Wenn der Trend zur „Absageritis“ ein Ausdruck von „Mut“ ist, dann bin ich lieber feige und gehe nicht nach Hause. Schließlich passieren dort die meisten Unfälle. Von Matthias Heitmann.
Kein Zweifel: Für sich betrachtet ist eine akute Sturmwarnung ein akzeptabler Grund, einen Karnevalsumzug mit zehntausenden Zuschauern nicht stattfinden zu lassen. Wer übernimmt schon gerne die Verantwortung, wenn da etwas passiert? Natürlich ist ein verheerendes Zugunglück mit zehn Toten und Dutzenden Verletzten für sich betrachtet ein Grund, tags darauf in der Nachbarschaft keine großen polemischen politischen Stammtischreden zu schwingen. Wer hört schon gerne den Vorwurf, sich pietätlos gegenüber Unglücksopfern und der Trauer der Angehörigen und Mitfühlenden zu verhalten?
Selbstverständlich ist eine unmittelbare Terrorwarnung für sich betrachtet ein Grund, ein Fußballspiel vor zehntausenden Zuschauern nicht stattfinden zu lassen. Wer will sich vorwerfen lassen, Warnungen ignoriert und unbedacht das Leben von Menschen riskiert zu haben? Ähnliches gilt auch für Warnungen vor einem angeblich geplanten Terroranschlag in München am Silvesterabend oder für die Absage des Frankfurter Radrennens im Mai letzten Jahres.
Die Gesamtschau erzählt eine eigene Geschichte
Jedes Ereignis erzählt seine eigene Geschichte. Aus dieser Perspektive bietet jedes dieser Ereignisse Umstände und Gründe, warum die Entscheidung, eine Absage auszusprechen, die richtige, zumindest aber eine nachvollziehbare gewesen sein mag. Doch Ereignisse erzählen auch auf der Ebene der Gesamtschau eine Geschichte. Und diese Ebene ermöglicht andere An- und auch Einsichten. Von dort aus betrachtet sieht man mehr als eine zufällige Aneinanderreihung von Ereignissen, was der Einzelfallanalyse eine weitere Dimension hinzufügt.
Aus der Vogelperspektive betrachtet lässt sich feststellen, dass wir in den letzten Monaten eine auffällige Häufung von kurzfristigen Absagen öffentlicher Veranstaltungen erlebt haben – freilich aus den unterschiedlichsten Gründen. Man könnte sagen: Die Gesellschaft hat eine neue Entschlossenheit entwickelt, öffentliche Ereignisse im Falle des Vorliegens von Warnhinweisen ohne langes Zögern ausfallen zu lassen. Je nachdem für wie ernsthaft und stichhaltig man diese Hinweise hält, kann man die Entscheidungen begrüßen oder skeptisch sehen. Natürlich ist man im Nachhinein immer schlauer – das ist aber kein Argument dafür, vorher nicht gründlich abzuwägen. Die Kunst, das richtige zu tun, umfasst daher auch die schwierige Aufgabe, beide Perspektiven zu berücksichtigen und gegeneinander auszubalancieren.
Was bleibt, ist die Frage nach den Ursachen für die Häufung solcher Absagen. Ist diese Häufung real, oder ist sie eine bloße Einbildung und ein Ausdruck einer um sich greifenden Hypersensibilität? Was sich in jedem Fall sagen lässt ist, dass die Wahrnehmung, der zufolge immer häufiger Veranstaltungen abgesagt werden, von sehr vielen Menschen – zumeist mit einem machtlosen Achselzucken – bestätigt wird. Diese Wahrnehmung steht im auffälligen Kontrast dazu, dass uns Fachleute stets versichern, dass die reale Bedrohung insgesamt weder größer noch konkreter geworden sei. Zudem belehren sie uns fortlaufend, dass es auch bei größtmöglichen Sicherheitsvorkehrungen keinen 100%igen Schutz geben kann.
Schneller an der Reißleine
Trotz einer also wenig zugespitzten Sicherheitslage sind wir als Gesellschaft bereit, sehr viel schneller und sehr viel häufiger als in der Vergangenheit auf Warnungen zu hören und um der Sicherheit willen die Reißleine zu ziehen. Denn auch wenn manchen die Häufung solcher Vorfälle auffällt, Kritik daran ist – sieht man von ein paar kleinen Verschwörungstheoretikerkreisen ab – nicht zu hören. Es ist aber auch nicht leicht, Ansatzpunkte für eine fundierte Kritik zu finden – schließlich ist auf der Ebene der konkreten Ereignisse ein Heer von Sicherheitsexperten damit beschäftigt, ganz genau hinzuschauen und möglichst jeden folgenschweren Fehler zu vermeiden. Insofern geht das unbestimmte Gefühl, das irgendetwas in unserem Umgang mit Bedrohungsszenarien nicht stimmt, nur selten über die Ebene eines subjektiven Empfindens hinaus.
