Der November ist der Monat der Gedenktage. Wie die Erinnerung an Vergangenes heute gehandhabt wird, ist auch durch die neuen Narrative bestimmt. Die Widersprüche sind auffallend, obwohl wenig beachtet.
Der traurige Monat November, durchzogen von säkularen (also zivilreligiösen) und religiösen Gedenktagen, inspiriert zu Reflexionen über Sinn, Ästhetik und Begründungen des Gedenkkalenders.
I.
Auf der abstrakten Ebene geht es um die politisch-soziale Funktion dieser dies festae und den entsprechenden Riten in Gesellschaften. Im konkreten politischen Kontext der Gegenwart richtet sich der Blick auf die Fest- und Gedenktage in den – ungeachtet aller universalistischen Deklarationen (Weltfrauentag, Weltkindertag, Tag der Menschenrechte usw.) – unterschiedlich fortbestehenden, historisch begründeten nationalen (und/oder nationalstaatlichen) Gedenktage.
II.
Die Symbolik des zivilreligiösen Gedenkens korreliert mit der modischen Begrifflichkeit des „Narrativs“ oder der „Erzählung“. Diese wiederum erfährt – in reduktionistischer Gestalt – als „Geschichtspolitik“ ihre ideologische Zwecknutzung. Hinter derlei akademisch aufgeladenen Begriffen steckt nichts anderes als die alte Erkenntnis, dass die Geisteswissenschaften – ein immer weniger geläufiger Begriff – dem jeweiligen Zeitgeist verpflichtet sind, und dass Erkenntnisinteresse nicht selten mit Machtverhältnissen verquickt ist. Nicht zuletzt gilt diese Erkenntnis der auf „Narrative“ abhebenden Modeströmung des Dekonstruktivismus. Auch die „große Erzählung“ des westlichen Universalismus bleibt von der Dekonstruktion nicht verschont, mit der Konsequenz, dass nunmehr im Zeichen der „wokeness“ partikulare Narrative universelle Gültigkeit beanspruchen. Als Quintessenz der Debatte ist festzuhalten, dass in Tradition und Wissenschaft inkongruente Fakten, erst recht mindere historische Details zugunsten der dominanten „Erzählung“ geglättet oder ausgelassen werden.
Weitab von akademischen Diskursen, auf der Ebene politischer Realität, erleben wir den Widerspruch zwischen universalistischen Proklamationen und divergierenden Bewusstseinsinhalten im Alltag der zusehends multiethnischen – und/oder multikulturellen – westlichen Gesellschaften. Ein eklatantes Beispiel für ideologische Ungereimtheiten liefert wiederum der Ukraine-Krieg: Das – historisch-kulturell begründete – Selbstverständnis der Ukraine als eigenständige, freiheitsliebende Nation wird von deutschen – ansonsten allen nationalhistorischen „Erzählungen“, sprich: Traditionen abgeneigten – Linksliberalen und Grünen als unzweifelhaftes Bekenntnis zur liberalen Demokratie akzeptiert und aufgewertet. Bei einem – von der Kulturstaatssekretärin Claudia Roth persönlich beehrten – Solidaritätskonzert in der Berliner Philharmonie erhob sich bei Intonation der ukrainischen Nationalhymne andächtig das postnationale, postheroische deutsche Publikum.
Die aktuelle Debatte um fehlgeleiteten Pazifismus und notwendige Parteinahme in einem „gerechten“ Verteidigungskrieg offenbart das spezifisch deutsche Dilemma: Mit gutem und – unter Verweis auf den Zweiten Weltkrieg – schlechtem Gewissen sollen „wir Deutsche“ uns moralisch erweisen, indem wir der Ukraine hinreichend schlagkräftige Waffen liefern.
III.
