Sternstunde des Zynismus: Über den größten Wählerblock geht Anne Will hinweg

Anne Will ist das Hochamt der Berliner Blase. Keine andere politische Show geht so konsequent an den Belangen der Zuschauer vorbei. In der Sendung zur Wahl in Nordrhein-Westfalen kommt der größte Wählerblock gar nicht vor.

Screenprint ARD / Anne Will

44 Prozent Nichtwähler. Der mit Abstand größte Block bei der Wahl in Nordrhein-Westfalen wird bei Anne Will nicht einmal erwähnt. Diese 44 Prozent relativieren alles. Rechnet man sie mit ein, haben die Spitzenkandidaten von CDU und SPD zusammen keine Mehrheit der Wähler erreicht. Berücksichtigt man die Nichtwähler, haben die Grünen gut 10 Prozent der Wahlberechtigten geholt und damit eben kein eindeutiges Wählervotum.

Doch diese 44 Prozent kommen bei Anne Will nicht vor. Sie wegzulassen, verzerrt die Debatte. So sagt Mariam Lau, die NRW-Wahl sei ein Sieg der Mitte. Die Ränder seien auf dem Rückzug, meint die talkshowpolitische Korrespondentin der Zeit. Das würde stimmen, wenn die 44 Prozent in der Wirklichkeit genau so wenig existent wären, wie sie es bei Anne Will sind. Doch es gibt sie, genau wie die von Lau als Ränder bezeichneten Parteien. Beide zusammen sind in Nordrhein-Westfalen mehrheitsfähig. Und somit fällt Laus These in sich zusammen, sobald sie die Berliner Blase verlässt.

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Doch das Studio von Anne Will ist der Schutzraum für die Themen der Berliner Blase: Hat die SPD in Nordrhein-Westfalen zu sehr mit Olaf Scholz geworben und ist er dadurch jetzt beschädigt? Ist das Entlastungspaket der Ampel die finanzpolitische Gießkanne? Kann man noch vom sozialdemokratischen Jahrzehnt sprechen? Oder war die CDU am Abend der Bundestagswahl demütig genug? Ja, das war tatsächlich Thema bei Anne Will. Mitte Mai. Acht Monate danach.

Selbst wenn die Debatte dann mal zu Themen kommt, die den Zuschauer tatsächlich persönlich berühren, dann bespricht die Runde diese im Stil der Berliner Blase. So ist es dann ausgerechnet an Villenbesitzer Jens Spahn (CDU), die Interessen des Kleinen Mannes zu vertreten: an die steigenden Kosten zu erinnern oder an die Entlastung der Bürger, die nach drei Monaten wieder vorbei sein wird. Warum macht Spahn das? „Er ist in der Oppositionsrolle angekommen“, sagt SPD-Chef Lars Klingbeil – einer seiner helleren Momente bei Anne Will.

Ansonsten ist Klingbeil grotesk. Aber bei dem Stichwort kommt Klingbeil erst an zweite Stelle bei Anne Will. Denn noch grotesker ist Christian Dürr. Wer ihm zuhört, braucht keine Erklärung mehr, warum die FDP im freien Fall ist. Dürr ist Fraktionsvorsitzender im Bundestag und wirft Spahn vor, dessen Forderungen seien unseriös, weil die Kosten dafür erst erwirtschaftet werden müssten – kurz nachdem Dürr stolz drauf war, dass das „Entlastungspaket“ 36 Milliarden Euro kosten werde.
Logik. Widersprüche auflösen. Das allles ist Dürrs Sache nicht. Der FDP-Funktionär ist eine Phrasen-Spuckmaschine: „Da beißt die Maus keinen Faden ab.“ „Transformation der Wirtschaft ist ein Wachstumsmodell.“ Oder: „Wir verlieren gemeinsam, wir gewinnen auch wieder gemeinsam.“ So redet der wirklich. Allein in einer Ausgabe von Anne Will. Der Zuschauer bekommt bei Dürr nicht mal das Gefühl, dass der FDP-Funktionär ihn veräppeln wolle – sondern dass er es einfach nicht besser kann.