Auch beim Risiko kein Maß
Aber ist es denn eigentlich vorstellbar, dass wir manchmal zu genau hinschauen? Sind wir vielleicht inzwischen zu schnell dabei, nur den guten Gründen für eine Absage Gehör zu schenken. Gibt es nicht auch hin und wieder gute Gründe, eine Veranstaltung nicht abzusagen, auch wenn Risiken bestehen? Ich weiß, was manche von Ihnen jetzt denken: Das kann nur jemand sagen, der noch keinen Terroranschlag erlebt und noch keine Angehörigen auf diese Weise verloren hat. Der Einwand mag berechtigt sein. Andererseits ist die Anzahl derer, die ein solches Ereignis miterlebt oder Angehörige dadurch Angehörige verloren haben, so klein, dass die Frage berechtigt erscheint, ob eine Gesellschaft sich dieser Sichtweise unterordnen sollte. Zudem ist das Fußballländerspiel zwischen Frankreich und Deutschland im November, in dessen unmittelbarer Umgebung ja ebenfalls eine Bombe explodierte, ein gutes Beispiel dafür, dass das Nichtabsagen einer Großveranstaltung durchaus eine richtige, weil Leben rettende Entscheidung sein kann.
Ich habe den Eindruck, dass es die Gesellschaft heute zunehmend schwierig findet, einen angemessenen Umgang mit Risiken zu finden oder aber diese auch nur einigermaßen realistisch einzuschätzen. Da es um Menschenleben geht und jeder individuelle Schaden nicht hinnehmbar ist, scheuen wir davor zurück, bei der Bewertung derartiger Ereignisse die konkrete Ebene zu verlassen und sie aus der Vogelperspektive zu betrachten, sprich, Abwägungen zu treffen. Verwunderlich ist das nicht: Spätestens seit den 1990er-Jahren gelten Risikovermeidung und der Primat der Sicherheit als politische Grundsätze, die weder Alternativen noch Spielräume für eventuelle Abwägungen bieten. Wie also soll eine Gesellschaft einen bewussten, ja sogar selbstbewussten Umgang mit Risiken üben, wenn ihr fortwährend Null-Toleranz gegenüber Gefahren als zentraler Politikinhalt und als alltägliches Organisationsprinzip verordnet wird?
Wenn man Menschen auf der Straße befragt, ob sie selbst als Verantwortliche öffentlicher Großveranstaltungen das Risiko in Kauf nehmen würden, dass Besucher bei ihrem Event zu Schaden oder gar zu Tode kommen, würden sie dies mit hoher Wahrscheinlichkeit verneinen und die Verantwortung dafür zurückweisen. Dass dieses Risiko aber nie auszuschließen ist, erzeugt einen Zwiespalt, dem man sich nur dadurch entziehen kann, dass man möglichst nichts veranstaltet. Diese Entscheidung, keine Verantwortung zu übernehmen, gilt mittlerweile vielen als weise und „mutig“, während diejenigen, die die Verantwortung für eigene große Projekte übernehmen wollen, als potenziell verantwortungslos und skrupellos kritisiert werden. Während also klassischer „Mut“ als schädlich gilt, wird dem Zurückschrecken aus Furcht, da es als Ausdruck wirklicher Verantwortung gesehen wird, Respekt gezollt.
Die Reißleine ist kein Rettungsseil
Die Häufung von kurzfristigen Veranstaltungsabsagen zeigt, dass wir in den letzten Monaten einen enormen Schritt in Richtung einer Kultur der totalen Risikovermeidung gemacht haben – dies allerdings, ohne hierdurch auch nur einen Prozentpunkt an gefühlter, geschweige denn realer Sicherheit hinzugewonnen zu haben. Das einzige, was sich tatsächlich verändert, ist unsere Einstellung zum Leben: Wir gewöhnen uns daran, dass wir aufgrund von abstrakten Hinweisen unbekannter Güte präventiv daran gehindert werden, unser Leben so zu führen, wie wir es eigentlich vorhaben. Wir finden uns damit ab, dass jede Veranstaltung, jedes Konzert, jedes Fußballspiel und jeder Karnevalsumzug jederzeit abgesagt werden kann. Da wir verlernt haben, Risiken selbst einzuschätzen, halten wir es sogar für legitim und „mutig“, wenn andere uns diese Einschätzung abnehmen.
Wie weit kann diese Entwicklung gehen? Als Schüler lernten wir, dass es nicht nur verboten ist, grundlos den Alarmknopf im Schulgebäude zu drücken, sondern dass dies sogar gefährlich ist, da es dazu führt, dass das Alarmsignal irgendwann nicht mehr ernstgenommen wird – auch dann nicht, wenn es wirklich brennt. In unserer „Alarmgesellschaft“ geht die Risikovermeidung jedoch mittlerweile noch weiter: Das immer häufigere Drücken des Alarmknopfes zerstört nicht nur unser Gespür für tatsächliche Gefahren. Es zerstört auch unsere Fähigkeit, Situationen als tatsächlich ungefährlich einzuschätzen. Wir entwöhnen uns immer mehr von der Vorstellung, überhaupt eigene Einschätzungen fällen und auf deren Basis eigene Entscheidungen treffen und verantworten zu können. Wir laufen Gefahr, die Reißleine für ein Rettungsseil zu halten.
Wenn der Trend zur „Absageritis“ ein Ausdruck von „Mut“ ist, dann bin ich lieber feige und gehe nicht nach Hause. Schließlich passieren dort die meisten Unfälle.
Matthias Heitmann ist freier Publizist und Autor des Buches „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ (TvR Medienverlag, Jena 2015, 197 S., 19,90 Euro). Seine Webseite findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de. Der Artikel erschien zuerst in der BFT Bürgerzeitung.
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