Neben den beiden Literaturnobelpreisträgern Władysław Stanisław Reymont und Henryk Sienkiewicz wurde nur noch einem polnischen Romancier Weltruhm zuteil: Józef Konrad Korzeniowski, besser bekannt als Joseph Conrad. Pünktlich zu seinem 100. Todestag erschienen einige neue Übersetzungen seiner Texte.
Gestatten wir uns ein kleines, literarhistorisches Blitzlichtgewitter: Wir befinden uns am Ende des 19. Jahrhunderts. Theodor Fontane wandert durch die Mark Brandenburg und plant eine Romanreihe über eigenwillige Liebesbeziehungen. Die Franzosen Émile Zola und Guy de Maupassant identifizieren in ihrer Prosa das Inhumane sowie die moralischen Abgründe in der vornehmen Pariser Gesellschaft. Und der Pole Józef Teodor Nałęcz Konrad Korzeniowski begibt sich auf die Suche nach einem Kindheitstraum, indem er den Kongo-Fluss aufwärts schippert und dabei unerwarteterweise mit den schrecklichsten Verbrechen konfrontiert wird. All dies vollzieht sich in einer Epoche, die literaturgeschichtlich als Realismus bzw. Naturalismus zusammengefasst wird. All dies sind jedoch ebenfalls schon Symptome einer Zeit, die wir als das fiebrige „Fin de Siècle“ bezeichnen – als eine Ansammlung jener finsteren Kräfte, die sich bald im Ersten Weltkrieg auf eine verhängnisvolle Weise „entladen“ sollten (Karl Kraus).
Korzeniowski, der dem Weltpublikum als Joseph Conrad bekannt wurde, gehört wohl zu den bedeutendsten Erzählern dieser moralischen Verwerfungen. Von den Meistern des realistischen Romans hat er die Kunst gelernt, ein Milieu plastisch nachzuzeichnen, mit wenigen Worten psychologische Konflikte bzw. spezifische Stimmungen anzudeuten und vor allem Figuren zu entwerfen, die eine körperliche Unmittelbarkeit ausstrahlen. Insbesondere aber vermochte er, durch die Darstellung des vermeintlich Banalen tiefere Zusammenhänge sichtbar zu machen. Dabei wollte er zunächst gar nicht Schriftsteller werden.
Zaristische Unterdrückung
Joseph Conrad wurde am 3. Dezember 1857 in dem damals zaristischen Berdyczów, der heutigen Ukraine, geboren. Die Eltern, verarmte polnische Landadlige, waren glühende Patrioten. Die Familie zog bald in die Hauptstadt Kongresspolens um. Am Warschauer Nowy Świat 47 steht heute noch das Haus, in dem Apollo Korzeniowski einstmals den politischen Umsturz vorbereitete. Die russischen Behörden verhafteten ihn wegen seiner Beteiligung am Januaraufstand von 1863. Conrads Vater gehörte zu den Ideengebern einer neuen und unabhängigen polnischen Regierung, dem „Rząd Narodowy“. Die Erhebung wurde brutal niedergeschlagen, Apollo und dessen politische Weggefährten wurden in der Warschauer Zitadelle aufs Übelste gefoltert. Diese Ereignisse konnten den gerade mal sechsjährigen Józef kaum unbeeindruckt lassen. Fünf Jahre später war er bereits Vollwaise.
Das Kind wurde in die Obhut eines Onkels gegeben. Zu dieser Zeit war er schon ein begeisterter Leser von Reiseberichten und Abenteuerromanen, drängte darauf, alsbald zur See fahren zu dürfen. Als er siebzehn wurde, gab der Vormund seinem Wunsch nach. Ab 1874 segelte Conrad unter französischer Flagge, vier Jahre später unter der britischen. Als er 1886 die britische Staatsbürgerschaft annahm, sprach er bereits ausgezeichnet Englisch. Die literarischen Ambitionen ließen unterdessen auf sich warten: Korzeniowski erwarb das Kapitänspatent und erhielt zeitnah sein erstes und einziges vollgültiges Kommando. Erst die auf See gesammelten Erlebnisse und Erfahrungen, verbunden mit dem väterlichen Erbe der Lese- und Schreiblust, hatten ihn in den 1880ern angeregt, selbst schriftstellerisch tätig zu werden.
