Mehr Zivilisation im Orient, mehr Tradition für den Westen

Wie ist die globale Komplexität zu bewältigen? Im Westen durch die Rekultivierung der Zivilisation, durch einen Konservativismus, der die Interessen der kleinen lokalen Leute gegen die Maximierungsstrategien der großen globalen Leute schützt. Im Orient ist dagegen die Zivilisierung der Kulturen nötig. Von Heinz Theisen 

Die Globalisierung und eine weltgeschichtlich einmalige Wohlstandssteigerung sind ein Werk des Westens. Aber es waren nicht die Werte und Strukturen des Westens, sondern seine wissensbasierten Funktionssysteme, die das möglich gemacht haben. Die alten Konflikte zwischen Sozialismus oder Kapitalismus spielen nur noch eine Nebenrolle. Längst ist der Kapitalismus nicht nur das herrschende, sondern nahezu das einzige sozioökonomische System auf der Welt. 

Das Zeitalter der Ideologien ist insbesondere in den zurückgebliebenen Weltteilen wie der islamischen Welt und Afrika jedoch in das der Identitäten umgeschlagen, einer mal religiösen, mal ethnischen Pop-Variante des Kulturalismus. Die Orientierung an vorgegebenen Identitäten wäre durch ein hochkulturelles, eigenständiges Denken überwindbar. Damit wäre zugleich eine Voraussetzung für den Aufbau von Zivilisation gelegt.  

Die früher fast selbstverständliche Zuschreibung „westliche“ Zivilisation ist durch den Aufstieg Chinas und anderer ost- und südostasiatischer Staaten nicht mehr zeitgemäß. Zwar erfolgte auch der Aufstieg Asiens aus der Übernahme der westlichen wissensbasierten Funktionssysteme – vor allem von Wissenschaft, Technologie und Marktwirtschaft. Längst gelten asiatische Mächte den westlichen als ebenbürtig. Der gemeinsame Anteil an der globalen Produktion liegt bei achtzig Prozent. 

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Rivalitäten zwischen dem liberalen westlichen und insbesondere dem politischen Kapitalismus Chinas sind kaum noch weltanschaulicher Art, sondern bei ihnen geht es vornehmlich um Information und Marktzugänge. Trotz ihre Rivalitäten unterhalten beide Zivilisationskreise über Daten- und Produktströme, Investitionen, Technologietransfers und Arbeitskräfteaustausch eine Flut gegenseitiger Kontakte. Konkurrenz und Kooperation verbinden sich zu einer Art „Coopetition“, statt um Freunde oder Feinde handelt es sich um „Frenemies“. Keine heile, aber immerhin eine so interdependente Welt, dass direkte Kriegshandlungen zwischen ihnen wenig wahrscheinlich sind. Sie müssen zugleich in Konkurrenz, Koexistenz und Kooperation leben. Für die Einhegung der oft nur sozialdarwinistisch motivierten Rivalitäten wird eine Rückbesinnung auf die Schätze und höheren Aufgaben der Kulturen – auf beiden Seiten – notwendig sein. 

Algorithmen dienen dem Erkennen von Mustern. Sie können damit idealerweise Komplexität auf handhabbare Zusammenhänge reduzieren. Die zunehmende Digitalisierung von Produkten, Produktionsabläufen und selbst von gesellschaftlichen Prozessen könnte die im politischen Diskurs gängigen allzu direkten Kausalitäten zurückdrängen und Schuldzuweisungen in neuen Komplexitäten aufheben helfen. 

Mit dem berechtigten Bashing einer nationalistisch gesteuerten Wirtschaft Chinas darf aber nicht der liberale Kapitalismus des Westens aus seinen Gemeinwohlpflichten entlassen werden. Gegenüber dem Digital-Kapitalismus einer Ausbeutung von persönlichen Daten und der global agierenden Zertrümmerung lokaler Geschäfts- und Lebenswelten wäre mehr politischer Kapitalismus durchaus angemessen. 

