Warum das Volk sich niemals irrt

Deutschlands selbsternannte Leitjournalisten verzweifeln an den Wählern: Weil Letztere einfach nicht damit aufhören, anders zu wählen, als Erstere das für richtig halten. Dass in einer Demokratie allein der Bürger entscheidet, was er will: Das wollen die Besserwisser einfach nicht hinnehmen.

picture alliance / Zoonar | ArTo

„Müssen Politiker dem eigenen Volk die Richtung vorgeben?“ Das fragt die „Zeit“ dieser Tage, und sie meint es nicht ironisch. Zwischen den Zeilen des bemerkenswerten Texts schreit dem Leser als Antwort überall und unentwegt ein „JA“ entgegen. Oder anders: Die Autoren der Hamburger Wochenzeitung, die sich selbst mit einiger Gewissheit als Edelfedern bezeichnen würden, halten den Wähler nur für bedingt geschäftsfähig.

Abhängig vom Wahlergebnis, so die Botschaft, müssen Politiker den Bürgern schon das eine oder andere Mal wieder den rechten Weg weisen.

— Mark Schieritz (@schieritz) September 5, 2024

„Manchmal irrt sich das Volk“: So betiteln die Redakteure ihren Beitrag, in dem sie den Wähler quasi als Kind definieren, das ab und zu der elterlichen Anleitung bedarf. Diese erzieherische Rolle ist bei der „Zeit“ den Politikern zugedacht. Die sind dann strenggenommen keine Volksvertreter mehr, sondern bilden eine Kaste von Hohepriestern und werden nicht gewählt, um den Willen des Volkes auszuführen – sondern um dem Volk zu erklären, was es in Wahrheit will.

Der passende Name für dieses Konzept ist: gelenkte Demokratie.

Man sollte den Beitrag nicht nur als Ärgernis betrachten. Das ist er zwar zweifelsohne – aber er ermöglicht auch einen spannenden Einblick in die Gedanken- und (so vorhanden) Gefühlswelt jener Gesellschaftsschicht, die sich erkennbar für etwas Besseres hält: jener Leute also, die nicht nur allen anderen unaufhörlich die eigene Weltsicht vorhalten (was lästig, aber noch in Ordnung ist), sondern die allen anderen auch ständig vorwerfen, ein falsches Leben zu leben (was nicht in Ordnung ist).

„Menschen ändern im Zweifel schnell ihre Meinung, und oft sind ihre Antworten in Befragungen in sich nicht schlüssig. (…) Fast alle Demokratien sind deshalb heute repräsentative Demokratien. Das bedeutet: Die Bürger wählen ihre Repräsentanten, die Abgeordneten, die für einen gewissen Zeitraum die Geschäfte des Landes führen und dabei über ein hohes Maß an Autonomie verfügen.“

Die repräsentative Demokratie ist demnach dem Umstand geschuldet, dass der gemeine Bürger manchmal schnell seine Meinung ändert und mitunter auch miteinander unvereinbare Positionen vertritt. Man würde das nur allzu gerne als absolut gelungene Satire bezeichnen, aber leider ist es absolut ernst gemeint.

Und es ist dramatisch falsch.

Schneller, als Angela Merkel (und mit ihr die überwältigende Mehrheit der Politiker im Bundestag) ihre Meinung bei der Wehrpflicht, der Atomkraft und der Grenzsicherung geändert hat, hätte das auch die Gesamtheit der Wähler in Deutschland nicht tun können. Und noch nicht einmal bei der „Zeit“ können sie es für schlüssig halten, dass Klimaminister Robert Habeck Atomenergie als klimafreundlichste Energiequelle kategorisch ausschließt und stattdessen lieber CO2 schleudernde Kohlekraftwerke betreibt.

Welche Gründe auch immer für die repräsentative Demokratie sprechen könnten: Weniger Stimmungsschwankungen und mehr Konsistenz in den Entscheidungen gehören ganz sicher nicht dazu. Das schwant wohl auch den „Zeit“-Autoren. Deshalb gehen sie schnell weiter zu ihrem eigentlichen Argument. Das lautet: Politiker irren sich nicht so oft wie die Wähler.

