Tichys Einblick
16000 Unterschriften für die Meinungsfreiheit

Nicht nur der Staat kann die Meinungsfreiheit gefährden

Der „Appell für freie Debattenräume“ hat eine gewaltige Resonanz ausgelöst. Mancher Kritiker stellt sich leider absichtlich dumm. Die Meinungsfreiheit und selbst die Demokratie sind massiv gefährdet - nicht durch den Staat, sondern aus der Gesellschaft selbst. Der Staat muss die Freiheit aktiv schützen.

shutterstock/Zenza Flarini

Der „Appell für freie Debattenräume“, den der Schweizer Publizist Milosz Matuschek vor gut einem Monat vorstellte, hat ein großes Echo gefunden. Zahlreiche Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler und Publizisten sowie Tausende normale Bürger haben unterzeichnet. Auf der seit dieser Woche veröffentlichten Liste der Unterstützer sind mehr als 16.000 Namen von bestätigten Unterzeichnern dokumentiert. Am Erfolg des Appells zeigt sich, wie breit die zunehmende Einengung der Meinungsfreiheit und die freiheitsfeindliche „Cancel Culture“ inzwischen wahrgenommen werden. Es bildet sich eine Gegenbewegung.

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„Befreien wir das freie Denken aus dem Würgegriff“, so beginnt der Appell. „Absagen, löschen, zensieren: seit einigen Jahren macht sich ein Ungeist breit, der das freie Denken und Sprechen in den Würgegriff nimmt und die Grundlage des freien Austauschs von Ideen und Argumenten untergräbt“, heißt es weiter. „Der Meinungskorridor wird verengt, Informationsinseln versinken, Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens werden stummgeschaltet und stigmatisiert.“

Bemerkenswert ist, welche Prominenten zu den 200 Erstunterzeichnern zählen: Nicht nur Dutzende Professoren von Ulrike Ackermann und Norbert Bolz bis Michael Zöller, sondern auch so unterschiedliche Schriftsteller wie Hamed Abdel-Samad, Asfa-Wossen Asserate, Monika Maron und Cora Stephan, Ilija Trojanow, Günther Wallraff und Uwe Tellkamp, dazu noch zahlreiche Journalisten und Publizisten. Und sogar der britische Komiker John Cleese von Monty Python unterstützt den Appell, er hat auf der Insel ebenfalls mit einer zunehmend rigiden „Political Correctness“ zu kämpfen, die sogar schon dazu geführt hat, dass alte Sketche von Cleese als angeblich „rassistisch“ gecancelt werden sollten. Erstaunlich ist, dass auch Wolfgang Thierse (SPD) auf der Liste der Appell-Unterstützer steht.

Zuvor gab es die schon üblichen Diffamierungsversuche von links, etwa in der Süddeutschen Zeitung. Diese bezeichnete den Appell als „obskur“ und schloss mit der sauertöpfischen Bemerkung: „Dass sich trotzdem nun auch Liberale und Linke, denen redlich an der Meinungsfreiheit gelegen ist, für die Belange der Rechten einsetzen, ist für die Initiatoren ein schöner Diskurserfolg.“ 

Auch in der Taz behauptete eine Redakteurin, der Appell sei von „Rechten und Konservativen“ getragen und „voll Verfolgungswahn“. Es ist die übliche Masche, den politisch-geistigen Gegner zu pathologisieren oder ins Lächerliche zu ziehen, statt ernsthaft zu diskutieren.

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Mehr Substanz hat die juristische Analyse, die der Staatsrechtler Bodo Pieroth (Universität Münster) in einem Gastbeitrag in der FAZ unter dem Titel „Bedrohte Meinungsfreiheit“ ausgebreitet hat.

Er gräbt tiefer, aber letztlich greift er zu kurz. Immerhin sieht Pieroth mit Bernhard Schlink eine „‘Engführung des Mainstreams‘ bezüglich der akzeptierten oder wenigstens gelittenen Meinungen Andersdenkender im heutigen Deutschland“ und spricht sich grundsätzlich für eine „Öffnung der Kommunikation …, auch mit abgelehnten und schwer erträglichen Meinungen, statt einer reflexartigen ideologischen Abwehr“ aus.

Aber seine juristische Analyse hat an einigen Stellen eben doch entscheidende Mängel. Laut Pieroth besteht Meinungsfreiheit dann, wenn der Staat nicht unzulässig eingreift. „Vom Staat geht kaum Gefahr aus“, heißt es schon im Vorspann. Doch es ist viel zu oberflächlich betrachtet, nur offensichtliche staatliche Eingriffe in die Meinungs-, Informations-, Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit (nach Artikel 5 Grundgesetz) zu monieren. Eine Zensur in diesem Sinne findet nicht statt. Aber die faktische Zensur findet eben doch auf vielfältige Weise statt.

