Publizistin Ulrike Guérot entpuppte sich am Donnerstag bei Markus Lanz als Skeptikerin in Sachen der staatlichen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Zumindest für die Zukunft hätte sie gern ein Versprechen, dass man die jetzt bestehenden Einschränkungen am Ende irgendwann auch wieder zurücknehmen wird. Dabei hat sie anscheinend noch Hoffnung auf einen Impfstoff im nächsten Frühjahr und fordert, dass… ja, was eigentlich? Denn ihr quasi-revolutionärer Elan wird von der aufgebrachten Elke Heidenreich und dem kühl kalkulierenden Lauterbach mit niederprasselnden Fragen gestoppt: »Was befürchten Sie denn konkret?« – »Aber konkret!«
Doch Ulrike Guérot kann nur allgemein antworten, denn auch ihre Befürchtungen sind eher allgemeiner Art. Ihre Beispiele sind dennoch so einfach wie schlagend: Die Einschränkungen, die wir heute bei einer Flugreise auf uns nehmen müssen, wurden einst im Gefolge des 11. Septembers 2001 (9/11) eingeführt und nie wieder aufgehoben. Außerdem entspricht es laut Guérot nicht den Tatsachen, dass Staaten immer und unter allen Umständen jedes Leben schützen. Und da muss sie eigentlich nicht mit Hanns-Martin Schleyer und Mogadischu kommen, wo Menschenleben eben weniger schwer wogen als die Terrorbekämpfung (»Der Staat lässt sich nicht erpressen«). Es reichen im Grunde schon die Haushaltsnachrichten: Jeden Tag sterben 80 Menschen, indem sie die Treppe herunterfallen, und trotzdem gibt es noch keine allgemeine Verpflichtung zu rutschfesten Schuhen.
Ulrike Guérot zählt noch einmal die Gruppen auf, die aus ihrer Sicht am ehesten an den Maßnahmen leiden: die Künstler, die Kinder und Jugendlichen, die wirtschaftlich Geschädigten, die Frauen, die verprügelt werden. Lanz fallen noch die Alten ein, die in Pflegeheimen sitzen und weggesperrt werden. Die Arbeitslosen, die Hotelbetriebe, wer auch immer… Mit all diesen Gruppen müsse ein Ausgleich gefunden werden, mit dem man verantwortlich durch die Krise kommt. Auch aus dem dümmsten Mund könne ein wahres Argument kommen (Habermas). Und mit diesem Argument wird am Ende sogar Heinz Strache (»Ich kann keine Pandemie erkennen«) gelobt werden. Man traut seinen Augen und Ohren kaum, aber Lanz und Guérot zeigen sich hier offen.
Kündigt sich in der Ästhetisierung der Maske eine neue Welt an?
Heidenreich möchte in ihrer dickköpfigen Else-Stratmann-Art nicht glauben, dass wir noch sehr lange mit Masken herumrennen. Sie weiß einfach, dass die 1,5 Meter Abstand zwischen den Menschen dann auch wieder Geschichte sein werden. Aber wie steht es eigentlich mit der Macht der Gewöhnung?, möchte man noch ein weiches Argument einflechten. »Wo ist denn das Problem?«, fragt Heidenreich in herrlicher Unbekümmertheit und blickt fragend in die Richtung von Lauterbach.
Heidenreich glaubt – zum Beispiel an die Lust der Menschen am sozialen Miteinander, daran, dass die Haltepunkte vom Boden wieder verschwinden und erneut Kulturveranstaltungen stattfinden, bei denen sie nicht am Ende weinend im Hotelbett liegt, weil die ausgedünnten Masken-Veranstaltungen so grausig und unlebendig sind. Die soziale Interaktion fehlt, wird später auch Ulrike Guérot zustimmen. Beide Damen wollen keine total virtuelle Gesellschaft.