„In der Geschichte der Republik kam es jedenfalls immer wieder vor, dass eine gewählte Regierung sich gegen die Stimmung im Volk stellt. Konrad Adenauer hat Deutschland in die Nato geführt, obwohl im Jahr 1950 noch 81,5 Prozent der Westdeutschen gegen den Beitritt waren. Für die Entspannungspolitik von Willy Brandt gab es keine Mehrheit in der Bevölkerung, für die Nachrüstung unter Helmut Schmidt nicht und für die Einführung des Euro auch nicht. Doch all dies – Westbindung, Entspannungspolitik, Euro – gehört heute zum Selbstverständnis des Landes.“

Das sieht auf den ersten Blick plausibel aus. Auf den zweiten schon nicht mehr.

Ganz wertfrei: Vielleicht ginge es Deutschland heute ja viel besser, wenn Politiker zu ihrer Zeit nicht Entscheidungen getroffen hätten, die dem Willen des Volkes widersprachen.

Was aus Deutschland ohne den frühen Beitritt zur Nato geworden wäre, weiß kein Mensch, noch nicht einmal bei der „Zeit“. Ja, vielleicht wäre die Bundesrepublik von der Sowjetunion überrollt worden. Vielleicht aber auch nicht, vielleicht hätte es die Wiedervereinigung schon ein paar Jahrzehnte früher gegeben. Beides ist reine Spekulation.

Und vielleicht wäre die DDR ohne Willy Brandts Entspannungspolitik ja schon viel früher implodiert? Vielleicht hätte es zum Zusammenbruch des Ostblocks der Nato-Nachrüstung in Deutschland gar nicht bedurft? Vielleicht ginge es Deutschland ohne den Euro heute besser? Nichts davon können wir wissen.

Doch die universalgelehrten Schreiberlinge aus Hamburg tun so, als wüssten sie es. Daraus schließen sie, dass es völlig in Ordnung ist, wenn Politiker nicht das tun, was das Volk will. Denn letztlich ist es zum Wohle des Landes, wenn die vermeintlich Wissenden nicht das tun, was die vermeintlich Unwissenden wollen:

„Die Bundesrepublik Deutschland ist in ihrer jetzigen Verfasstheit auch ein Elitenprojekt. (…) Das Volk irrt sich manchmal, und wenn es nicht so wäre, bräuchte man keine Politiker.“

Wohl selten ist so deutlich aufgeschrieben worden, wie sehr Deutschlands selbsternannte Leitjournalisten das gemeine Volk verachten; wie wenig sie dem Plebs zutrauen, sinnvolle Entscheidungen über das eigene Leben zu treffen; wie sehr sie sich – und die ganze politische Klasse, in die sie sich wie selbstverständlich hineindefinieren – für etwas Besseres halten.

Das ist ihnen inzwischen offenbar auch in der Hamburger Redaktion aufgefallen. Jedenfalls hat die „Zeit“ die ursprüngliche Überschrift klammheimlich geändert. „Was ihr wollt“, heißt es dort jetzt. Doch das kam zu spät, der Originaltitel „Manchmal irrt sich das Volk“ hat im Internet längst die Runde gemacht.

Und Demokraten überall machen sich daran, den Text nach allen Regeln der Kunst auseinanderzunehmen.

Denn die Demokratie hat ein erkenntnistheoretisches Fundament.

Der erste Gedanke dahinter ist, dass wir Menschen niemals in den Besitz der Wahrheit gelangen können. Wir können uns der Wahrheit allenfalls annähern, und auch das nur funktional. Heißt: Wir entwickeln Modelle, mit denen wir die Welt so erklären können, dass sie zumindest teilweise beherrschbar wird.

Beispiel: Wir haben heute ein bestimmtes wissenschaftliches Modell von Elektrizität. Ob das Modell tatsächlich umfassend stimmt, wissen wir nicht. Aber es ist das bisher beste Modell, mit dem sich erklären lässt, warum die Zimmerlampe leuchtet, wenn wir den Stromschalter anknipsen. Möglicherweise entwickelt morgen irgendjemand irgendwo ein anderes Modell, das ganz anders ist, aber mit dem sich zusätzlich zur Zimmerlampe auch noch andere elektrische Phänomene erklären lassen, die wir bisher noch nicht verstehen.

Dann werfen wir das alte Modell weg und benutzen fortan das neue – so lange, bis wieder etwas noch Besseres entdeckt wird. So funktioniert die Wissenschaft, so funktioniert der Fortschritt von Erkenntnis. Wichtig dabei ist: Niemals ist ein Modell wahr. Es funktioniert nur besser als die anderen, jedenfalls für eine gewisse Zeit.