In der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts befuhr Conrad unter belgischer Flagge den Kongo bis zu den Boyomafällen. Dies war eine Reise, die in vielerlei Hinsicht folgenreich war. Nicht nur, dass sie ihm zu seinem wohl wichtigsten Werk „Heart of Darkness“ und später zu einem lawinenartigen Durchbruch verhalf, zugleich konnte er aus nächster Nähe beobachten, wie Belgiens König Leopold II. im Herzen Afrikas ein Schreckensregime errichtet hatte, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Zudem erkrankte Conrad in dieser Zeit so schwer, dass er seeuntüchtig wurde. 1894 gab er diese Laufbahn endgültig auf, um sich fortan vollends auf die literarische Tätigkeit zu konzentrieren.
Die Romane „Almayer‘s Folly“ (1895) und „An Outcast of the Islands“ (1896) waren noch von dem gegen Ende des 19. Jahrhunderts allgegenwärtigen Exotismus geprägt. Die Hauptfiguren stehen zwischen den Kulturen und offenbar auch vor unlösbaren psychischen Herausforderungen. In dem 1900 veröffentlichten Roman „Lord Jim“ nutzt der Autor erstmals die sog. Standpunkttechnik, welche die Handlungsführung prismatisch aufsplittert und die Motive allenfalls andeutet, ohne sie chronologisch darzustellen. Conrads vielleicht komplexester und nun in einer Neuübersetzung vorliegender Roman „Nostromo“ (1904) schildert wiederum die Verführbarkeit des Menschen durch materielle Interessen am Beispiel von Konflikten, die in einem südamerikanischen Silberbergwerk ausgetragen werden.
Zeitlos und prophetisch
Obwohl es an der Wende zum 20. Jahrhundert kaum neuere Errungenschaften von ähnlicher Bedeutung im Bereich der englischsprachigen Prosa gab, blieb der wirtschaftliche Erfolg im Hause Conrad vorerst aus. Erst mit dem zweiteiligen Roman „Chance“ (1913) gelang ihm der internationale Durchbruch. Doch es ist vornehmlich die Erzählung „Heart of Darkness“, auf die sich der Weltruhm des polnisch-britischen Romanciers gründet. Darin beschreibt er die eigenen traumatischen Erfahrungen, die er während der besagten Kongo-Reise machen musste. Conrad wurde für die Beförderung einer belgischen Forschungsexpedition verpflichtet, erkannte jedoch rasch, dass sie ausschließlich dem Zweck diente, dem afrikanischen Land seine „Schätze“ zu entreißen. Dass diese Erzählung den englischsprachigen Leser mit reichlicher Verspätung erreichte und deren Autor erst posthum so richtig berühmt machte, liegt vermutlich an ihrer zeitlosen und teilweise prophetischen Qualität. Im Jahr 1979 verlegte der US-amerikanische Starregisseur Francis Ford Coppola die Geschichte in den Vietnamkrieg und machte aus „Heart of Darkness“ einen der berühmtesten Filme aller Zeiten.
Die Handlung bleibt durchweg spannungsreich. Beachtlich ist zudem die präzise Wortgewalt, mit der Conrad zu erzählen vermag, obschon Englisch lediglich seine Drittsprache war. „Irgendwie hat sich der Eindruck verbreitet, ich habe zwischen dem Polnischen, Französischen und Englischen eine Wahl getroffen. Dieser Eindruck ist irrig. […] Die englische Sprache konnte von mir weder gewählt noch adoptiert werden. Ich kann es mir selbst nicht erklären. Das war ein sehr intimier Vorgang und aus eben diesem Grunde zu geheimnisvoll, um sich erklären zu lassen. Solch Unterfangen wäre ebenso aussichtslos wie der Versuch, Liebe auf den ersten Blick erklären zu wollen“, schrieb Conrad in seinen 1912 publizierten Memoiren „A Personal Record: Some Reminiscences“. Darin räumt er mit noch ganz anderen Vorurteilen auf. Wenngleich seine Prosatexte häufig einen seemännischen Hintergrund haben, verwahrte er sich stets gegen das Etikett eines „Seeschriftstellers“. Conrad bezeichnete sich selbst als einen „einfachen Beobachter“, den die menschlichen Möglichkeiten zum Guten wie zum Bösen unter dem Druck eskalierender Ereignisse und extremer Situationen beschäftigten. „Diese ‚einfache Beobachtungsgabe‘ machte Conrad zu den größten Erzählern seiner Zeit“, schrieb sein prominenter Schriftstellerkollege George Orwell.
