Bundestag zugute. Die haben aber den Begrenzungs-Vorschlag von Lammert bisher abgelehnt, weil eine Deckelung der Ausgleichsmandate angeblich die Union bevorzugen würde.
Überhangmandate entstehen dadurch, dass eine Partei mehr Wahlkreismandate in einem Bundesland gewinnt, als ihr auf Grund der maßgeblichen Zweitstimmen zustünden. Die Ausgleichsmandate müssen dann aber bundesweit auch nach dem Länderproporz vergeben werden, was das Verfahren äußerst kompliziert macht.
Ein Blick in die jüngere Vergangenheit
Bundestagswahl 2013 – Wie war das damals?
Erstes Ergebnis: Die Anforderung des Verhältniswahlrechts in Hinblick auf den Parteien-Proporz wurde erfüllt.
Zweites Ergebnis: 33 Abgeordnete mehr als die Sollzahl von 598. Dadurch soll nach dem Bundeswahlgesetz das Gleichgewicht von persönlichen Wahlkreis-Mandaten (Erststimme) und parteibezogenen Listen-Mandaten (Zweitstimme) erreicht werden. Diese Anforderung wurde nicht erreicht: Es waren 33 Parteilisten-Mandate mehr als persönliche Wahlkreis-Mandate. Auf die meisten Listenmandate hat der Stimmbürger bei der Wahl keinen Einfluss. Die werden oft mit Hauen und Stechen parteiintern vorher ausgekämpft.
Merkwürdig an der Entstehung von 33 Zusatzmandaten ist die Tatsache, dass die CDU sowohl 4 auslösende Überhangmandate zustanden, in einem späteren Rechenschritt aber auch Ausgleichsmandate bekam. Dazu sagte Bundestagspräsident Lammers bei der konstituierenden Sitzung des Bundestages am 22. Oktober 2013:
Ausschlaggebend für die Erhöhung der Mandate waren jedoch nicht die Überhangmandate der CDU, sondern die Mindestmandate der CSU.
Das trägt nicht gerade zur Aufhellung der Berechnungsmethode bei.
Die Zahlen in der Tabelle 1 machen deutlich, dass keine Partei im Bundestag gegenüber einer anderen Partei durch die Zusatzmandate benachteiligt wurde, alle im Bundestag sitzenden Parteien aber von den zusätzlichen Mandaten profitierten.
Ursprünglich entstanden sind die Überhangmandate ausschließlich bei der CDU (je eins in Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Saarland und Thüringen). Durch die CSU konnten 2013 direkt keine Überhangmandate entstehen, weil die CSU in Bayern bei den anrechenbaren Zweitstimmen über 50 Prozent lag. Genauso war es auch bei der CDU in Baden-Württemberg, die nur durch den Wegfall der Stimmen für FDP und AfD auch über 50 Prozent bei den Zweitstimmen kam (siehe Tabelle 4).
Die vier Überhangmandate der CDU haben Ausgleichsmandate auch bei der CSU ausgelöst, die wiederum durch eine starke Hebelwirkung (bundesweit kleine Partei in einem großen Bundesland) zu viel mehr Ausgleichsmandaten bei den anderen Parteien führten, als es bei den ursprünglichen Überhangmandaten der CDU nötig war. Um es noch anders auszudrücken: Gäbe es in Bayern nur einen Landesverband der CDU und keine eigenständige CSU, dann wären es viel weniger Mandate über die Sollzahl von 598 hinaus gewesen.
Unter wahrscheinlich ganz anderen Bedingungen bei der Bundestagswahl 2017 kann die Zahl der Zusatzmandate im nächsten Bundestag noch viel stärker über die Sollgröße von 598 steigen.
Das wird im Folgenden mit einigen nicht nur möglichen, sondern durchaus realistischen Fallgestaltungen nachgewiesen.
Bundestagswahl 2017
Die Sitzverteilung im nächsten Bundestag könnte nach dem Durchschnittswert der sieben maßgeblichen Wahlforschungsinstitute (Stand Anfang Oktober 2016) ohne Überhangmandate und Ausgleichsmandate nur nach dem Zweitstimmen-Ergebnis so aussehen:
Obwohl die durchschnittlichen Prognose-Zahlen sich seitdem gering verschoben haben, ändert sich an der an der Sitzverteilung so gut wie nichts.