Der zweite Gedanke ist: Die Weisheit der Vielen ist größer als die Weisheit des Einzelnen. Viele verschiedene Wahrnehmungen und viele verschiedene Erfahrungen führen zusammen immer und ohne Ausnahme zu einem genaueren Bild der Welt.

Der dritte Gedanke ist: Die besten und verantwortungsvollsten Entscheidungen trifft man, wenn man die Folgen und Konsequenzen dieser Entscheidungen auch selbst unmittelbar zu tragen hat.

Dass, sagen wir: Ricarda Lang oder Emilia Fester das nicht verstehen, ist nicht weiter verwunderlich. Dagegen überrascht es, dass sie auch bei der „Zeit“ in Hamburg diese intellektuellen Grundlagen unserer Gesellschaftsordnung offenbar erfolgreich verdrängt haben.

Dass sich hier eine enorm unappetitliche Hybris offenbart, reicht als Kritik natürlich nicht aus. Muss es auch gar nicht. Denn die Scheinriesen der „Zeit“ auf ihren tönernen Füßen wollen zwar den Berufspolitikern zur Seite springen. Doch in Wahrheit bringen sie die Kaste erst so richtig zu Fall.

Berufspolitiker sind heute niemals Teil der Lösung, sondern wichtigster Teil des Problems.

Unsere professionellen Volksvertreter haben längst eine eigene Interessengemeinschaft ausgebildet, die sich gegenüber dem Volkswillen immunisiert. Das Parlament und mit ihm die Zahl der Berufspolitiker wächst immer weiter, auch wenn immer weniger Menschen zur Wahl gehen. Im Prinzip müssten Parlamentssitze proportional zur Zahl der Nichtwähler leer bleiben. Das wäre ein echter Anreiz für die Politiker, eine Politik zu machen, die die Menschen zum Wählen bewegt.

In unserem System dagegen kann jedem Politiker eine noch so große Politikverdrossenheit völlig schnuppe sein. Denn über die eigene Zukunft als Berufspolitiker entscheidet nicht der Wähler, sondern die Partei. Die jüngste Wahlrechtsreform hat hier den Wählerwillen zugunsten des Parteieinflusses nochmal entscheidend geschwächt.

Nach demselben Muster hat die Politiker-Kaste sich nahezu unangreifbare Propaganda-Organisationen geschaffen: die öffentlich-rechtlichen Medien. Mit für Marktverhältnisse schlicht obszönen Gehältern werden staatsnahe und regierungstreue Lautsprecher gemästet und auf Linie gehalten. Über das Prinzip der Zwangsgebühren schützt man diese Journaktivisten vor Konkurrenz und koppelt sie völlig vom Publikumswillen ab.

Egal, wie wenige Menschen den Schrott noch sehen wollen: Jan Böhmermann, Louis Klamroth und Sandra Maischberger dürfen auch bei miesesten Quoten weitersenden und sich dabei eine buchstäblich goldene Nase verdienen – maßgeblich bezahlt ausgerechnet von denjenigen, die niemals einschalten.

Das Problem ist nicht der Volkswille. Das Problem ist, dass sich unser System hermetisch gegen den Volkswillen abriegelt.

Das setzt sich fort bis in die Wirtschaft. Da glaubt der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck, dass er die Wünsche und Bedürfnisse der Verbraucher besser kennt als der Markt. Folgerichtig wird erst ein Heizungsgesetz komplett gegen die Wand gefahren, weil die Leute eben einfach keine Wärmepumpen haben wollen. Dann wird dem teilstaatlichen VW-Konzern gegen den Markt eine selbstmörderische E-Auto-Strategie aufgezwungen. Jetzt ist Volkswagen fast pleite und steht vor Massenentlassungen.

Das ist Größenwahn, gepaart mit einem unerträglichen Sendungsbewusstsein. Oder anders: Aggressive Besserwisserei des deutschen Oberlehrers. Aus dieser Perspektive sind die Grünen die deutscheste aller Parteien.

So etwas passiert nicht, weil das Volk sich irrt. Das Gegenteil stimmt: So etwas passiert, weil selbstherrliche Politiker nicht das tun, was das Volk will.

In diesen Tagen werden jubiläumsbedingt viele salbungsvolle Worte über unsere Verfassung abgesondert. Manchmal erscheinen die sogenannten „Väter des Grundgesetzes“ dabei als gottgleiche Wesen, sozusagen als durch den überstandenen Krieg mit höheren Einsichten ausgestattete Lichtgestalten. Das Grundgesetz wird als eine Art Neuauflage der Zehn Gebote überhöht – diesmal statt von einem brennenden Busch vom Herrenchiemsee geliefert.