Für Lauterbach stehen uns, das hat man wohl schon von ihm gehört, »die härtesten Wochen der Pandemie« noch bevor. Relativ kunstlos sagt er eine »deutliche« Steigerung der Todesfälle voraus, wenn die Infektionsfälle weiter ansteigen. Wo dieses »deutlich« anfängt oder aufhört, kann ja sowieso niemand sagen. Lanz möchte lieber die »Eigenverantwortung« statt der »Angst« stärken und bittet Lauterbach deshalb um eine Erläuterung seiner Warnungen vor a) mehr schweren Verläufen und b) mittleren Verläufen, die chronische Krankheitsbilder zurücklassen (»long Covid«). Als das nichts fruchtet, weil Lauterbach im Warnmodus bleibt, versucht es Lanz anders und bezieht sich auf den Virologen Streeck, der gefordert hat, vom Fetisch der Infektionszahlen wegzukommen und sich auf die Auslastung der Intensivstationen zu konzentrieren. Streeck hatte eine Ampel vorgeschlagen, die anzeigt, wie gut die allgemeine oder auch spezielle Lage je nach Sektor ist. Hier kam der merkwürdige Heidenreich-Kommentar des Abends schlechthin: »Es wird ja nicht die letzte Pandemie sein…« Was soll uns das sagen? Dann lohnt sich auch so eine Ampel?
Hamed-Samad über das Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein
Etwas später kam Hamed Abdel-Samad ins Gespräch. Er stellte fest, dass es in Deutschland heute eine Vertrauenskrise gibt. Als er vor einem Vierteljahrhundert in dieses Land kam, galten Regeln noch unbestritten, so Abdel-Samad, doch seitdem habe sich eine Entfremdung der Menschen von »denen da oben« eingestellt (dazu eine Einblendung der Berliner Anti-Corona-Demo). Und neben Inkompetenz unterstellen diese Zweifler ihrer Regierung auch durchaus, dass sie nicht immer im Interesse der Bürger handeln. »Das haben wir auch durch die Flüchtlingskrise erfahren«, so Abdel- Samad wörtlich, und dasselbe Bild zeige sich nun in der Coronakrise. Lauterbach schaute halb fasziniert und halb ratlos auf die absolute Offenheit dieses Einwanderers, der vielleicht ein Muster dafür abgibt, wie man den Kulturwechsel stemmen kann.
Viele Deutsche hätten das Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein, nichts mehr zu sagen zu haben im eigenen Land, dass alles von der EU entschieden werde (Ulrike Guérot nickt wieder), oder auch von der nationalen Regierung, dann breitet sich das Gefühl aus, dass man selbst »keinen Raum mehr« hat. Spätestens hier muss man anmerken: So etwas dürfte ein eingeborener Deutscher wohl nicht ungestraft mit diesen Worten sagen. Und die Tatsache, dass Lanz, der sonst gerne auf Multikulti-und-dabei-alles-Paletti macht, für diese Aussagen einen Einwanderer eingeladen hat, scheint bezeichnend.
Die kleine Hoffnung im tiefen Tal auf dem Weg zur zweiten Welle
Die von ihm angesprochene Vertrauenskrise in Sachen Covid-19-Politik will Abdel-Samad durch rechtsstaatliche Verfahren und wissenschaftliche Studien lösen. Die Regierungsedikte auf Virologenbasis reichen ihm nicht mehr, auch nicht die öffentlichen Lagebilder aus Lauterbachs Mund. Guérot stimmt auch hier zu, um am Ende dann doch mit dem großen Mopp durchzuwischen und vor dem »Krisenprofiteur« Populismus und »protofaschistischen Umtrieben im Osten« zu warnen. Daneben mahnt sie zu Recht an, dass viele andere wichtige politische Themen wegen der beständigen Corona-, Masken- und Demonstrationskrise nicht mehr vorkommen – zum Beispiel ein drohendes Militärregime in Ägypten (wir dachten, das wäre dort schon an der Macht).
Ulrike Guérot setzt noch mal an mit Forderungen: Ermessensspielraum für das Maskentragen! Nachts allein auf dem Bahnsteig will sie die Maske absetzen. Das klingt nicht gerade revolutionär. Lauterbach weiß da noch was: Die Quarantäne für positiv Getestete soll auf fünf Tage vermindert werden. Also eine kleine Hoffnung im tiefen Tal auf dem Weg zur zweiten Welle.