Ein nationaler Liberalismus, der die Freiheiten von Einzelhändlern schützt, wäre humaner als ein globaler Liberalismus, der diese Freiheiten seinen weltweiten Maximierungsstrategien opfert. Am besten wäre ein Konservativismus, der die liberalen, sozialen und ökologischen Interessen der kleinen lokalen Leute gegen die Maximierungsstrategien der großen globalen Leute schützt. Diese neue, ziemlich komplexe sozial-liberal-ökologische Schutzfunktion konservativer Kapitalisten führt die alten Links-Rechts-Reduktionen ad absurdum. 

Mit ihrer Gleichheitsideologie unterläuft die globale Linke diese Komplexität auf utopistische Weise, während Isolationisten wie die Brexiteers in Großbritannien dies auf regressive Weise tun. Am ehesten würde dem stattdessen ein ganzheitliches Kulturverständnis gerecht, welches die Lebenswelt in ihren unterschiedlichen Facetten nicht zu beherrschen, aber zu berücksichtigen versucht, indem es sich ihnen gegenüber als offen erweist. Dieser Komplexitätserfassung, die einer Regierung oder einem Parlament längst unmöglich geworden sind, könnten die Muster der Algorithmen zu Hilfe kommen.     

Der Nahe Osten im Kampf um die Zivilisation  

Wie weit die Welt noch von einer wissensbasierten Weltzivilisation entfernt ist, lehrt der Nahe Osten. Dort herrscht kein dominierender Machtpol vor, sondern wie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg konkurrieren mehrere Mächte: der Iran, Saudi-Arabien, die Türkei und Ägypten. Diese verbinden sich zu ihrer Legitimation mit Konfessionen oder Ethnien. Keine der Mächte ist stark genug für die regionale Dominanz. Die Konflikte können darum auf Dauer nur durch ein anderes Paradigma befriedet werden, nämlich das der Zivilisierung – wie in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Verstrickungen des Westens in den Nahen Osten erklären sich sowohl aus seinem Ölbedarf als auch aus seinen universalistischen Werten, mit denen er seine Interventionen rechtfertigte. Diese haben dortige Clankulturen und religiöse Dominanzansprüche in Frage gestellt und darüber deren Identitätswahn bis hin zum Islamismus angefeuert. Eine Zivilisierung dieser Kulturen muss – sofern sie denn erwünscht ist – statt von außen von innen erfolgen.  

Von daher war der Rückzug der USA aus dem Nahen Osten überfällig. Das Machtvakuum wird allerdings sowohl durch Warlords von innen als auch von neuen Mächten wie der Türkei und Russland gefüllt. Ökonomisch wurde der Rückzug des Westens erleichtert, weil wir durch das Know-how bei Kernenergie, alternativer Energien bis hin zum Fracking energiepolitisch vom Nahen Osten unabhängiger geworden sind. 

Die USA sind darüber vom Universalismus zu den Strategien des Kalten Krieges zurückgekehrt: zur Eindämmung des totalitären Iran mit Unterstützung autoritärer Regime, insbesondere Saudi-Arabiens. Für den Nato-Verbündeten Türkei als Querschläger ist in dieser Strategie kein Platz.  

Israel verfügt aufgrund seiner Kultur und seiner Vernetzungen über alle Zugänge zur wissensbasierten Zivilisation. Es vermochte sich der gewaltigen Übermacht der arabischen Welt zu erwehren, die Wirtschaft zu entwickeln und zugleich Wüsten zu begrünen. Vor allem die letztere Kunst wäre für seine Nachbarn wichtiger als der Alleinbesitz heiliger Stätten. 