Doch wir müssen auch mal über die Schwächen des Grundgesetzes und seiner Verfasser reden.

Erstens: Deutschlands Verfassung ist ein Dokument des Misstrauens gegenüber dem Volk. So gut es eben geht, werden darin auch zarte Ansätze zu einer direkten Demokratie im Keim erstickt. Dabei hat nicht das Volk die Weimarer Republik gesprengt. Und es war auch nicht das Volk, das die Nazis so mächtig machte. Hitlers Nationalsozialisten hatten niemals eine eigene parlamentarische Mehrheit. In freien Wahlen (letztmals 1932) erreichten sie maximal 33 Prozent.

Zur umfassenden Macht haben ihnen erst die anderen Parteien im Reichstag verholfen. Das Grundgesetz hätte konsequenterweise nicht die Macht des Volkes, sondern die Macht der Parteien beschränken müssen.

Zweitens: Deutschlands Verfassung ist Ausdruck eines fatalen Glaubens an den Zentralismus. Die so oft und lautstark beschworene föderale Ordnung der Bundesrepublik ist ein Witz. Im Vergleich zu anderen föderalen Staaten – zum Beispiel den USA, aber auch Österreich und der Schweiz und sogar zu Indien – haben die deutschen Bundesländer lächerlich kleine Kompetenzen und Befugnisse.

Der Zentralismus verlagert die Entscheidungen weg von den Menschen, die die Folgen dieser Entscheidungen ausbaden müssen. Das ist, mit Verlaub, die Perversion von Demokratie.

Drittens: Deutschlands Verfassung erhebt die Parteien über die Wähler. Das ist der wohl schlimmste Webfehler des Grundgesetzes: Es ermöglicht nicht nur all die schlimmen Fehlentwicklungen, die unserer Demokratie jetzt so zu schaffen machen – es hat diese Fehlentwicklungen von Anfang an befördert.

Parteien sollen nach unserer Verfassung an der Willensbildung des Volkes teilnehmen. Tatsächlich nehmen sie dem Volk die Möglichkeit zur Willensbildung weg. Deutschland ist keine Bundesrepublik, sondern eine Parteienrepublik.

Die Parteien haben sich – unter gütiger Mithilfe des Grundgesetzes – den Staat zur Beute gemacht.

Kein relevanter Winkel ist mehr im Land zu finden, wo nicht die Parteien ihren Herrschaftsanspruch durchzusetzen versuchen. Im Zusammenspiel mit dem fatalen Verhältniswahlrecht führt das dazu, dass man unfähige Politiker de facto nicht mehr abwählen kann.

Das ist der zentrale Punkt, an dem unser Gemeinwesen gerade zu scheitern droht: In irgendeiner Koalition bekommt man immer dieselben Figuren immer wieder – egal, was man wählt. Und weil es keine Amtszeitbegrenzungen gibt, dürfen auch die schlimmsten Versager und Lügner ein Leben lang auf Kosten des fassungslosen Steuerzahlers im Politikbetrieb herumdilettieren.

Deshalb machen die Leute ihr Kreuz bei der AfD.

Dass die Bürger völlig zurecht die Nase voll haben vom politischen Establishment und seinen ewigen Repräsentanten: Das deuten die mondänen Weltversteher von der „Zeit“ jetzt so um, dass das Volk sich irrt. Nein, tut es nicht.

Das Volk irrt sich nie.

Die großen Demokratien unserer Zeit – USA, Schweiz, Frankreich, Indien – haben eines gemeinsam: Das Volk hat sich die Demokratie dort blutig erkämpft. Unsere westdeutsche Demokratie dagegen wurde bekanntlich importiert. Sie wurde uns im Übrigen auch nicht „geschenkt“, wie manche gerne behaupten, sondern sie wurde uns geradezu aufgezwungen. Und nur langsam und allmählich haben sich die Westdeutschen daran gewöhnt.

Bei den Bürgern in Ostdeutschland ging das viel, viel schneller. Die einfachen Menschen zwischen Stralsund und Plauen haben auch ein deutlich gesünderes Demokratieverständnis als zum Beispiel die hochbezahlten Redakteure in den Luxusetagen der Hamburger „Zeit“-Redaktion.

Vielleicht kann man die Demokratie nur dann wirklich schätzen, wenn man sie sich selbst erkämpft hat.

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