Die Figur Hackl selbst hätte eine Entschuldigung verdient. Der Kunstbegabte, der auf ein paar Zettelchen in Windeseile Skizzen von Gesichtern zeichnen konnte. Mit dem richtigen Anwalt hätte er vor der Geiselnahme der Richterin beste Aussichten auf eine ordentliche Wiedergutmachung für den Justizirrtum gehabt, den sich die Münchner da geleistet haben.
Mit großem Aufgebot wird ein kauziger alter Münchner kreuz und quer durch einen ehemaligen Problembezirk im Norden von Feldmoching gejagt. Für sein Martyrium, das tragisch auf dem Hasenberg zu Ende geht, tragen Polizei und Mitbürger Schuld. Zur Verwirrung des Zuschauers trägt bei, dass sich die Plattenbausiedlung den Anschein gibt, der brave Zwilling der berüchtigten Gropiusstadt in Berlin-Neukölln zu sein.
Spät nachts verunglückt der junge Moser-Bub (Adam, gespielt von Tolga Türk) tödlich mit dem Motorrad, als er grade zum x-ten mal durch die Häuserschluchten geknattert ist. Schnell wird durch Zeugenaussagen klar, dass ihn jemand mit einem Laser geblendet und so zu Fall gebracht hat. Kaum haben die Ermittler Ivo Batic (Miroslav Nemec), Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) die Richtung ermittelt, aus der der Laserstrahl wohl abgefeuert wurde, fällt ihnen auch schon ein Verdächtiger ins Auge: Der bereits einschlägig als Wutbürger vorbestrafte Johannes Bonifaz Hackl (Burghart Klaußner) hat von seinem Balkon aus freies Schussfeld auf den Tatort und ist bekannt dafür, schon mal mit seinen Luftgewehren den lästigen Tauben zu Leibe zu rücken. Aber auch vor handyschwenkenden Touristen auf dem Marienplatz und Polizisten macht er nicht Halt, was Kommissar Leitmayr (wurde von Hackl in den Finger gebissen) bereits leidvoll erfahren musste. Nun rücken sie dem alten Bockerer mit ihren Polizistenfragen in seiner Wohnung und beim Forellenschlachten auf dem Kleingartengrundstück auf den Pelz. So fixiert sind die beiden Vorruheständler Batic und Leitmayr auf den bereits in Pension befindlichen Kauz, dass sie dabei andere Verdächtige kaum wahrnehmen; Alex Moser (Aaron Reitberger) fühlte sich von seinem Bruder zurückgesetzt und bevormundet, Nachbarssohn Jonas Mittermeier (Lorenzo Germeno) war offenbar heimlich in die Freundin des Opfers (Irina Kurbanova) verliebt. Außerdem hat der Teenager Medikamenten-, Alkohol-, Killerspiel- und Schulprobleme, und beim Hackl steht er, seit der ihn beim Spannen mit seiner Drohne erwischt hat, auf der Liste besonders verachtenswerter „Hundsgrippl“ (Bayrisches, politisch unkorrektes Schimpfwort: Hundekrüppel).
Nachdem nun auch Jonas‘ Mutter Sandra Mittermeier (Carolin Conrad) behauptet, eine Morddrohung Hackls gegen Adam Moser gehört zu haben („dem brech‘ i des Gnack“) schreiten die Kommissare zur Verhaftung und lassen den Alten, verpackt in einen eigentlich für Hunde konstruierten Halskragen (Evtl. ein standardisierter Bissschutz der Münchner Polizei?) abführen. Der Verhaftete denkt aber gar nicht daran, zu kooperieren, klein bei zu geben oder gar zusammenzubrechen: der fast Siebzigjährige nimmt Richterin Luitpold (Ulrike Willenbacher) beim Haftprüfungstermin als Geisel und entkommt den zahlreichen bewaffneten Ordnungskräften trotz Handschellen mit einem halsbrecherischen Sprung in die Freiheit. Nachdem er zur „tickenden Zeitbombe“ erklärt wurde, wirft die Münchner Polizei nun alles, was sie hat, in die Fahndung, es werden Steckbriefe aufgehängt und Beamte schwärmen zu Befragungen über das ganze Hasenbergl aus. Drohnen und Hubschrauber werden eingesetzt. Obwohl es nur so vor Uniformierten mit und ohne Spürhunde wimmelt, der Fahndungserfolg bleibt der Bayerischen Polizei versagt.
Nachdem der Hackl in Minute 35 seine Ketten gesprengt hat, gelingt es erst bei Minute 75, ihn in einer dunklen Ecke des Hochhausviertels zu stellen. Die Bühne ist bereitet, das Volk beschimpft und demütigt den Todgeweihten, bewirft ihn mit Unrat. Der Alte ist am Ende seiner Kräfte angekommen, übergießt sich mit Benzin und setzt sich selbst in Flammen.