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Wüsten, Trockengebiete und Steppen der Erde breiten sich weltweit aus – jedes Jahr um eine Fläche, die ungefähr der Größe Deutschlands entspricht. Der israelische Schriftsteller Chaim Noll sieht eine Tragödie unserer Tage darin, dass dem Westen alle technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten gegeben sind, um die Wüstengebiete der Erde in ein zivilisiertes, lebensfähiges und mit moderner Infra-Struktur versehenes Ambiente zu verwandeln. Millionen in Lagern lebenden Menschen könnten erträgliche Lebensumstände verschafft werden. Bisher verharren aber die meisten Wüstenstaaten in innovationsfeindlichen Strukturen oder fallen sogar in Bürgerkriege zurück.

Auf die Bedrohung durch die Wüste gebe es – so Chaim Noll – zwei Antworten: Flucht oder Widerstehen. Neben den Landschaften der Versteppung und Desertifikation stünden hunderte Projekte bereit, Wüsten zu bewässern und sie für Menschen bewohnbar zu machen. Technologien, die die Segen der Wüste – weite Räume, Sonnenenergie, fruchtbare, mineralhaltige Böden, unterirdische Gewässer – für die Völker der Region in praktische Hilfe verwandeln, wurden längst entwickelt und zeitigen in Israel erstaunliche Wirkungen. 

Die Hinwendung arabischer Staaten zu dem früheren, entlang kulturalistischer Kriterien zum Todfeind erklärten Israel, ist Ausfluss eines Paradigmenwandels, wonach es nicht um den bloßen Besitzanspruch auf Land, sondern um die Art und Weise von dessen Bearbeitung geht. Auch die Konflikte über Demokratie und Diktatur werden im neuen Paradigma der Zivilisierung unwichtiger.  

Die Kooperation zwischen Israel und einigen Staaten der arabischen Welt könnte einen neuen stabilisierenden Machtpol schaffen. Die Notwendigkeit der Eindämmung des theokratischen Irans und der Muslimbruderschaften unter der Führerschaft Erdogans stand dabei Pate. Deren Islamismus steht einer säkularen Trennung von Religion und Politik und damit auch der Selbstständigkeit von Funktionssystemen entgegen. Der Paradigmenwandel zur Zivilisationspartnerschaft marginalisiert den Landkonflikt zwischen dem jüdischen Israel und den islamischen Palästinensern. In ihm gilt weder der bloße Besitz von Land noch die Religion als entscheidend, sondern das Knowhow. 

Ein palästinensischer Staat würde durch die Todfeindschaft  zwischen islamistischer Hamas und nationalistischer Fatah im Bürgerkrieg versinken. Viele Palästinenser leben daher lieber in und selbst auch unter der israelischen Zivilisation. Sie leben umso besser, je näher sie sich mit den Bildungs-, Arbeits- und Gesundheitssystemen der israelischen Zivilisation einlassen. Dies gilt vor allem für die 1,5 Millionen Palästinenser in Israel und auch dort, wo die Fatah in der Westbank mit Israel diskret kollaborierte. Die Schicksalsfrage der Palästinenser lautet heute, ob sie sich – wie die Hamas – weiter dem Kampf gegen Israel oder der Anschlussfähigkeit an die wissensbasierten Funktionssysteme Israels widmen wollen. 

Insbesondere die eifernden und moralisierenden NGOs Europas, sollten aufhören, die Palästinenser in ihrer Opferrolle zu bestärken und könnten stattdessen im Rahmen der zahlreichen vom Westen finanzierten Bildungseinrichtungen zur  Anschlussfähigkeit beitragen. 

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Selbst im Iran werden Internet und Youtube auf Dauer größere Freiheiten des Denkens ermöglichen. Die zunehmende Berufstätigkeit der Frauen hat schon zum Absinken der Gebürtigkeit und damit zur größeren Selbstständigkeit der Frauen beigetragen. Die Chancen für eine neue iranische Zivilisation liegen aber auch in der Besinnung auf die eigene Kultur. Das Zusammenfallen von religiöser und weltlicher Gewalt ist dem Schiitentum eigentlich wesensfremd. Die Geistlichkeit hatte vor Khomeini keine politische Rolle angestrebt. Eine eher quietistische Tradition und damit auch die Trennung von Politik und Religion liegen im Rahmen der konfessionellen Tradition und noch mehr der persischen Kultur. Die größten Chancen ergäben sich aber aus einer Brain-Circulation von fünf Millionen Auslandsiranern, die nach dem Fall des Regimes ihr Knowhow dem Wiederaufbau des Irans zur Verfügung stellen könnten. 

