Bei dem Begriff "Nudging" sollten bei uns alle Alarmglocken schrillen. Prozesse, die für uns unbewusst ablaufen, haben aber mit Freiwilligkeit nichts mehr zu tun. Hinterher sind alle möglichen schuld, nur die Medien nie. Beobachtet Ingrid Ansari.
Oft nähern sich Erkenntnisse schleichend. Sie nähren sich im Unbewussten und treten dann eines Tages unerwartet ans Licht. Ein erstaunlicher Vorgang, ein wundersamer Aha-Effekt. Danach ist nichts mehr, wie es früher war. Wenn ich es überhaupt noch nachvollziehen kann, begann es bei mir mit der wochenlangen Fixierung der Mainstream-Medien auf den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff – der sogenannten Wulff-Affaire -, die mir auf Dauer derartig abstrus erschien, dass ich anfing zu zweifeln, ob es bei so einer plötzlich aufwallenden, über Wochen breitgetretenen Kampagne mit rechten Dingen zuging, und ich fragte mich schließlich, was dahinter stecken könnte. Ob durch den „Lärm“ vielleicht verdeckte Hintergründe ausgeblendet werden sollten.
Ein angeblich suspekter Privatkredit, ein Anruf im Dezember 2011 des Bundespräsidenten bei der BILD-Zeitung (ein „Wut-Anruf“ laut Focus), mit der Veröffentlichung zu warten. Bis zum Rücktritt am 17.Februar 2012 fand daraufhin in den Medien eine maßlose Empörungsschlacht statt, noch angefacht durch einige Ungeschicklichkeiten von Wulff selber. Irgendwann dämmerte mir, dass das unverhältnismäßige Aufbauschen der Vorgänge in keinem Verhältnis zu den Vorkommnissen stand, und mir wurde bewusst, wie man mit einer solchen konzertierten Kampagne Menschen beeinflussen und Karrieren zerstören kann.
Die über Tage stattfindende Dauer-Wiederholung der sich überschlagenden Nachrichten auf allen Kanälen ließ mich allmählich an der Intelligenz der Berichterstatter zweifeln. Ich fragte mich, wie man es aushalten kann, Dinge ständig aufs Neue zu wiederholen und Fragen zu stellen, die schon hundertmal durchgekaut worden waren und bei mir nur gähnende Langeweile und immer mehr Irritation erzeugten. Wir wissen alle, wie die Geschichte ausgegangen ist, nämlich mit einem klaren Freispruch Wulffs. Doch dieser fand kaum noch Interesse und verpuffte dann ins Leere.
Fazit eines ZEIT-Artikels vom 13. Juni 2014: „Juristisch ist Wulff damit rehabilitiert. Ob er es auch politisch ist, hängt vom Auge des Betrachters ab. Aus meiner Sicht ist er nicht der Justiz und jagdeifrigen Journalisten zum Opfer gefallen, sondern sich selbst. Durch sein enges Verhältnis zu Unternehmerfreunden, das in den Enthüllungen über seine Zeit in Niedersachsen deutlich wurde, vor allem aber durch seinen völlig hilflosen Umgang mit den Vorwürfen zeigte der Ex-Präsident, dass er seiner Position nicht gewachsen war.[…] Dass erst sein Nachfolger Joachim Gauck dem höchsten Amt im Staat wieder Würde und Gewicht verliehen hat und Wulff damit rasch vergessen ließ, dürfte für ihn die härteste Strafe sein.“
Ach so – es war also nur Wulff, der sich dem allen „nicht gewachsen“ zeigte. Und Gauck hat „dem höchsten Amt im Staat wieder Würde und Gewicht verliehen“? Man muss sich im Klaren sein, dass das Bild, das die Bürger von Persönlichkeiten der Öffentlichkeit haben, maßgeblich von der Berichterstattung der Massenmedien abhängt.