Was hilft es da noch, dass die Polizei nun mit neuen Erkenntnissen aufwarten kann, neue Hinweise den unglücklichen alten Mann doch noch entlasten. Am Ende gesteht die Mutter von Jonas, Adam Moser aus einer übermütigen Laune heraus geblendet zu haben.
Die letzte Szene spielt am Sterbebett von Johannes Bonifaz Hackl, der sich noch ein letztes Mal dem weißblauen Himmel seiner Heimat zuwendet, bevor das EKG-Gerät, wie zum Hohn seiner Tinnitus-Erkrankung, ein letztes, endgültiges Piepsen von sich gibt.
Schauspieler Udo Wachtveitl (64) muss in diesem Krimi viel gelitten haben. Nicht nur, weil er heimlich etwas Mitgefühl für den bockbeinigen Rentner hegte, den er eigentlich jagen soll. Nicht nur wegen dem Dauerzoff mit Tatort-Partner (91 gemeinsame Folgen bisher) Ivo Batic (Nennt ihn „beleidigte Leberwurst“). Sondern weil dieser Tatort, wie so viele ältere Episoden, genau die zwei Elemente enthielt, die ihm eigentlich, wie er Ende 2022 der Zeitschrift „Digital“ verriet „gewaltig auf die Nerven“ gehen: „Da ist einmal der Hang zum Belehren, sozusagen der „Tatort“ als Volkserziehung qua Bildergeschichte. In diesen Filmen werden gesellschaftliche Themen nicht verhandelt, sondern es wird doziert – und die Charaktere sind ähnlich eng schematisiert wie beim Kasperletheater.“ Und dann gebe es noch „Trübsinnskitsch“. Damit meint Wachtveitl: „Schlechte Laune als Qualitätsausweis, als Pose, gern bebildert mit entsättigten, dunklen Farben, der aber die Tiefe des klassischen Film Noir fehlt.“
Schon die Darstellung des Hasenbergls als eine Art Prototyp optimaler Gentrifizierung enthält genügend sorgsam unterschwellig Belehrendes: Als Adam Moser verunglückt, bleiben die vornehmlich weiblichen Anwohner andächtig hinter der Polizeiabsperrung und in respektvollem Abstand zum Opfer stehen; Gezückte Handys sieht man nur in den oberen Stockwerken und kurz darauf haben Mitfühlende Kerzen am Unglücksort aufgestellt. Die ganze Plattenbausiedlung, die auch gerne aus der Luft gefilmt wird, ist ein Bilderbuchbeispiel für den aufgeräumten, ordentlichen Vorgarten: Penibel gemähter Rasen, kein Müll, der herumliegt, Graffiti, das Briefkästen, Aufzüge oder die blankegeputzten Wände verziert, fehlt fast völlig. Hier könnte sich Berlin-Neukölln, so scheint es, eine gehörige Portion abschneiden. Keine herumlungernden Dealer, Frauen schlendern wie selbstverständlich nachts durch die Alleen.
Das Hasenbergl, wo ein zufällig Gassi gehender Passant nachts die trauernde Freundin von Adam Moser, die neben den Kerzen am Unfallort eingeschlafen ist, auf den Armen nach Hause trägt. Wo der örtliche Fitnesstrainer Kenny (gespielt von Fußball-Profi Joshua Kimmich) beruhigend darauf hinweisen darf, dass es im Klub keine Videoüberwachung gebe, denn hier „muss keiner Angst haben“. Wo sich alle bei Zoff in bestem Schuldeutsch entschuldigen können. Auch in der örtlichen “FOS im Hasenbergl“ (Fachoberschule) muss nur eine einzige Lehrkraft den Pausenhof beaufsichtigen, die Schüler werden schnell mit dem Hinweis „Yassin, wir klären das später, das war ein Missverständnis“ zur Räson gebracht. Wo der Kleingarten-Biergarten, in dem Hackl’s Freundin Elli (Pia Amofa-Antwi) „Rüscherl“ (Cola und Weinbrand, hip in den Achtzigerjahren) ausschenkt, genauso Schmuck aussieht wie irgendwo auf dem Lande in Niederbayern.
Hackl, ein Opfer für die Vorurteilsmeute?