Der Brain-Drain von armen zu reichen Staaten hilft nur dem reichen Norden. Eine Brain-Circulation müsste bereits bei den Flüchtlingen einsetzen, die in der Regel eben nicht integriert, sondern für Rückkehr und Wiederaufbau ausgebildet werden sollten. Investitionen vor allem in die Berufsausbildung der Flüchtlinge könnten – wie vom führenden Migrationsforscher Paul Collier vorgeschlagen – bereits in den Flüchtlingslagern einsetzen. Mit Hilfe von Sonderwirtschaftszonen könnten aus Lagern idealerweise Städte entstehen und diese dann zur Entwicklung ihrer Gastländer beitragen. 

Der Nationalstaat als Voraussetzung zivilisierter Strukturen  

Die Entgrenzungen des globalen Kapitalismus zeigen ihre Kehrseiten nicht zuletzt in der Corona-Pandemie. Mit der ihr folgenden Wiederkehr der Grenzen und der Bedeutung der Nationalstaaten wird zugleich eine neue Phase der De-Globalisierung eingeleitet. Globalisierte Wertschöpfungsketten müssen neu justiert und zum Teil dem freien Handel entzogen werden. Die Präventionsaufgaben des Staates erfordern neue Zoll- und Handelsgrenzen. 

Für Thilo Sarrazin hat die Coronakrise gezeigt, dass die arbeitsteilige Gewinnung von Wissen und eine arbeitsteilige Warenproduktion in der globalisierten Welt auch dann funktionieren, wenn Grenzen für den Verkehr von Menschen weitgehend geschlossen sind. Die ungehinderte Wanderung von Wissen und Waren und eine arbeitsteilige Warenproduktion sind möglich, ohne dass Menschen dazu in größerer Zahl wandern müssen. Eine Kontrolle der Wanderung von Personen über Staatsgrenzen hinweg ist möglich. 

Den Nationalstaaten blieb es allein überlassen, den Virus einzudämmen. Globale und internationale Behörden spielten dabei keine große Rolle. Die soziale und medizinische Sicherung in den Nationalstaaten war entscheidend. Gesundheitskontrollen an Grenzen gelten seitdem nicht mehr als nationalistisch oder rassistisch, sondern als Ausdruck legitimen Schutzbedürfnisses. Gegenüber den Folgen der globalen Entgrenzungen wird der krisenresiliente Nationalstaat umso mehr gebraucht.    

Aber dessen Beiträge zur Selbstbegrenzung genügen nicht zur Selbstbehauptung in der neuen, allein möglichen multipolaren Weltordnung, in der handlungsfähige Großräume wie China, USA und Russland entscheidend sind. Die größte Herausforderung Europas ist es, ihnen gegenüber handlungsfähig zu werden. 

Im geostrategischem Welthandel könnte nur gemeinsames Handeln im Rahmen des europäischen Binnenmarkts Selbstbehauptung gegenüber gleichsam imperialen Wettbewerbern wie China und den USA ermöglichen. Europas militärische Sicherheit ist auf Dauer nur im Rahmen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gewährleistet. 

Von all dem ist die heutige EU weit entfernt. Die in der Außenpolitik geforderte Einstimmigkeit war nicht einmal bei Sanktionen gegenüber Weißrussland möglich. Ein gemeinsames Vorgehen gegenüber den unfairen Handelspraktiken Chinas ist schon durch das chinesische Engagement in Griechenland, Ungarn und Italien unterlaufen worden. Ein gemeinsames Handeln würde mehr Identifizierung mit den die unmittelbaren Interessen überwölbenden kulturellen Gemeinsamkeiten fordern.  