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Das ist bei Klingbeil anders. Der SPD-Vorsitzende redet gezielt Unsinn: Ob es richtig war, mit Scholz in Nordrhein-Westfalen zu werben, will Will wissen. In der Parteizentrale überlege der Vorstand nicht, welcher Vertreter in welchen Wahlkampf geschickt wird, antwortet Klingbeil. Das ist mutmaßlich gelogen. Ob es richtig sei, als SPD so viel Häme über das Ergebnis der FDP zu zeigen, will Will wissen. Da die Sozialdemokraten doch in Berlin mit den Liberalen regierten und in Düsseldorf eine Regierung bilden wollten: Die SPD zeige keine Häme gegenüber der FDP, antwortet Klingbeil. Das ist nachweislich gelogen. Als es bei der Prognose um 18 Uhr so aussieht, als ob die FDP aus dem Landtag fliegt, jubelt die SPD-Wahlparty. Den Moment hat das Buntfernsehen festgehalten. Doch Klingbeils Falschaussage ist nachvollziehbar taktisch. Eben weil mit Hilfe der FDP in Nordrhein-Westfalen die SPD doch noch den Ministerpräsidenten stellen könnte.

Wie nahe die Will-Runde an den Themen der Bürger sein kann, und wie weit weg dabei von der Perspektive eben jener Bürger, zeigt sich am Klimaschutz: Grünen-Chefin Ricarda Lang träumt von Nordrhein-Westfalen als „erster klimaneutralen Industrieregion Europas“. Angesichts der stillstehenden Betriebe und wirtschaftlichen Not in Nordrhein-Westfalen ist Langs Wunsch eine Sternstunde des Zynismus.

Am weitesten vom Bürger entfernt ist die Journalistin in der Runde. Sie schwärmt von Robert Habeck, nur versteht sie nicht, warum die Bürger bei den Spritpreisen überhaupt entlastet werden müssten. Mit der CO2-Abgabe sei es doch gewollt, dass die Preise steigen. Und gerade das fossilreichste Land Deutschlands, Nordrhein-Westfalen, sei doch das, in dem die Energiewende gelingen müsse. Über die Frage, wie es den Bürgern dabei geht, geht sie hinweg: Lau ist die Vierte Gewalt der Berliner Blase. Die 44 Prozent Nichtwähler bleiben in ihrer Welt nur ein Faktor, der die Wirkkraft ihrer Schlüsse stört.

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Kommentare ( 96 )

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96 Comments
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MfS-HN-182366
2 Jahre her

Ich entschuldige mich bei den Wählern der Systemparteien, welche ich mit dem Spruch „Nur die allerdümmsten Kälber suchen ihren Metzger selber!“ eventuell gekränkt haben könnte. und sage das Gegenteil. „Nur die ganz Klugen bringen das System aus den Fugen“ Ha,ha! Max Erdinger hat auf der Webseite <Ansage!> zur Frage Stellung genommen, warum die AfD nicht aus dem enormen Potential der Nichtwähler fischen konnte und kam zum Fazit, dass diese Nichtwähler die AfD nicht als Alternative zu den Systemparteien gesehen haben. Die AfD ist keine Alternative, es gibt keine in Deutschland. Sage ich! Also werde ich in Zukunft die Systemwähler nicht… Mehr

Th. Radl
2 Jahre her

„Angesichts der stillstehenden Betriebe und wirtschaftlichen Not in Nordrhein-Westfalen ist Langs Wunsch eine Sternstunde des Zynismus.“ Ich fürchte, dass das ein Irrtum ist und würde da – man weiß ja gar nicht, was schlimmer wäre – eher von Dummheit ausgehen. Die Tatsache, dass so jemand – meist über Listen in das Amt gerutscht, ohne gewählt worden zu sein, und wenn gewählt, dann allenfalls in der eigenen Blase – in so einer Position ist, dürfte für viele Nichtwähler der Grund sein, sich den Gang ins Wahllokal zu sparen, um diese Leuten in ihrer Selbstbeweihräucherung nicht noch weiter zu bestärken. Zumindest geht… Mehr

Gottfried
2 Jahre her

Diese sinnentleerten Quatschbuden mit den immer selben Gesichtern in den deutschen öffentlich-rechtlichen Medien tue ich mir schon länger nicht mehr an. Die Zuschauerquote ist wahrscheinlich da auch so schwach wie die Wahlbeteiligung in NRW. Es gibt Alternativen wie bei ServusTV Talk im Hangar 7. Die ÖR braucht kein Mensch mehr. Warum man dafür auch noch zahlen muss, verstehe ich nicht.

Sabine K.
2 Jahre her

365 Tage und 24 Stunden am Tag Manipulation durch Einheitspresse und ÖR scheinen erfolgreich zu sein.
Unerwünschte Parteien (momentan nur eine) werden schon lange kaum noch erwähnt und wenn doch, dann nur negativ.
Ist das dann verwunderlich, dass es so viele Desinteressierte, Desinformierte und Hoffnungslose gibt?

bfwied
2 Jahre her
Antworten an  Sabine K.