Bei der errechneten Abgeordnetenzahl wird es nicht bleiben, weil mit einer großen Zahl von Überhangmandaten und Ausgleichsmandaten gerechnet werden muss. Das wird nach den obigen Zahlen vor allem in Bayern durch die CSU der Fall sein.
Überhangmandate und Ausgleichsmandate durch die CSU
Nach den bisher bekannten Prognosen werden AfD und FDP in den Bundestag einziehen und allein schon deshalb das für die Mandatsverteilung maßgebliche Zweitstimmenergebnis der CSU in Bayern nach unten drücken. Nach letzten Prognosen für Bayern könnte die CSU dort 44 Prozent aller anrechenbaren Zweitstimmen gewinnen. Das würde ihr ungefähr 42 Sitze im Bundestag einbringen. Davon ausgegangen, dass die CSU trotz Stimmverlusten alle 46 Wahlkreise in Bayern gewinnt, hätte sie Anspruch auf 46 und nicht nur 42 Sitze im Bundestag für die direkt gewählten Abgeordneten. Das sind rund 10 Prozent mehr als ihr nach den maßgeblichen Zweitstimmen zustünden. Die 10 Prozent mehr Sitze (4 zu 42) durch Überhangmandate für die CSU müssen nun – stark vereinfacht gerechnet -durch Ausgleichmandate für die anderen Parteien (einschließlich der CDU) kompensiert werden. Das sieht dann vereinfacht dargestellt so aus
Würde durch ein noch stärkeres Abschneiden anderer Parteien in Bayern – vor allem der diesbezüglich völlig unberechenbaren AfD – die CSU nur 40 Zweitstimmen-Mandate für den Bundestag erreichen, aber immer noch Anspruch auf 46 Erststimmen-Mandate aus Wahlkreisen haben, dann müssten an die anderen Parteien auch rund 15 Prozent mehr Mandate bundesweit zugeteilt werden. Dann hätte der Bundestag allein dadurch sage und schreibe rund 680 Abgeordnete.
Überhang- und Ausgleichsmandate durch die CDU
Die 29 Überhandmandate im Jahre 2013 wurden – wie schon erwähnt – nicht von der CSU, sondern durch 4 Überhangmandate der Schwesterpartei CDU ausgelöst. Wird es 2017 weniger Zusatzmandate durch die CDU geben, gleich viel oder sogar mehr als 2013? Die Antwort darauf ist der Höhe nach viel schwieriger zu prognostizieren als der Sonderfall CSU in Bayern.
Wie sieht es nun in anderen Bundesländern aus, in denen die CDU auch alle oder fast alle Wahlkreise gewonnen hat? Überall sind dort 2017 Überhangmandate und folgende Ausgleichsmandate möglich. Das zeigt die nachfolgende Darstellung:
Zu den Zahlen in den Tabellen 4 a und b, die ausschließlich die CDU betreffen, ist folgendes zu sagen:
I. Die Erststimmen für die CDU waren in der Vergangenheit überall um 2 bis 3 Prozentpunkte höher als die Zweitstimmen. Das wird bei den nächsten Bundestagwahlen wahrscheinlich weniger der Fall sein. Es spricht vieles dafür, dass wegen der völlig geänderten politischen Landschaft strategisches Stimmensplitting abnehmen wird. In den neuen Bundesländern kann es durch das Aufkommen der AfD und die immer noch starke Stellung der Linken bis zu vier ernsthafte Bewerber um ein Direktmandat geben. In den alten Bundeländern kann das in einigen Städten mit den Grünen anstelle der Linken ebenfalls so sein.
II. Durch den Wegfall der Stimmen für kleinere Parteien, die auf der Bundesebene im Jahre 2013 die 5%-Hürde nicht übersprungen hatten, vergrößerte sich das rechnerische Zweitstimmen-Ergebnis für die Verteilung der Bundestagssitze. Durch den wahrscheinlichen Einzug von AfD und FDP in den Bundestag wird die Zahl der für die Mandatsverteilung unter den Tisch fallenden Stimmen von rund 16 Prozent auf etwa 5 Prozent absinken. 16 Prozentpunkte, die nicht mitgerechnet und den anderen Parteien bei der Mandatsverteilung gutgeschrieben wurden, machten bei den dargestellten Ergebnissen für die CDU rund 5 bis 7 Prozentpunkte zusätzlich aus!