Nicht genug, dass die gesamte Presse meint, Hackl, den Opa im Trachtenhut posthum noch beschimpfen zu müssen: „A-Loch“ (taz), „er ist irre“ (FAZ), „Kampfspießer“ (Spiegel), „Querulant., Störenfried“ (SWR3), „notorischer Wüterich“ (Prisma), „Kotzbrocken vor dem Herrn, alter weißer Mann, hässlicher Hassbürger … der alles und jeden verachtet … sich wie ein dreijähriges Terror-Kind aufführt“ (Münchner Merkur) „mit Wut und Hut aus der Zeit gefallen, der die Welt um sich herum schon lange nicht mehr versteht…“ (n-tv) „Ein bissiger alter Mann … von eher zuschlagender Natur“ (SZ). „ein Wadenbeißer, der das mit dem Beißen wörtlich nimmt … ein Neidhammel, ein Wutbürger.“ (Welt)
Auch Regisseurin Katharina Bischof bricht den Stab über den Grantler Hackl, der sei „aus der Zeit gefallen … in der Nachbarschaft als Querulant bekannt, nimmt er Probleme gerne selbst in die Hand und stellte sich in der Vergangenheit mehrfach gegen das Gesetz. Mit der ‚modernen‘ Welt um sich herum kann er schon lange nichts mehr anfangen.“
Autorin Dagmar Gabler sagt, dass den zündenden Funken zu „Hackl“ „ihr eigener Verdruss über die verdichtete Großstadt gegeben habe …“. Die Grenzen zwischen „Grantlern“ und „Hatern“ erscheinen ihr „zunehmend fließender, und diese Strömung zu kontrollieren, immer schwieriger.“ Zu diesem Eindruck geselle sich eine weitere Beobachtung in ihrem Umfeld: „eine Drift bei sozial und intellektuell eigentlich firmen Leuten, die in ihrem „privaten“ Agieren und Fühlen gar nicht so tolerant und liberal sind, wie es den Anschein hat. Ihr eigentliches Empfinden darunter ist herrschaftlich, und ihr tägliches Agieren gemäß sozialer Erwünschtheit weicht zunehmend dem nächtlichen Gegenteil davon: aus Frust und Groll unter ihrem „Greenwashing“ werden – mehr oder weniger vorsätzlich – militante Aktionen. Diese erscheinen vielleicht nicht vergleichbar mit Taten wie der Hinrichtung eines Tankwarts wegen einer Corona-Maske, können aber genauso tödlich enden wie in „Hackl“.
Es ist ungewöhnlich, dass die ARD in einem Tatort ein „Statement der Produktion“ auf der Website einbaut.
Die Produzenten Martin Choroba und Philipp Schall sowie die ausführende Produzentin Eva Gerstenberg über den Tatort: Man habe „einen Schlüsselloch-Blick in die von Wut geprägte Welt von Johannes Bonifaz Hackl kreiert – großartig von Burghart Klaußner gespielt – der im Leben nicht sehr häufig auf der Sonnenseite stand: Er ist polizeibekannt, vorbestraft und unbelehrbar. Die Enge seiner Welt, der er nur in wenigen Momenten entkommen kann, lässt ihn in allem und jedem nur das Schlechteste vermuten und macht ihn unberechenbar und menschenfeindlich. Die hohen Fassaden als unüberwindbare Hindernisse voller Wut, Neid und Anonymität während man gleichzeitig auf engem Raum kaum Privatsphäre hat… gespiegelt von den Begegnungen der Kommissare mit den Menschen dieses Viertels, die genauso wie wir alle nicht vor Vorverurteilungen gefeit sind.“
Das klingt ein bisschen wie eine Entschuldigung. Vielleicht haben die Produzenten geahnt, dass ihr Streifen viele ältere Mitbürger einer pauschalen Vorverurteilung aussetzen könnte. Denn viele von diesen standen in der Tat „im Leben nicht sehr häufig auf der Sonnenseite“ und vermuten, sicher nicht immer zu Recht, in manchen und einigen auch mal Schlechtes. Positiv anzumerken ist, dass man es sich und der Figur Hackl erspart hat, außer ein paar fremdenfeindlichen Wortfetzen („Drecks-Jugo“ und „Milosevic“ zu Batic) weitere gängige Extremistenetiketten anzuheften. Denn wie leicht hätte seine Wohnung noch in die eine oder andere Richtung dekoriert sein können, jenseits der präparierten Fischköpfe, Schmuckteller und Oktoberfest-Devotionalien. So bleibt der eigentliche Grund für seinen rabiaten Widerstand gegen die Obrigkeit im Unklaren. Zweifellos hätte die Geschichte aber auch gut in einen Film über die Folgen einer Demenz und anderer altersbedingter Geisteserkrankungen gepasst.
Am ehesten hätte aber die Figur Hackl selbst eine Entschuldigung verdient. Der Kunstbegabte, der auf ein paar Zettelchen in Windeseile Skizzen von Gesichtern zeichnen konnte. Der geschiedene Drucker, der sich rührend um seinen Dackel Ludwig kümmert, zwei Töchter hat. Mit dem richtigen Anwalt hätte er vor der Geiselnahme der Richterin beste Aussichten auf eine ordentliche Wiedergutmachung für den Justizirrtum gehabt, den sich die Münchner da geleistet haben. Hätte er sich früher wegen seines Tinnitus in Behandlung begeben, wäre er der Polizei nicht hemdsärmelig, im Trachtenhut und mit Fischblut an den Händen entgegengetreten – schon das Betreten seines Kleingartens gegen den Willen des Besitzers („Das Türl ist nicht umsonst zu! Schleicht Euch!“) hätten die Kommissare nur schwer rechtfertigen können.
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