Doch, es ist verwunderlich und sogar peinlich, dass das Desinteresse so groß ist. Der Mensch hat wenigstens eine gewisse Denkfähigkeit, und er hat EIN Leben, das er gestalten muss. Dazu gehört die Beschaffung von Informationen, die man allerdings nicht auf dem Sofa mit der berüchtigten Bierflasche serviert bekommt, man muss sie sich besorgen. Wer das nicht tut, dem ist es offenkundig egal, was mit ihm geschieht.

Fred Schneider
2 Jahre her

44% der Wahlberechtigten sind nicht zur Wahl gegangen und haben damit ganz klar für ein sog „Weiter-So“ votiert.

Kassandra
2 Jahre her
Antworten an  Fred Schneider

Wenn der Geburten-Dschihad von Erfolg gekrönt ist, müssen die auch nicht wählen. Nur ein wenig Geduld haben und abwarten. Gerade in NRW.

peer stevens
2 Jahre her
Antworten an  Fred Schneider

…Herr Schneider …Ihre Schlussfolgerung: „Weiter-So“ ist nur in einem richtig …sie spielt dem -Nur-Parteien-„Staatsfragment BRD“ noch weiter in die Arme ,..es waere aber sinnvoller, wenn endlich und mehrheitlich erkannt wuerde, dass der groesste Teil unter den Nichtwaehler klare Vorstellungen hat, wie Demokratie und deren Prozesse aussehen muessten … die BRD gehoert aber mit ihren schon seit längerem nicht mehr zu einem derartigen demokratisch-organisierten Politikschema ,..und weil der groesste Teil der Nichtwaehler das wohl erkannt hat, manifestieren sie es mit: „Da gehen wir nicht mehr hin! …und dennoch zeigt diese Enthaltung grosses politisches Engagement und ein entsprechendes Bewusstsein …und klar ist… Mehr

MfS-HN-182366
2 Jahre her
Antworten an  Fred Schneider

Nein Fred, es könnte auch LmaA heißen. Sicherlich ist ein Teil der Nichtwähler unterbelichtet, aber diese Gruppe findet man ja auch in allen Bevölkerungsschichten, selbst in der Regierung.

Peter Gramm
2 Jahre her

die geringe Wahlbeteiligung ist Ausdruck der Politikverdrossenheit in diesem Land. Wenn man die Repräsentanten ansieht und deren Gerede anhört erklärt sich die Wahlbeteiligung.

Kassandra
2 Jahre her
Antworten an  Peter Gramm

Vielleicht sollte man dazu noch betrachten, wie hoch der Migrantenanteil in NRW inzwischen ist – und wie viele von denen, die ihre eigene Ideologie in sich tragen und ihr eigenes Süppchen kochen, an Wahlen in Neuland interessiert sind. Zumal der Muezzin dort rufen darf.

Michael Palusch
2 Jahre her

Diese Sendung zeigt wieder einmal eindrucksvoll, mit welch abgehobene Typus Mensch wir es, sowohl bei Politikern als auch in den Medien, zu tun haben. Diese selbsternannten „Eliten“ würden selbst dann noch in wilde Verzückung geraten, wenn die Wahlbeteiligung nur noch bei 10% liegt und einen „eindeutigen Wählerauftrag“ halluzinieren.
Was jetzt für jeden sichtbar wird ist genau das, was Wolfgang Koschnick in seinem Essay „Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr“ so treffend analysierte.

TR
2 Jahre her

Meiner Meinung nach weiß der Nichtwähler einfach nicht mehr wem er noch glauben kann. Er erkennt an der Preisexplosion, der Energiekrise, dem wirtschaftlichen Absturz, das etwas oberfaul ist, aber die grünversifften MS Medien verbreiten, in engster Zusammenarbeit mit den Altparteien (auch den Grünen) Staatspropaganda und reden Ihm ein alles sei unter Kontrolle, was es eben nicht ist. So betrachtet geht der Vertrauensverlust der MS Medien Hand in Hand mit der explodierenden Zahl an Nichtwählern. Die grünschwarze Regierung in NRW ebenso wie die Ampel wird weiter nur an den Symptomen einer katastrophalen Energiewende herumdoktern und dabei unser Land und seine Zukunft… Mehr

Ferengi
2 Jahre her

Scheinbar geht es dem Land noch zu gut. Anders kann ich mir die Ergebnisse nicht erklären. Wer wählt denn Grün, wenn damit eine starke Steigerung der Kosten in allen Lebensbereichen einhergeht? Da die Grünen ihr Ergebnis nahezu verdreifachen konnten, scheint der Wählerwille der noch verbleibenden tatsächlichen Wähler wohl in diese Politikrichtung zu gehen. Das müssten dann, meiner Meinung nach, vor allem die Jungwähler sein, die, ohne dass sie jemals gearbeitet hätten, dem Ideologietrauma verfallen sind. Es wird nicht gut enden, soviel ist sicher.