Die Zivilisierung des Mittelmeerraums als Aufgabe Europas 

Statt sich um Europas Handlungsfähigkeit zu sorgen, ergehen sich Europas Eliten in globalistischen Visionen. Nationale Interessen werden geradezu demonstrativ missachtet. Der national-globalistische deutsche Sonderweg in der Flüchtlingsfrage ist uneuropäisch und treibt die Auflösung der Union weiter voran. 

Statt auch Know-how als Handelsware zu begreifen, huldigt der globale Kapitalist einem ideologisierten Freihandel. Das Schicksal der deutschen Solartechnologie zeigt die Tragik dieser Naivität. China konnte die von Deutschland vorfinanzierten Forschungsergebnisse abschöpfen und danach mit seinen billigeren Produkten den deutschen Solarmarkt übernehmen. 

In der sich wieder deglobalisierenden Welt geht es weniger um „Globales Denken und lokales Handeln“ (oder umgekehrt), sondern um ein großregionales Denken und Handeln. Solange die Europäer zwischen nationaler Regression und globalistischem Schwärmertum pendeln, bleiben sie Spielball schon bestehender Weltmächte. Den neuen Gegensatz zwischen Globalisten und Nationalisten kann Europa nur moderieren helfen, wenn es seinerseits nicht globalistisch oder lokalistisch, sondern großregionalistisch agiert. 

TE-Interview
Thilo Sarrazin: Merkels Einwanderungspolitik überfordert uns
Im Rahmen der multipolaren Weltordnung käme auf Europa die Aufgabe zu, sich auf den Mittelmeerraum zu konzentrieren. Statt in einem größenwahnsinnigen „globalen Engagement“ und utopischer Visionen von der „Einen Welt“ hätte Europa mit der  Bewältigung seiner Beziehungen zum Nahen Osten und zu dem ebenfalls unter Bevölkerungsexplosion, Armut und Islamismus leidenden Nordafrika zu tun, vor allem mit dem Aufbau einer gesteuerten Asyl- und Migrationspolitik. Dafür müssten die für beide Seiten quälenden Integrationsprozesse zu Investitionsprozessen in den Nahen Osten umgeleitet werden. 

Kultur als Voraussetzung von Zivilisation 

Langfristig wäre dann Brain-Drain in eine Brain-Circulation zu transformieren. Dies ist jedoch im Kern eine kulturelle Aufgabe. Für die Bereitschaft zur Rückkehr der Flüchtlinge in ihre zerstörte Heimat wäre eine andere Ethik als die des globalen Nomadentums gefordert. Alte kulturelle Tugenden wie die Liebe zur eigenen Heimat und Verantwortung für die Nächsten ermöglichen erst Kultur in ihrem Wortsinn des „Bebauens und Bewahrens“. 

Abgekoppelt von ihren kulturellen Wurzeln und damit auch von ihren Voraussetzungen halten Strukturen und Institutionen von Zivilisationen nicht zusammen. Gesellschaften ohne Kultur – so Alexander Grau – seien auf Dauer gar nicht möglich. Von daher ist es sehr beunruhigend dass die gegenkulturellen Bewegungen, die sich unter der Fahnen von Buntheit und Diversity sammeln, weder den Bezug zu ihrer alten Kultur pflegen noch eine neue hervorbringen können. Da Kulturen auf normierende Selbstbeschränkung gründen, seien sie unvereinbar mit dem hedonistischen Traum einer individuellen Selbstverwirklichung. Es gebe so wenig eine Individualkultur wie es eine Privatsprache gebe.      

Der Westen ist in seiner entgrenzten Weltoffenheit soweit fortgeschritten, dass er Opfer seiner Erfolge zu werden und seine eigenen zivilisatorischen Voraussetzungen in einer Art Dekultivierung aufzulösen droht. Darüber wird eine Rekultivierung Europas zur unverzichtbaren Aufgabe. 