Unter Berücksichtigung dieser möglichen Entwicklungen auf der Grundlage von Umfragen und letzten Landtagswahlergebnissen ist es möglich, dass in einigen Bundesländern die CDU zwar deutlich bei den Zweit- und Erststimmen verliert, aber mehr Erststimmen-Mandate als maßgebliche Zweitstimmen-Mandate landesweit erreicht. Das könnte noch mehr Überhangmandate und Ausgleichsmandate durch die CDU auslösen, als das schon 2013 der Fall war. Beispielhaft lässt sich das am Freistaat Sachsen dargestellen. Aber auch in Hamburg und Bremen, dort von der SPD ausgelöst, kann es zu Zusatzmandaten kommen.
Das Beispiel Sachsen
2013 hat die CDU in Sachsen 43 Prozent aller Zweitstimmen und in allen 16 sächsischen Wahlkreisen das Direktmandat gewonnen. Dadurch, dass FDP und AfD und andere Parteien bundesweit an der 5%-Hürde scheiterten und die Stimmen für diese Parteien auch in Sachsen bei der Mandatsberechnung unter den Tisch fielen, wurden aus den ursprünglich 43 Prozent knapp 50 Prozent Zweitstimmen für die CDU. Deshalb entstanden 2013 keine Überhangmandate in Sachsen. Wenn nun, was recht wahrscheinlich ist, FDP und AfD die 5%-Hürde bei der Bundestagswahl 2017 bundesweit überspringen und in Sachsen AfD und FDP auch nur das gleiche Ergebnis wie bei der Bundestagswahl 2013 (AfD 7%, FDP 3%) erreichen, gäbe es schon dadurch für die CDU mehrere Überhangmandate und für alle Parteien demzufolge viele Ausgleichsmandate.
Würde die CDU auf Grund der letzten Umfrage für Sachsen nur noch 34 Prozent der gewerteten Zweitstimmen und dabei etwa 36 Prozent der gewerteten Erststimmen erreichen und damit nochmal alle 16 sächsischen Wahlkreise gewinnen, bekäme sie 16 Sitze im Bundestag, von denen ihr aber nur 11 auf Grund des maßgeblichen Zweitstimmenergebnis zustünden. Das hätte 5 Überhangmandate zur Folge. Das sind mehr als 3 Prozent zusätzliche Sitze für die CDU und auch für Sachsen im Bundestag. Folglich müsste auch die CSU ein Ausgleichsmandat bekommen, ähnlich wie 2013. Das wiederum könnte mit Hebelwirkung (siehe Tabelle 1) dazu führen, dass auch die CDU Ausgleichsmandate bekommt. Weil 2013 die 4 Überhangmandate aus vier Bundesländern kamen, kann nicht einfach auf das Zusatzmandats-Ergebnis durch 5 Überhangmandate der CDU allein aus einem Bundesland geschlossen werden. Es könnten allein aus Sachsen 2017 mehr Zusatzmandate kommen als 2013 insgesamt aus vier Bundesländern.
Die gleichen 5 Überhangmandate gäbe es 2017 natürlich auch, würde die AfD anstelle der CDU alle 16 Wahlkreise in Sachsen gewinnen und 34 Prozent der Erststimmen erreichen. Die Ausgleichsmandate für die anderen Parteien wären aber wesentlich höher als in dem Fall, dass die CDU die Überhangmandate zugesprochen bekäme. Das wären mit rund 7 Prozent mehr Überhangmandate für die AfD auch 7 Prozent mehr Ausgleichsmandate für alle Parteien: insgesamt dann rund 640 Mandate.
Im Gegensatz zu den realistischen Einschätzungen möglicher Mandatsentwicklung bisher in Sachsen ist die folgende Fallgestaltung eine Fiktion. Sie zeigt aber die Problematik des augenblicklichen Wahlrechts für die Größe des Bundestages noch drastischer.
Die Fiktion: In Sachsen nimmt die AfD sich die CDU/CSU zum Vorbild, gliedert den sächsischen Landesverband aus und gründet dort eine eigene Partei: Alternative für Sachsen (AfS). Sie erringt in Sachsen dann bei der Bundestagswahl 2017 alle 16 Wahlkreise und erreicht 34 Prozent der gewerteten Zweitstimmen wie in der Fallgestaltung vorher für die CDU oder die AfD.