Über die Jahre machte mich auch die Benutzung der Sprache, die Wortwahl stutzig und hellhörig. Die „Pleite-Griechen“ müssen nachsitzen und endlich ihre „Hausaufgaben“ machen. Thilo Sarrazin schürt mit seinem neuen „Machwerk“ Hass und erntet „johlenden“ Beifall von der falschen Seite; „das Böse“ wird Doktrin einer ganzen Gruppe. Thilo Sarrazin ist der „zweite Hitler“ (vorher war das mal Putin), und es gibt natürlich jede Menge „geistiger Brandstifter“. Auf „rechtspopulistischen“ Demonstrationen wird generell nur „aufmarschiert“, es werden Fahnen „herumgeschleppt“. Die „Rechtspopulisten“ sind „im Vormarsch“, gehen „auf Stimmenfang“. Björn Höcke „hisst“ in einer Jauch-Talkshow die Deutschland-Fahne. Überhaupt sind AfD-ler „Rassisten im Schafspelz“ und ihre fremdenfeindliche Partei ist die „NPD für Besserverdiener“.
Was wollen diese unzufriedenen Bürger eigentlich, fragt man in Talkshows. Unsere Demokratie ist gefestigt und stark. Deutschland ist ein reiches Land, in Sachsen leben kaum Ausländer, DEN Islam gibt es nicht, aber die Bürger wollen eben nur „einfache Antworten“. – „Für die Menschen, die vor dem Krieg fliehen, muss man doch ein Herz entwickeln“, sagt Ursula von der Leyen in einer Anne-Will-Talkshow. Der AfD aber falle nichts anderes ein, als diese Menschen am Grenzzaun „kleben“ zu lassen“, die Schicksale der Geflüchteten seien den Mitgliedern der Partei egal.- Man kann das endlos fortführen. Erstaunlich, auf welch sprachlich banales Niveau sich auch Politiker in letzter Zeit herabgelassen haben.
Demokratie und Meinungsbildung durch Massenmedien
Leben ist Fragen stellen, habe ich kürzlich in einem Buch gelesen und stimme dem zu. In Frage stellen, möchte ich hinzufügen. Und zwar das, was ich in der Öffentlichkeit höre, lese und sehe. Nach Sinnhaftigkeit abklopfen, vor allem, wenn Dinge überzogen erscheinen. Aufbauschen, Flutung mit Informationen (Gefühl der Informiertheit), ständige Wiederholungen (Illusion eines Wahrheitsgehalts) treffen auf das „Schweigen der Lämmer“, wie Rainer Mausfeld, Professor für allgemeine Psychologie an der Universität Kiel vorträgt und darlegt, wie durch Fragmentierung Sinnzusammenhänge zerstört werden, damit die Lämmer Lämmer bleiben. Sachverhalte werden „unsichtbar“ gemacht, indem andere hervorgehoben und akzentuiert werden. Es entstehen Informationslücken. Dahinter steht ein Menschenbild, das voraussetzt, dass diese „Lämmer“ affektgetrieben und ohne Vernunft sind.
Die „Trilaterale Kommission“ ist eine private, politikberatende Vereinigung mit einflussreichen Mitgliedern aus Europa, Nordamerika und Japan, die Organisationen wie der „Bilderberg-Konferenz“ nahe steht. Diese veranstalten geheime, informelle, private Treffen mit ausgewählten Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Militär, Politik, Medien, Hochschulen und Adel. 1975 veröffentlichte die „Trilaterale Kommission“ den Bericht „The Crisis of Democracy“, in dem festgestellt wird, dass sich Demokratie nur effektiv und planungsorientiert im Sinne der Eliten handhaben lasse, wenn ein gerüttelt Maß an Apathie und Nichteinmischung der Bürger bestehe. Es hat sich gezeigt, dass eine kontrollierte Demokratie im Vergleich zu einer Diktatur die beste und kostengünstigste Regierungsform ist, und Wissenschaftler wie z.B. der Politikwissenschaftler Harold D. Lasswell, der Soziologe Paul Lazarsfeld und der PR-Berater Edward Bernays entwickelten Techniken zur Beförderung dieser Erkenntnisse. Einige habe ich schon weiter oben – ausgehend von eigenen Beobachtungen der Massenmedien – beschrieben. Bernays – übrigens ein Neffe von Sigmund Freud – schreibt dazu in seinem Buch „Propaganda“:
„Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft. Wer die ungesehenen Gesellschaftsmechanismen manipuliert, bildet eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist. Wir werden regiert, unser Verstand geformt, unsere Geschmäcker gebildet, unsere Ideen größtenteils von Männern suggeriert, von denen wir nie gehört haben. Dies ist ein logisches Ergebnis der Art wie unsere demokratische Gesellschaft organisiert ist.“
Ein weiteres wichtiges Mittel der Kontrolle ist die Angsterzeugung. Professor Mausfeld (s.o.) weist auf das bekannte Foto hin, auf dem der damalige US-Außenminister Colin Powell am 5.2.2003 vor dem UN-Sicherheitsrat ein mit Pulver gefülltes Gläschen als „eindeutigen Beleg“ dafür hochhält, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besitzt. Und das zu dem Zweck, kann man im Nachhinein sagen, eine völkerrechtliche Invasion zu rechtfertigen, diese dem Bürger annehmbar zu machen. Ein Angriff, in dessen Folge mehr als 100.000 irakische Zivilisten getötet wurden; gar nicht zu reden von den weiteren verheerenden Folgen. Später bezeichnete Powell das als „Schandfleck“ seiner Karriere – viel später – zu spät. Auch bei Tony Blair kam die „Einsicht“ zu spät und nutzte nur ihm selber. Mir fällt dabei ein, wie auffällig oft in letzter Zeit hierzulande davon die Rede ist, dass die Deutschen Angst hätten. Ich habe eher das Gefühl, diese Angst soll uns nahe gelegt werden. Angst führt u.a. zu Antriebs- und Handlungsunfähigkeit. In einer Angstsituation fragt man nicht mehr viel.