Der Konservative ist, mehr als am Nationalstaat als einer relativ jungen europäischen Errungenschaft, an der Bewahrung der Kultur orientiert. Und unsere ist in ihren größten Anteilen nicht national, sondern europäisch. Die „Renovatio Europae“ (David Engels) erfordert nicht weniger als eine Rückbesinnung auf Überlieferungen und Institutionen des christlichen Glaubens, von Tradition, Naturrecht und Familie. 

Die europäische Ur-Formel der Benediktiner vom „Ora et Labora“ ließe sich auch auf das Verhältnis zwischen Kultur und Zivilisation, zwischen ideellen Werten und wissensbasierten Funktionssystemen übertragen. Die abendländische Kultur ist im Kern eine Kultur des Sowohl-als-auch, der Widersprüche und der sich ergänzenden Gegenseitigkeiten, die vor der gewaltigen Herausforderung steht, sich heute zwischen Zivilisierung und Rekultivierung zu bewähren. 


Prof. Dr. Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft an die Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Veröffentlichungen unter anderem: „Der Westen und die neue Weltordnung“, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2017; „Der Westen und sein Naher Osten. Vom Kampf der Kulturen zum Kampf um die Zivilisation“, Olzog edition, Reinbek 2015

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Kommentare ( 13 )

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Mausi
4 Jahre her

Flüchtlinge sollten zu Rückkehr und Wiederaufbau ausgebildet werden. Wie wollen Sie die Flüchtlinge dazu bewegen oder davon überzeugen? Oder sind so viele davon bereits überzeugt? Ist es nicht ein Plan des Westens für den Nahen Osten, der schon aus dem Grund Abwehr erzeugt, weil es kein eigener ist? Ist es nicht unverändert eine Reform von aussen? Nur eben mit Menschen von innen als Werkzeug? In Sonderwirtschaftszonen könnten aus Lagern idealerweise Städte entstehen und diese dann zur Entwicklung ihrer Gastländer beitragen. Zunächst braucht es dann Standorte für die Flüchtlingslager. Dann die Überzeugung der Gastländer, dass die Flüchtlinge die Lager zu Städte entwickeln, dass… Mehr

KoelnerJeck
4 Jahre her

Ich bezweifle, dass das heutige System als „Kapitalismus“ bezeichnet werden kann. Treffender ist Interventionismus, Kooperatismus oder auch Faschismus.

Kapitalismus ist Privateigentum an den Produktionsmitteln, Vertragsfreiheit und freies Geldsystem. Es ist eine natürliche Ordnung, deswegen heißt der richtige Begriff: Marktwirtschaft. Die Endung -ismus deutet auf Ideologie.

Die Vertragsfreiheit ist nicht gegeben. Fiat-Money ist Zwangsgeld. Es sei daran erinnert, dass Nr. 5 des Kommunistischen Manifests den Zentralisierung des Geldes in Staatshand fordert.

reiner
4 Jahre her

idealismus pur.. funktiomiert nicht.zeigt die geschichte.. denn es geht um machterhalt von cliquen nicht um die weite bevölkerung.. gucken sie nach merkelberlin dort ist pattex am stuhl die nr.1

Hieronymus Bosch
4 Jahre her

Sehr gut beobachtet! Der Westen hat seine seit der Aufklärung errungenen Werte kampflos preisgegeben und stellt nicht einmal ein anachronistisches Mullah-regime als Regierungsform infrage. Unsere laizistische Gesellschaft hat sich an antirationale Fantasiewerte verkauft.