Die „AfS“ bekäme dann 16 Erststimmen-Mandate. Ihr stünden aber nur 11 Mandate auf Grund des Zweitstimmen-Ergebnisses zu. Das führte bei der „AfS“ auch zu 5 Überhangmandaten. Wer nun glaubt, dass die Folgen daraus bei der Festlegung der Ausgleichsmandate nicht anders wären, als würde die CDU oder AfD in Sachsen – wie beschrieben – ein ähnliches Ergebnis erreichen, irrt.
Es wären rund 46 Prozent mehr Mandate, als der „AfS“ nach dem Zweitstimmen-Ergebnis in Sachsen zustünden. Die anderen Parteien einschließlich der AfD hätten Anspruch auf Ausgleichsmandate in gleicher Höhe. Das wären etwa 273 Mandate mehr – Ergebnis: rund 870 Abgeordnete.
Schlussfolgerungen für alle Bundesländer
Zusätzliche Überhang-Mandate in den aufgeführten Bundesländern sind nur zu vermeiden, würde die CDU dort einige Wahlkreise verlieren. Das gleiche gilt für die CSU in Bayern, ähnlich auch für die SPD in Hamburg und Bremen. In den neuen Bundesländern kann das vor allem durch die AfD der Fall sein, in den alten Bundesländern in Einzelfällen durch die Grünen, die SPD und auch die AfD. In Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Hessen könnte die CDU einige Wahlkreise an die SPD verlieren, wenn sie dort mehr Erststimmen als die SPD verliert. In diesen Bundesländern ist folglich kaum mit Überhangmandaten der CDU zu rechnen.
Die Situation ist in Deutschland wirklich neu: In einigen Wahlkreisen könnte mit 25% und weniger der Erststimmen ein Direktmandat zu gewinnen sein – zum Beispiel im hessischen Wahlkreis 186 Darmstadt (Stadt und Landkreis Darmstadt-Dieburg).
Gewonnene Wahlkreise mit einer Prozentzahl deutlich unter 30 sind ein wesentlicher Grund dafür, dass bei der Bundestagswahl 2017 die Zusatzmandate völlig aus dem Ruder laufen können.
„Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre“, gäbe es wahrscheinlich über 100 Zusatzmandate, also in der Summe über 700 Abgeordnete. Wenn sich die Voraussagen bei der „Sonntagsfrage“ noch wesentlich ändern, ist völlig offen, ob die Zahl der Zusatzmandate noch weit über 100 steigen oder aber deutlich unter 100 sinken könnte. Diese Unsicherheit einer Prognose der Zusatzmandate für den nächsten Bundestag soll auch noch einmal am Beispiel Baden-Württemberg anschaulich gemacht werden:
Wenn es bei den letzten Umfragen für Baden-Württemberg bleibt, nach denen die CDU die Hälfte ihrer anrechenbaren Zweitstimmen einbüßt, ist es wahrscheinlich, dass sie auch etliche Wahlkreise verliert und dadurch keine Überhangmandate gutgeschrieben bekommt. Wenn sich jedoch die CDU bei den Voraussagen für Baden-Württemberg bei den Zweitstimmen erholt und bei den Erststimmen wieder alle oder fast alle Wahlkreise gewinnt, dann kann es auch Überhangmandate für sie und Ausgleichsmandate für alle geben.
Bei dieser Sachlage ist es unverantwortlich, mit unverändertem Wahlgesetz in die nächste Bundestagswahl zu gehen.
Es ist davon auszugehen, dass solche Rechnungen bezüglich möglicher Bundestags-Wahlergebnissen 2017 auch in den Parteizentralen aufgemacht werden. Warum unterstützt dann die Union den Bundestagspräsidenten, der das Wahlgesetz deshalb noch vor der Wahl ändern möchte, nur lustlos? Und warum sind alle anderen im Bundesrat vertretenen Parteien gegen den Vorschlag des Bundestagspräsidenten?
Der Grund ist ganz simpel: Viele Abgeordnete hoffen auf möglichst viel Überhangmandate und Ausgleichsmandate.