Krieg heißt Bereitschaft zu töten, zu verletzen und verletzt oder getötet zu werden. Kriegshandeln ist bereits seit dem Kosovo-Krieg 1999 auch für Deutsche wieder erlaubt, ja gemäß der damaligen Auschwitz-Rhetorik des Außenministers Fischer und des Verteidigungsministers Scharping historisch und politisch-moralisch geboten. Seit dem fehlgeschlagenen, politisch sinnlosen Nato-Einsatz in Afghanistan sind auch wieder deutsche Soldaten als opferbereite Gefallene zu beklagen.
Und auch zu ehren. Am 14. November 2022, dem diesjährigen – terminologisch noch fortbestehenden – Volkstrauertag ehrte die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht an einer Gedenkstätte, gelegen in Schwielowsee bei Potsdam (!), mit Kränzen die neunundfünfzig in Afghanistan zu Tode gekommenen Bundeswehrsoldaten. Die Gedenkstätte besteht aus einem von einer mit Namen der Toten versehenen Gedenkmauer, davor ein großer Felsblock mit einer Plakette. Die mit Blütenzweigen versehene Tafel trägt diverse Aufschriften. Sie ist dem Gedenken „an unsere toten Kameraden“ gewidmet, das von einer eindeutig christlich-religiösen Formel („In Deine Hände befehle ich meinen Geist“) unterlegt ist. Darunter heißt es in bündnistreuer Nato-Sprache: „Lest we forget“. Ganz unten befinden sich – etwa als Zeichen der Solidarität für die ungezählten afghanischen Opfer der gescheiterten, im Gefolge von Präsident Joe Biden abgebrochenen demokratischen Befriedungsaktion ? – zwei Zeilen in arabischen Schriftzeichen.
Die Symbolik nötigt zum Nachdenken über deutsches Gedenken bezüglich der jüngsten Vergangenheit und der von multiethnischer Vielfalt geprägten Zukunft: Wie passt derlei zeitgenössisches Gedenken mit der „uns Deutsche“ – nicht etwa alle Bundesbürger – bedrückenden Geschichte im 20. Jahrhundert zusammen? Lest we forget.
IV.
Der zentrale Gedenktag im deutschen Geschichtskalender ist der 9. November. Der Vorschlag, den Tag zum Nationalfeiertag zu erheben, wurde zugunsten des 3. Oktober, dem Tag der staatlichen Wiedervereinigung 1990, ad acta gelegt. Als Nationalfeiertag hätte sich das betreffende Datum ungeachtet des deutschen Glückstags anno 1989 als wenig geeignet erwiesen. Das Gedenken an die Novemberpogrome im Jahre 1938 überlagert längst wieder die Erinnerung an den Mauerfall. Kein Grund zum Feiern.
Es ist hier nicht der Ort, das Geschichtsnarrativ bezüglich der in ganz Deutschland (samt „angeschlossenem“ Österreich) allgemein verbreiteten Pogromstimmung in jenen Novembertagen 1938 genauer zu beleuchten. Die Quellen und die Bilder dokumentieren die zahllosen Szenen mörderischer Gewalt, von Teilnahmslosigkeit angesichts der vor aller Augen stattfindenden Verbrechen, aber auch von erkennbarer Ablehnung bis hin zu stummem Entsetzen.
V.
Ich habe lange gezögert, die nachfolgene Episode aus dem Leben meiner Eltern öffentlich zu machen. Ich tue dies im Gedenken an meine Eltern sowie aus einer gewissen Verantwortung heraus, ein historisches Detail nicht im Orkus des Vergessens verschwinden zu lassen. Meine Mutter (gest.1992) erinnerte sich genau an jenen Tag in Duisburg, als mein Vater Dr. Christian Ammon spätabends von der Arbeit (als Chemiker in einem Industriebetrieb) nach Hause kam und berichtete, in der Stadt und in der weiteren Umgebung des Ruhrgebiets seien die Synagogen in Brand gesetzt worden. Bald werde dies auch „mit unseren Kirchen“ geschehen. Am nächsten Tag, dem 10. November 1938, erlebte er, wie sich der Mob auf den Straßen austobte. Dabei erblickte er eine Bande von Männern, die eine Frau an den Haaren über den Rinnstein zerrte. Er ging auf die Gruppe zu und herrschte sie „als deutscher Offizier des Weltkriegs“ an, von der Frau abzulassen. Von derlei Intervention überrascht, machten sich die Pogromhelden davon, während er der Frau aufhalf.