giesemann
4 Jahre her

Kurz, die Länder des Nordens, die Hypofertilen, müssen sich gegen die Zumutungen aus dem Süden, die der Hyperfertilen verwahren – am besten gemeinsam. Norden ist USA/Kanada, Europa/EU/AUS/NZ, Russland, Japan und auch China. Wer sich da sonst noch zugehörig fühlt natürlich auch, Korea etwa, Vietnam, Thailand, der Rest der Amerikas, wenn sie das wollen. Auf keinen Fall dürfen uns die Hyperfertilen in ihren Dreck hinein ziehen, wenn uns unser Leben, unsere Zivilisation etwas wert sind. Süden ist klar, islamische Länder, weite Teile Afrikas. Wenn islamische Staaten aus der Zerstörungswut ausscheren, umso besser, welcome. Es gibt Ansätze. Dann muss aber Schluss sein… Mehr

Hannibal ante portas
4 Jahre her

 „Eine Zivilisierung dieser Kulturen muss – sofern sie denn erwünscht ist – statt von außen von innen erfolgen.“ Genau dieser Versuch wurde schon vor längerem damals sehr engagiert versucht: Atatürk in der Türkei, die Pahlewi-Dynastie in Persien und selbst Afghanistan kannte nicht nur Taliban (googeln Sie mal nach Frauenbilder in Kabul der sechziger Jahre!). Alles gescheitert. Für derartige epochale Veränderungen gibt es meist nur eine Chance.

Boris G
4 Jahre her

Leider blendet Prof. Theisen die sozialbiologischen Wurzeln der unterschiedlichen soziokulturellen Leistungsfähigkeit verschiedener Ethnien komplett aus. Ein Blick auf die TIMSS-Pyramide erklärt, warum es im Nahen Osten keine Fortschritt geben wird: Auch mit Schulpflicht und einem Schüler : Lehrer Verhältnis von 6 : 1 an den top ausgestatteten Grundschulen landet Kuweit auf einem unterirdischen Niveau, was die geistige Leistungsfähigkeit seiner Jugend angeht. Damit ist buchstäblich kein Staat zu machen. Da diese Schulleistungen mit der Intelligenz korrelieren und zu mindestens 62% genetisch determiniert sind, ist die Lage hoffnungslos. Sobald das Öl nicht mehr nachgefragt werden wird, gehen dort die Klimaanlagen aus. Richard… Mehr

Mozartin
4 Jahre her

Zugegeben hochinteressant, auch der angezeigte Artikel von Herrn Osinski! Ich habe da so für mich etwas andere Schwerpunkte, die daher rühren, dass für mich persönlich mittlerweile Prussen wichtig ist und zwar in der EU. Bis zu einer friedlichen Möglichkeit, die ich als einzige akzeptiere, verbleibe ich herzlichst und loyalst Deutsche Staatsbürgerin, also wahrscheinlich für immer. Ich bin von da aus gesehen kein Fan von etwa indirekten Groß-Polnischen Ideen, aber in der EU möchte ich ein starkes Polen und Baltikum bzw. Osteuropa etc., überhaupt Europa und inmitten verhalten aber selbstbewusst die Bundesrepublik Deutschland. Insgesamt hochinteressant, ich werde das hier anderswo und… Mehr

moorwald
4 Jahre her

Der Autor will es sozusagen allen recht machen. Einerseits sollen die „kleinen Leute“ gestärkt werden. Dies soll über eine Rückbesinnung auf u.a. auf den christlichen Glauben geschehen. Sehr viel erhofft er sich von einem „Europa“, dem er eine eigene Kultur zuschreibt. Aber dieses Europa gibt es nicht. MIt dem Heraufkommen der Nationalstaaten ist die Tendenz zur Abgrenzung und zur Kennzeichnung der Unterschiede untrennbar verbunden. So wird sich ein Europäer im Ausland immer als Franzose, Italiener… zu erkennen geben. Kulturelle Identität bedeutet immer auch, zu definieren, was und wie man nicht ist oder sein möchte. Das muß nicht Feindschaft oder Krieg… Mehr

Frank v Broeckel
4 Jahre her

Weltenrettungsphantasien!

Dabei können wir heutzutage noch nicht einmal unseren eigenen Vorgarten vor einer Überrennung durch die Partyszene dauerhaft selbst beschützen!