Diese Mandatsträger aller bisher im Bundestag vertretenen Parteien fürchten durch das starke Aufkommen der AfD und die Rückkehr der FDP ins Parlament um ihren Job. Es ist erlaubt, so zu formulieren, nachdem immer mehr Mandatsträger als Beruf „Bundestagsabgeordneter“ angeben. Sie hoffen, dass wenigstens die Zusatzmandate und damit ein Plätzchen für sie im Reichstag erhalten bleibt oder es sogar mehr werden. Es beindruckt sie wenig, dass die Parterre-Plätze im Reichstag für 700 Abgeordnete und mehr nicht reichen. Bei besonderen Anlässen und vollem Haus könnten die Besucherplätze genutzt und ansonsten so verfahren werden, wie das manche Unternehmen jetzt schon machen: Weniger, aber mobile Arbeitsplätze als vorhandene Mitarbeiter. Gerade posaunt das Microsoft mit der neuen Zentrale in München wieder als große Errungenschaft in die Welt. Als Normalität könnte auch das Beispiel des britischen Unterhauses angeführt werden: Da sind für die 650 Abgeordneten nur 427 Sitzplätze vorhanden und eine Besuchertribüne gibt es nicht.
Zusammenfassung
So könnten die Mandatszahlen im Bundestag vom Wahlergebnis 2013 zum Wahlergebnis 2017 nach dem Durchschnitt der Wahlprognosen Anfang Oktober und der pauschalen Einrechnung von 102 Zusatzmandaten aussehen:
Das würde der Anforderung des deutschen Wahlrechts erfüllen, dass die Zweitstimmen proportional über die Sitzverteilung im deutschen Bundestag entscheiden müssen. Im Bundestagswahlgesetz steht aber:
Der deutsche Bundestag besteht vorbehaltlich der sich aus diesem Gesetz ergebenden Abweichungen aus 598 Abgeordneten.
Ob rund 17 Prozent „Abweichung“ nach oben bei einer klaren Verletzung des im Wahlgesetz vorgesehenen gleich großen Stimmanteils der Wahlkreis-Abgeordneten und der Parteilisten-Abgeordneten noch mit dem Bundeswahlgesetz vereinbar ist? Darüber sollten sich das Bundesverfassungsgericht möglichst noch rechtzeitig vor der Bundestagswahl 2017 Gedanken machen, wenn es schon der Bundestag nicht tut.
Jetzt soll der Bundestagspräsident mal von Experten mit EDV-Unterstützung ausrechnen lassen, was für eine Mandatszahl bei der prognostizierten Stimmverteilung auf die Parteien (Zeile 2 in Tabelle 5), die die 5%-Hürde überschritten haben, herauskommt, wenn es zu 4 Überhangmandaten für CSU in Bayern und die 5 für die CDU oder AfD in Sachsen kommt. Es ist davon auszugehen, dass es viel mehr als 700 sein werden.
Für Zweifler an diesen hypothetischen zukunftsbezogenen Berechnungen:
Unterstellen wir einmal, dass die FDP und AfD bei der letzten Bundestagswahl nicht 4,8% bzw. 4,7% der Zweitstimmen bekommen hätten, sondern jeweils 5,0%. Dann schauen Sie sich Tabelle 4 b noch einmal an, die das berücksichtigt:
Wenn 4 Überhangmandate 2013 zu 29 Ausgleichsmandaten geführt haben, dann ist es eine interessante Frage, zu wie viel Ausgleichsmandaten es bei 16 Überhangmandaten geführt hätte, wenn bei der Bundestagswahl 2013 FDP und AfD 0,2 bzw. 0,3-Prozentpunkte mehr Zweitstimmen bei sonst gleichen Ergebnissen bekommen hätten.
Vielleicht hat der Bundestagspräsident solche Berechnungen schon längst anstellen lassen. Ist da vielleicht ein Grund zu finden, warum Lammers überraschend seinen totalen Rückzug von der Politik angekündigt hat?
Will er die Verantwortung für einen viel zu großen Bundestag ab 2017 nicht übernehmen? Oder fürchtet er, das Bundesverfassungsgericht könnte wegen dieser Problematik das Bundeswahlgesetz kippen und damit möglicherweise auch den Wahltermin im September 2017?
Dieter Schneider, Jahrgang 1941, studierte Betriebswirtschaftslehre in Frankfurt am Main. Nach sieben Jahren Management-Tätigkeit brachte er als selbständiger Unternehmensberater und Journalist den branchenspezifischen Information- und Beratungsdienst „Marktlücke“ heraus, den es ununterbrochen Anzeigen- und PR-frei fast 40 Jahre gab. Seit 2013 publiziert Dieter Schneider mit gleichem Namen MARKTLÜCKE Management-Themenmagazine.
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