Lassen wir uns vom Rummel um die Elbphilharmonie nicht von der Musik ablenken. Klassische Musik ist Medizin gegen die Oberflächlichkeit des Zeitgeistes. Eine Arie von Bach berührt die Menschen heute wie vor 300 Jahren. Ein Plädoyer für Musikerziehung.
Da in die Elbphilharmonie so viel „verbaut“ worden ist, meinte der Bundespräsident mit spöttischer Miene, sollte sie doch bitte nicht bloß einem „kleinen Teil der deutschen Gesellschaft“ dienen. Klassik: Übersubventioniertes Minderheitenprogramm für Besserverdienende. Sind nicht Kitaplätze, Wohnungen für Flüchtlinge, Polizisten wichtiger als Konzertsäle? Wie solche Verschwendung begründen, wenn das Klassikpublikum immer kleiner wird?
I.
Für Joachim Gauck ist dies eine Frage der Gerechtigkeit. Klarer Fall: Elphi ist ungerecht, Elphi ist ein Eliteding. Der präsidiale Satz zur feierlichen Eröffnung verrät jenes gestörte Verhältnis zur klassischen Musik, das auch Rundfunkintendanten zeigen, denen die Klassik am Quotenarsch vorbeigeht, auch wenn sie sich für´s Image noch immer ein Orchester halten.
Präsidialer Auftrag an die Elphi-Betreiber: „Junge Menschen für klassische Musik zu begeistern“. Eine Mahnung so wohlfeil wie realitätsfremd. Selbst der schönste und teuerste Konzertsaal der Welt kann das nicht leisten. Denn die abnehmende Bedeutung der klassischen Musik ist keine Folge mangelnder Attraktivität, sondern eine Folge jener Bildungskatastrophe, die den Regierenden so schnurz ist wie ein Madrigal von Palestrina. Was nicht weiter zu bedauern wäre, wäre Klassik nur totes Bildungsgut und Entertainment für die gehobenen Stände.
II.
Man muss es ständig wiederholen: Wer musiziert, erwirbt und trainiert kognitive wie soziale Fähigkeiten. Das Zusammenspiel von hundert Musikern in einem Orchester mit zwanzig verschiedenen Instrumenten ist ein wunderbares Modell von Gesellschaft. Aufeinander Hören ist so wichtig wie sich selbst zu Gehör bringen. Auf die Balance kommt es an. Auf die Ausdrucksfreiheit des Einzelnen in der Ordnung des Ganzen. Auf den Wert der Vielstimmigkeit, die Regeln folgt. Auf die Spannung zwischen Harmonie und Dissonanz. Auf das Zusammenführen hochspezialisierter Individuen. Der Dirigent ist als einziger nicht zu hören, aber er organisiert den Klang, bündelt die Intentionen. Ein Vorbild für modernes Führen in Netzwerken. Alle spielen dasselbe Stück, doch nur der Klangkörper als Organismus bringt individuelle Höchstleistungen zur Geltung. So macht Klassik Zuhörer buchstäblich hellhörig.
Bildungsbürgerlicher Quatsch? Ich weiß schon: Der Bildungsbürger ist von vorgestern. Debattiert wird allenfalls noch über den Verfall der Sprachkultur und den Verlust mathematischer Grundfertigkeiten. Die Schulen sind ohnehin überfordert mit allem, was ihnen eine zu Tode amüsierte Gesellschaft aufhalst. Was zählt da noch die Vernachlässigung der musischen Erziehung? Der Nivellierung des Bildungsniveaus sind Musizieren, Singen, das Beherrschen eines Instruments als erstes zum Opfer gefallen. Man hält zwar Leibesübungen für unverzichtbar, es schont schließlich die Krankenkassen, wozu aber wäre ein bewegliches Gehirn noch gut?
III.
Das Gehirn soll möglichst nicht bewegt werden. Deshalb muss alles unterhaltsam sein. Und als Unterhaltung wird nur noch akzeptiert, was vollkommen anstrengungslos und voraussetzungslos zur Berieselung taugt. Die hohe Zeit der klassischen Musik war jene, als U und E noch nicht voneinander geschieden waren. In der Epoche der Popkultur lassen wir uns einreden, alles sei bloß noch eine Frage des Geschmacks. Also sei alles gleich viel wert, nichts zu bevorzugen. Wer Klassik bevorzugt, diskriminiert. Und das geht gar nicht.
Wenn aber alles gleich viel zählt, das Triviale wie das Tiefe, die Alltagskultur wie die Hochkultur, kommt es nicht mehr auf die Substanz der Kunst an, sondern nur noch auf ihren Marktwert. Klassik widersetzt sich dem Massengeschmack, es geht nicht anders, sonst würde sie ihren Wert verlieren, und übrig bliebe bloß der Preis. Ohne Hochkultur hätten wir nichts, was uns lehren könnte, das Wichtige vom Unwichtigen, das Wertvolle vom Wertlosen zu unterscheiden. Wenn alles gleichwertig ist, ist am Ende auch alles gleichgültig. Aber genau das wäre der Wert ästhetischer Erziehung, dass sie unterscheiden lehrt, Kritikfähigkeit stärkt. Dies schaffen nicht glänzende Säle; es ist eine mühsame Erziehungsaufgabe.