Doch über eines freuen sich Guérot und Heidenreich dann doch: dass die EZB den europäischen Abschwung so gut durchfinanziert. »Wir sind schon noch ganz gut dabei«, sagt Heidenreich wieder in ihrer Fensterbrettrolle. Ja, aber sind wir nicht mit Schulden dabei? Lanz stellt kurz einen Gedenkstein für den deutschen Steuerzahler auf – gegen die Mär von Bazooka und alles heilmachendem Wumms.
Das vielleicht unterhaltsame Kleider-Intermezzo der Elke Heidenreich lassen wir hier einmal weg, obwohl Lanz es »extrem diskriminierend« empfand, dass nur Abdel-Samad laut Heidenreich einen Kamelhaarmantel tragen darf: »Hier! Ägypten!« Jedenfalls würde Elke Heidenreich niemals mit Karl Lauterbach flirten, da der Mann keine Kartoffeln mag. Dafür aber mit dem Kamelhaarträger in spe. Und das tat sie auch in den letzten zehn Minuten der Sendung, wenn auch auf der sachlichen Ebene. Es musste erst Mitternacht werden, damit auch das neue Buch von Hamad Abdel-Samad zur Sprache kommen konnte. In der Einblendung wird der Politikwissenschaftler da sogleich zum »Islamwissenschaftler«.
Seine anfangs unruhige Geschichte mit Deutschland gipfelt für Abdel-Samad in der Erkenntnis, dass er nicht gleichzeitig zu 100 Prozent Moslem und zu 100 Prozent Deutscher sein konnte. Zu diesem »gefährlichen Satz« bekennt sich der Autor und Politikwissenschaftler. Und was ist mit dem Satz »Der Islam gehört zu Deutschland«, will Elke Heidenreich wissen. Nein, das tut er natürlich nicht, sagt Abdel-Samad, das habe er immer gesagt. Die Probleme des Islams seien: der fortlebende Kalifatsgedanke, das ungeklärte Verhältnis von Religion und Staat, Frauenrechte, Angst vor der Hölle. Heidenreich atmet auf: »Ach, das ist gut, dass Sie das sagen. Denn das macht es uns so schwer.« Auch Guérot ist ganz begeistert. Abdel-Samad will Muslime für die Freiheit begeistern, anstatt sie über Ditib und Konsorten zu integrieren.
Am Ende nur ein gut »inszenierter« Konflikt ohne echte Gegensätze?
Der Titel des Buches »Aus Liebe zu Deutschland. Ein Warnruf« meint vor allem die Befürchtungen, die sich für Abdel-Samad an die unzureichende Integration von Muslimen in Deutschland knüpfen. Nach ihm driftet unsere Gesellschaft auseinander. Man müsste vielleicht noch deutlicher sagen: Flöße, die nie zusammengehörten, rammen einander auf einem reißenden Wildwasserbach. Aber vielleicht meinte der Mann das. Denn er klagt an: Während rechtsradikale Positionen bei Deutschen zum konsequenten Diskurs-Ausschluss führen, gebe es ständig Gespräche mit rechtsradikalen türkischen und mit islamistischen Organisationen. Ja, man versuche sogar, den Integrationsprozess mit ihnen zu managen.
Die Folgen des beständigen Hantierens mit gesinnungsethischen »Moralkeulen« vergleicht Abdel- Samad praktischerweise mit einem Schneeball, sozusagen die Potenzierung der Schneeflocke. Und wenn man diesen Ball lange genug laufen lässt, kann daraus am Ende eine Lawine werden. Und die hält bekanntlich niemand mehr auf, bis sie sich totgelaufen hat. Auch nicht eine freudestrahlende Ulrike Guérot, die da noch einmal einhaken wollte, dies aber mangels Sendezeit nicht mehr konnte. Und so sahen wir betroffen den Vorgang zu und alle Fragen offen. Eine erstaunliche Sendung war es trotzdem. Ob es dabei mehr als Mummenschanz war – ein gut »inszenierter« Konflikt, wie Guérot einmal anklingen ließ –, muss sich weisen.