Dschungel der Gefühle
In der Tat ist es weitaus mehr als das. In seinen Romanen und Novellen thematisiert Joseph Conrad die ewige Verstrickung von Schuld und Sühne. Da gibt es Fragmente von bemerkenswerter erzählerischer Intensität, die ein Dostojewski zuvor noch nicht erreichen konnte. Die in „Heart of Darkness“ geschilderten Ungeheuerlichkeiten sind derart schwer fassbar, dass der Autor seinen Helden Marlow wiederholt Zweifel am eigenen Auffassungsvermögen äußern und ins Zynische abgleiten lässt. Die Erzählung funktioniert dabei auf unterschiedlichen Ebenen. Vor allem aber gleicht die von Conrad beschriebene exotische Reise einer symbolischen Expedition in die Abgründe der Seele, ja in den „Dschungel“ der eigenen Gefühle und Ängste. Dieses Motiv beherrscht eigentlich all seine Texte.
Die letzten fünf Lebensjahre verbrachte Joseph Conrad mit seiner Familie im englischen Oswalds nahe Canterbury, wo er im August 1924 an Herzversagen starb. Der polnischen Kultur blieb er zeitlebens treu, autorisierte persönlich die Übersetzungen der englischen Werke in seine Muttersprache. Er gab regelmäßig Interviews, die in der polnischen Zwischenkriegspresse erschienen. Der Polnisch-Sowjetische Krieg in den Jahren 1919-20 gaben ihm Anlass zur Sorge, das anschließende „Wunder an der Weichsel“ brachte hingegen befreiende Euphorie. Die während der zaristischen Fremdherrschaft aufgerissenen Wunden waren noch nicht vernarbt. Im britischen Exil fühlte sich Conrad sichtlich wohl. Als Exilautor behauptete er sich nicht nur durch den Wechsel in eine andere Sprache, sondern ebenso dadurch, dass er auf die überzogenen Ansprüche des Fin de Siècle verzichtete und sich dezidiert von der rücksichtslosen Affirmation eines übersteigerten Künstlertums abwandte, folglich weder nach einer symbolistischen „Lebenskunst“ noch nach einer Demontage der Literatur bzw. ihrer Überführung in die Lebenspraxis strebte. In seiner Prosa setzt Conrad auf die souveräne Wahrnehmung biographischer Muster, deren Erkenntnis sich fernab von avantgardistischen Experimenten ereignet. Das macht seine Romane noch heute so lesenswert.
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“…verwahrte er sich stets gegen das Etikett eines „Seeschriftstellers.“ Das ist nicht richtig. Joseph Conrad war ein Schriftsteller, der sein Metier zum Gegenstand seines Schreibens machte, und seine Welt war die See. Sein herausragendes Werk “Spiegel der See – Erinnerungen und Eindruecke”, das auch hier leider wieder unterschlagen wurde, gilt daher auch ganz besonders als sein Markenzeichen. Er sah es selbst genau so: Zitate aus der Einleitung: “…Mit der vollkommenen Offenherzigkeit einer Beichte in der Todesstunde habe ich die Gesetze der Offenbarung, die das Meer mir geschenkt hat, blosszulegen versucht..” – “Bezwungen, doch niemals entmannt, ueberantworte ich mein Dasein dieser… Mehr