Der relativ neue Begriff „Nudging“ (auf Deutsch „anstupsen“) geistert immer mal wieder wie mehr zufällig durch die Medien, verschwindet dann aber genau so schnell, wie er gekommen ist. „Merkel will die Deutschen durch Nudging erziehen“, so lautet die Überschrift eines aufschlussreichen Artikels in der WELT vom 5.3.2015. Was soll uns da beigebracht werden, muss man sich fragen. Das kommt ganz harmlos daher: Angeblich soll Nudging auf sanfte Art einfache Entscheidungen beeinflussen – z.B. soll man in einer Kantine durch Positionierung der Desserts dazu gebracht werden, Obst anstelle des Schokoladenpuddings mit Sahne zu wählen. Und das, „ohne die Freiwilligkeit der Individuen einzuschränken.“ Prozesse, die für uns unbewusst ablaufen, haben aber mit Freiwilligkeit nichts mehr zu tun. Bei dem Begriff „Nudging“ sollten bei uns alle Alarmglocken schrillen.
„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Immanuel Kant)
Die Erkenntnisse der Wissenschaften sind fortlaufend dazu genutzt worden – und werden genutzt -, um Steuerungstechniken (Lazarsfeld nennt sie „social narcotics“) zu entwickeln, und es ist erstaunlich, dass vieles davon nach einer bestimmten Zeit öffentlich zugänglich ist, irgendwo geschrieben steht und im Internet einsehbar ist – ein Beispiel dafür, dass alles verfügbar ist, dass man alles wahrnehmen kann, wenn man nur versteht, es zu finden und in einen Sinnzusammenhang zu bringen.
Es gibt jedoch immer mal wieder Fälle, wo die Fakten unverdeckt sichtbar werden und Empörung und das moralische Gewissen der Bevölkerung aktivieren. Das geschah während des Vietnam-Kriegs, den die US-Regierung am Ende nicht fortführen konnte. Ein weitere Beispiel sind die Folterbilder von Abu Ghraib. Durch Beobachten und vor allem Hinterfragen – indem man Informationen nicht mehr naiv für bare Münze nimmt, sondern versucht, Lücken aufzufüllen, Versatzstücke zu ergänzen und in einen Sinnzusammenhang zu bringen – kann man versuchen, die Dinge zusammenzufügen, um das ganze Bild zu bekommen. Das gelingt aber natürlich nur, wenn man sich bewusst ist, dass es Versatzstücke sind, die man nicht für das Ganze halten darf.
Professor Mausfeld schließt seinen Vortrag entsprechend mit folgenden Worten:
„Nur wenn wir uns entschließen, uns unseres Verstandes zu bedienen, nur wenn wir unsere induzierte moralische Apathie überwinden, nur wenn wir nicht mehr bereit sind, uns mit der Illusion der Demokratie, der Illusion der Freiheit zufrieden zu geben, nur dann haben wir eine Chance, diesen Manipulationstechniken zu entgehen. Das ist keine leichte Aufgabe, aber eine andere Wahl haben wir nicht. Die Entscheidung liegt bei uns.“
Autorin Ingrid Ansari war Dozentin am Goethe-Institut.
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