Thorsten
2 Jahre her
Antworten an  Ferengi

Hängt mit der geringen Wahlbeteiligung zusammen: es haben ca 8% aller Wahlberechtigten die Grünen gewählt.
Ich vermute als das grüne Wähler:innenpotenzial:

  • wohlhabende Erbengeneration
  • Beamte und Angestellte im Staatsdienst (zb Lehrer)
  • höhere Angestellte und Ingenieure
  • Student:innen und Aktivist:innen
  • Unternehmer und Landwirte aus dem Ökosektor
  • Investoren in EEG-Steuersparprogramme
Fragen hilft
2 Jahre her
Antworten an  Thorsten

Heftiger Einspruch:
Es mag Ingenieure geben, die grün wählen, aber im Allgemeinen weiß ein Ingenieur und ein Facharbeiter, dass er einen blauen Daumen hat, wenn er sich mit dem Hammer draufhaut.
Soll heißen Berufe, die in Form von Geht oder Geht nicht eine Rückmeldung über die Qualität ihrer Tätigkeit sofort bekommen, suchen nicht die Nähe zu Kunst-Schwätzern.

bfwied
2 Jahre her
Antworten an  Fragen hilft

Ich kenne einen leitenden Ingenieur, der sehr stolz auf sein Ökologieverständnis ist und sein ökologisches Verhalten, weil er einen Tesla fährt. Ahnung von dem Themenkreis hat er eigentlich gar nicht, er meint es. Aber ich denke, aus Erfahrung, dass ein nennenswerter Anteil von Ingenieuren modern sein will, fortschrittlich, und daher grün wählt, s. o.!

bfwied
2 Jahre her
Antworten an  Thorsten

Schreiben Die doch um HImmels Willen „Studenten“ und „Aktivisten“!! Und nein, ich denke, aus meiner Erfahrung heraus, dass nicht alle Lehrer blöd sind, dass die vielfach – etwas feige sicher – grüne Positionen nicht angreifen. Nach meiner Erfahrung – könnte trügen – sind es alte Grüne, die immer noch Grün wählen, weil sie das schon 1975 getan haben und zu faul sind zu hinterfragen. Außerdem sind es die Jungen, die damit im Abnabelungsprozess ihren Weg finden wollen – daher „Fortschrittspartei“!! Schon clever von den Psychologen, ausgerechnet diese faschistoide totalitäre Partei so zu nennen!!

Brotfresser
2 Jahre her
Antworten an  Ferengi

Ein anderer Kommentator hatte doch hier bei TE seiner Verwunderung darüber Ausdruck verliehen, dass die Wahlhelferschaft in seinem Wahllokal aus einem regional bekannten grünen Aktivisten und seinen Kumpels/seiner Entourage bestand. In Berlin hatten wir solche Ungereimtheiten ja damals auch zuhauf… Was schätzen Sie, wie viele Stimmen für die Schwefel-Partei auf den letzten Zentimetern von der Urne zur Zählung noch fix ungültig werden (für die gute Sache, versteht sich??)? Es ist schon auffällig, dass bei den ungültigen Stimmen recht viele ein Kreuzchen bei der AFD haben. Und für die selbe gute Sache kann es sein, dass bei Stimmzetteln mit nur einem… Mehr

Konradin
2 Jahre her

44% Nichtwähler offenbaren auch, wie egal („Egal-Wahl“) bzw. „Jacke wie Hose“ es mittlerweile ist, welche Parteiableger des inhaltich in allen entscheidenen politischen Themen nicht mehr unterscheidbaren Parteienkartells im Parteistaat Deutschland miteinander als Regierung paktieren. Das Volk hat schon lange nicht mehr die „Wahl“. Welchen Unterschied macht es im Hinblick auf die gesellschaftliche Transformation (von der parteimedialen Blase eupehmistisch „demographischer Wandel“ genannt), de facto nichts anderes als nimmer endende Massenbevölkerung Deutschlands durch kulturfremde, bildungsferne und sozialstaatsmotivierte Bevölkerer (alleine plus 6 Mio. netto bzw. in 10 Jahren zwischen 2010-2019) oder die gleichzeitige rapide Wohlstandsvernichtung der Bürger durch den (T)Euro (EZB-Nullzinsen, EZB-Inflation, EU-Schulden-… Mehr