IV.
Kultur sollte, so Mario Vargas Llosa, das Gemeinsame in einer fragmentierten Gesellschaft sein. Das zunehmende Desinteresse an Klassik ist Ausdruck davon, wie es mit dem Gemeinsamen steht. Es zählt allein, was die Massen anspricht. Die Medien, auch, solche, die sich für Qualitätspresse halten, beteiligen sich an der Massenverblödung. Das Dschungelcamp bekommt in Feuilletons längst mehr Raum als etwa wichtige Musikwettbewerbe. Dem ZDF ist das Hard-Rockfestival in Wacken mehr wert als die Bayreuther Festspiele.
Aber widerlegt Elphi nicht die Kulturpessimisten? Die Eröffnung des Saals wurde doch wochenlang begangen! Begeistert, ja geradezu süchtig nach Elphi waren alle Medien. Hochkultur, plötzlich massentauglich, dank Elphi. Wirklich? Die Idiotie eines so gefallsüchtigen wie sensationsgierigen Kulturjournalismus war zur Eröffnung der Elbphilharmonie gut zu erkennen. Nach der skandalösen Baugeschichte waren die Erwartungen ins Unermessliche gestiegen. Jetzt hatte Elphi zu liefern. Der Verschwendung folgte der Größenwahn auf dem Fuß.
Alles andere als die absolut total beste Akustik der Welt war nun gar nicht mehr erlaubt. So vorprogrammiert, strömten die Kritiker zum Eröffnungskonzert. Die Hybris der Veranstalter platzierte sie nicht wie gewohnt auf beste Plätze, weil andere als beste Plätze sollte es gar nicht mehr geben im neuen Wundersaal. Sie und die Öffentlichkeit sollten sich am Mirakel der Akustik delektieren, als sei die Musik selbst nur noch ein Nebeneffekt des Klangs im grandiosen Raum. Wie absurd! Und wie schön zu erfahren: Kein Geld der Welt kann die beste Akustik der Welt herbei befehlen kann. Kein Saal der Welt kann für jeden Zuschauer und für jeden Klangkörper und für jede Art von Musik die selbe unstreitig beste Akustik produzieren. Außer in Hamburg, davon war man in Hamburg überzeugt. Umso größer die Enttäuschung, dass dies nicht auf Anhieb gelingen wollte. Massiven Klangmassen bietet der Saal zu wenig Luft. Wenn tatsächlich alles zu hören ist, dann auch der kleinste Misston. Ziemlich viele Misstöne standen nun in der Zeitung.
V.
Lassen wir uns vom Rummel um einen Saal nicht von der Musik ablenken. Klassische Musik ist Medizin gegen die Oberflächlichkeit des Zeitgeistes. Sie besitzt eine unvergängliche Kraft. Eine Arie von Bach ist nicht weniger „aktuell“ als ein Stück von heute, berührt die Menschen heute wie vor dreihundert Jahren. Und noch etwas: Wer dauernd über abendländische Werte labert und den Musikunterricht in den Schulen streicht, hat nichts kapiert.
Die deutsche Kultur (die Österreich einschließt) hat der Welt auf keinem Gebiet Größeres geschenkt als auf dem der Musik. Andere haben Chopin, Purcell, Bizet, Chopin, Verdi und Tschaikowski hervorgebracht, aber nicht die unfassbare Fülle an Genie von Bach über Mozart und Beethoven zu Wagner und Mahler. In der Literatur mögen trotz Goethe oder Mann England und Frankreich überlegen sein, in der bildenden Kunst trotz Dürer Italien. Die deutsche Domäne ist die Musik – eine universelle Sprache. Mit den Werken der Komponisten ist es nicht getan. 130 Profiorchester gibt es in Deutschland, noch immer, und so viele Opernhäuser wie auf der übrigen Welt zusammen. Manche Gründe dafür liegen auf der Hand: Konkurrenz belebt das Geschäft. Die Leistungsdichte ist nirgendwo so hoch – weil die besten Musiker der Welt in Deutschland spielen, so wie die besten Fußballer in England und Spanien. Die so viel gescholtene Kleinstaaterei war ein Glück für die Musik. Ihr ist die Fülle an Musiktheatern und Klangkörpern zu verdanken, die bis heute bestehen.
VI.
Noch leisten wir uns das. Wir freuen uns über den teuersten Konzertsaal der Welt, gewiss. Doch Elphi ist Blendwerk. Klassik als quotenträchtige Eventmaschine, als Wachstumsbranche der Unterhaltungsindustrie zu verstehen, wäre Traumtänzerei. Das Gewicht der klassischen Musik vermitteln nicht Säle, sondern Eltern, Bildungseinrichtungen, Medien. Die Basis der Musikkultur ist das Musizieren. Wer den Stellenwert der Musik heben will, sollte in Musikunterricht investieren, nicht bloß in Säle. Wer an die Macht der Musik glaubt, muss fordern: Macht Musik!
Dieser Beitrag ist auch in der aktuellen Ausgabe von Tichys Einblick Print erschienen:
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