Mein Vater, ehedem Anhänger der linksliberalen Deutschen Staatspartei, hatte sich nie Illusionen über Hitler und den Nazismus gemacht. In den dreißiger Jahren ventilierte er die Chancen einer Emigration. Er gehörte keiner aktiven Widerstandsgruppe an, bewegte sich indes im Umfeld des Goerdeler-Kreises. Nach einer Anzeige wegen defätistischer und „wehrkraftzersetzender“ Bemerkungen landete er anno 1943 (?) vor dem Sondergericht Bayreuth, wo er dank Geschick seines Verteidigers mit einem Freispruch davonkam. Zum „Volkssturm“ einberufen, stand er Ende Januar/Anfang Februar 1945 in meiner Geburtsstadt Brieg (Niederschlesien) Posten gegen die anrückende Rote Armee unter General Konjew. Er galt seither als „vermisst“. Nach Rücksprache mit mir verfasste die Mutter in meinem Abiturjahr 1962 die Todeserklärung.
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Gedenktage sind oft Tage des Gedenkens an Siege und Niederlagen, an neue und untergegangene Chancen, sehr oft zum Preis persönlicher Opfer, bis zum Tod. Die Reichspogromnacht ist sicher kein Tag, der mit einer Feier verbunden werden könnte, sicher aber mit Gedenken – an die Opfer und das Unrecht und die dafür politisch verantwortlichen. Dass es die Ironie der Geschichte oder des Schicksals wollte, daß viele Jahre später an gleichen Datum die Mauer fiel, löste ein politisches Dilemma aus. Der Mauerfall war zweifellos ein historischer Tag, ein sehr positiver, zumal sich Geschichte ihren Weg bahnte, eher ausnahmsweise ohne Blutbad und Tote.… Mehr
Charles de Gaulle soll einmal gesagt haben, die Größe einer Nation zeigt sich, wie sie mit den Toten ihrer verlorenen Kriege umgeht!!
Ich darf ein Gedenken noch dazu tun: in der zweiten November-Hälfte 1942, also vor 80 Jahren, schloß sich im Rahmen der sowjetischen Gegenoffensive der Kessel um die deutschen Truppen in Stalingrad. Die Historie verzeichnet, auf beiden Seiten, über 2 Millionen Soldaten. Von diesen sind bis an eine Dreiviertel-Million durch die Kämpfe, Verhungern oder Erfrieren ums Leben gekommen. An die 110.000 überlebenden Deutschen gingen in sowjetische Gefangenschaft. Keine 6000 kehrten, teilweise erst 12 Jahre später, wieder nach Hause zurück. Die Verluste in der Zivilbevölkerung gingen ebenfalls in die Hunderttausende. Das Bild der in die Gefangenschaft gehenden Soldaten, dieses sich in der… Mehr
An „für nichts und wieder nichts“ würde ich einen kleinen Widerspruch anfügen wollen. In Kriegen gibt es bekanntlich fast immer Sieger und Verlierer, aber beide Seiten zahlen meist in Leben, mit Blut. Wenn es schon zu Krieg oder Kampf allgemein kommt, sollte man immer als Sieger daraus hervorgehen, Niederlagen sind immer schlecht zu rechtfertigen, Tote umso schlechter. Diese Binsenweisheit ist weder neu noch originell und dennoch richtig. Geschichte schreiben die Sieger, sie entscheiden was „gut“ und „richtig“ war. Ob und was auch immer gut und richtig war, ist aus der Position des Unterlegenen schwer durchsetzbar und damit eher nur Quell… Mehr