Pieroth sieht es als problematisch an, wenn der AStA einer Universität (als Organ einer Gliedkörperschaft der Hochschule selbst Teil der öffentlichen Gewalt) eine Studentenverbindung angreift oder wenn ein Uni-Rektor Maßnahmen gegen ein Seminar mit Thilo Sarrazin ergreift oder „wenn eine Berufungskommission einen Bewerber deshalb nicht berücksichtigt, weil er vor ‚falschem‘ Publikum vorgetragen oder in einem ‚falschen‘ Organ publiziert hat, sind das nicht zu rechtfertigende Eingriffe und damit Verletzungen der Meinungs- bzw. Wissenschaftsfreiheit“.

Aber Pieroth wendet sich dann vor allem privatrechtlichen Überlegungen zu und argumentiert hier in eher oberflächlicher, fast schon naiver Weise: „Es ist die Freiheit von Veranstaltern, diejenigen Kabarettisten einzuladen, die man hören möchte [er spielt hier auf den Fall Lisa Eckhart an, die in Hamburg ausgeladen wurde], und die Freiheit der Verlage, Verträge mit denjenigen abzuschließen oder Verträge zu kündigen, die man verlegen und veröffentlichen will oder eben auch nicht.“ Der Fall Lisa Eckhart zeigt exemplarisch, dass ihre Ausladung vom Hamburger Literaturfestival eben keine „freie Entscheidung“ des Veranstalters war, sondern auf Druck und Drohungen und Einschüchterung zurückgeht. 

Die Hamburger Veranstalter hatten Angst, dass linke Extremisten und die Antifa ihnen das Haus beschädigen oder die Veranstaltung sonstwie angreifen. 

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Es gibt zig Fälle, gut dokumentiert, von Übergriffen, Angriffen und Drohungen gegen Veranstalter, Hotels oder Gastwirte (Angriffe und Drohungen meist von der Antifa), wenn diese „politisch nicht genehme“ Redner oder Parteien auftreten lassen. Besonders die AfD kann davon ein Lied singen. Ihr stehen inzwischen kaum noch Veranstaltungsräume zur Verfügung, weil Wirte systematisch bedroht und eingeschüchtert wurden. 

Die Berliner Antifa zitierte stolz den Artikel: „Wer die AfD bewirtet, muss mit Glasbruch rechnen.“ (https://www.antifa-berlin.info/news/1574-wer-die-afd-bewirtet-muss-mit-glasbruch-rechnen) 

Damit ist der grundgesetzlich geforderte und angeblich garantierte faire Parteienwettbewerb massiv gestört und die Demokratie beschädigt.

Wenn Pieroth sich auf den Standpunkt zurückzieht, dass der Staat selbst nicht zensiere, dies Private aber durchaus tun dürfen, dann übersieht er, dass ein Klima der Einschüchterung faktisch zu einer flächendeckenden Zensur und Demokratiebeschädigung führen kann.

Der Marburger Staatsrechtler Sebastian Müller-Franken hat in einer feinen Schrift „Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat“ (Schönburger Gespräche zu Recht und Staat, Schöningh Verlag, 2013) sehr viel differenzierter das Spannungsfeld der Meinungsfreiheit analysiert und die Pflichten des freiheitlichen Staates analysiert. Die Meinungsfreiheit ist einerseits ein klassisches liberales Abwehrrecht – das heißt: Der Staat darf nicht Zensur ausüben. Aber andererseits darf der Staat auch nicht die Hände in den Schoß legen und so tun, als merke er nicht, wenn organisierte Gruppen der sogenannten „Zivilgesellschaft“ durch Kampagnen und sozialen Druck faktisch die Meinungsfreiheit einschränken. „Stellen sich die für sein Gelingen notwendigen gesellschaftlichen Aktivitäten nicht ein, stößt das Konzept der negativen Freiheit an seine Grenzen“, schreibt Müller-Franken.

Wenn das Meinungsklima faktisch so stickig ist und ein erheblicher Teil der Bürger sich fürchtet, offen ihre Meinung zu heiklen Themen zu sagen (laut Allensbach-Umfragen ist das so), dann läuft etwas schief und es ist etwas faul im angeblich freiheitlichen Staat. Müller-Franken verweist auf mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 35, 205, 225), in denen die Richter dem Staat die Pflicht aufgeben, für ein freiheitliches Klima zu sorgen, ohne das die freie Rede „nicht denkbar“ ist.

So wäre es die Aufgabe des Staates dafür zu sorgen, dass systematische Einschüchterung durch die Antifa beendet wird, dass Demonstrationen ohne Übergriffe aggressiver Gegendemonstranten stattfinden, dass ein Literaturfestival nicht aus Angst eine Kabarettistin auslädt, dass nicht ein Chef einer Filmförderung wegen eines privaten Mittagessens mit dem AfD-Vorsitzenden seinen Job verliert, dass an den Universitäten nicht ein Klima herrscht, in dem ein Vortrag von Thilo Sarrazin zur ultimativen Mutprobe wird.

Der „Appell für freie Debattenräume“ ist ein Weckruf in dunkler Zeit. Er trifft einen wunden Punkt. Wir erleben möglicherweise gerade den Kipppunkt, an dem eine einst freiheitliche Gesellschaft in einen (noch sanften) Totalitarismus umschlägt.

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