Alles anders nach Putins Angriff

Der 24. Februar 2022 verändert das Leben vieler Europäer. Die Dokumentation „Der Ukraine-Komplex – Ein europäischer Krieg in 10 Stimmen“ von Alexandra Kravtsova und Andreas Fröhlich verleiht ihnen eine Stimme. Denen, die aus der Ukraine, denen, die aus Russland flüchten mussten und denjenigen, die den Krieg unterstützen. Von Fabian Kramer

Screenprint: phoenix.de

Seit mehr als einem Jahr gibt es wieder einen Krieg auf dem europäischen Kontinent. Auch in Deutschland und anderen westlichen Staaten leben vom russischen Überfallskrieg betroffene Menschen. In einer Dokumentation von phoenix/DW, die auch auf ARD und ZDF ausgestrahlt wurde, sprechen zehn unterschiedlich Betroffene darüber. Die Dokumentation besteht ausschließlich aus Statements, die Filmemacher verzichten bewusst auf Archivmaterial oder Bilder aus der Ukraine. Es fehlt ein sichtbarer, begleitender Moderator, die Aussagen der Betroffenen bleiben völlig unkommentiert. Dem Zuschauer wird eine ungefilterte Teilhabe an den subjektiven Wahrnehmungen der Protagonisten ermöglicht. Eine dieser Protagonisten ist die 63-jährige Ludmila. Am Anfang der Kämpfe sei sie aus Angst jedes Mal in einen Keller gegangen, berichtet sie. Irgendwann bleibt sie beim Sirenenlärm einfach im Bett liegen. „Wenn es auf mich herunterknallt, dann knallt es halt“, meint Ludmila nüchtern über den russischen Raketenbeschuss. Man ist schockiert und kann es doch verstehen, als sie schildert, wie schnell dieser Gewöhnungsprozess eingetreten sei. Es geht einem ans Herz als Ludmila erzählt, wie sie sich noch hastig mit ukrainischen Lebensmitteln eindeckt. Alles, um wenigstens ein Stück Heimat dabeizuhaben. „Ich habe sogar Pflanzensamen mitgenommen“, sagt sie lächelnd und man fühlt sich unmittelbar an die eigenen Großeltern erinnert.

Flucht als Abenteuer

Ein Kompass im Nebel des Krieges
Wie man Kriegspropaganda und Medienmanipulation entlarvt
Zu Herzen gehen auch die Eindrücke der 41-jährigen Irina. Sie ist mit ihrer Familie und zehn Pflegekindern zur Flucht gezwungen. Die große Anzahl an Menschen verkompliziert alles. „Was ist ein Koffer für 13 Personen“, meint sie ironisch dazu. Für Irina hat der Krieg ihre Einstellung zum Leben fundamental geändert. „Früher dachte ich, dass ich Probleme hätte“, sagt sie wehmütig. Da sei eine zerbrochene Tasse schon Anlass für Trübsal gewesen. Jetzt zählen für sie ganz andere Werte. Als sie des Nachts mit einem Bus ohne Beleuchtung durch einen Wald fahren, überkommt sie nackte Panik. „Mein Herz sprang mir aus der Brust“, berichtet sie erkennbar aufgewühlt. Um ihren Kleinsten zu beruhigen, beschreibt Irina die Busfahrt als Abenteuerreise, an deren Ende Schokolade als Belohnung winke. Ihre Fürsorglichkeit beeindruckt und nötigt einem Respekt ab.

Russische Gesellschaft trägt Mitschuld

Viele Bürger im Westen stellen sich die Frage, ob die russische Gesellschaft zu wenig gegen Putin getan hat. Die Erzählungen des 58-jährigen Dokumentarfilmers Vitaly sollen Aufschluss darüber geben. Für ihn steht die russische Schuld außer Frage. „Russische Kerle töten Soldaten, die ihr Land verteidigen“, meint er zum Krieg. Zur Verantwortung der Gesellschaft bezieht er klar Stellung. „Wir alle, als russische Bürger, haben unser kleines Glück genossen“, sagt er zur in Russland vorherrschenden Lethargie. „Wir alle haben Putin geschaffen“, fügt er an. Jetzt habe die russische Zivilbevölkerung zwar die Chance zum Widerstand. Doch dieser Widerstand sei inexistent. Vitaly sei sich dessen gewiss, dass die russische Führung schon an einer aus dem Fenster gehängten ukrainischen Flagge zusammenbrechen würde. Doch nicht mal zu solch einer Geste könne man sich aufraffen.

Putin-Fan lebt seit 1992 in Deutschland

Die Rolle des Putin-Apologeten und Gegenpol zur Pro-Ukraine-Seite in der Doku hat der 40-jährige Roman. Seine Äußerungen haben fast schon etwas von einer Karikatur eines Putin-Sympathisanten. Wenn er selbstbewusst äußert: „Mit der Meinung von Wladimir Putin und der russischen Regierung stimme ich zu 100% überein“, kommt man ins Schmunzeln. Das Wort Krieg vermeidet er. „Es handelt sich um eine Militäroperation zum Schutze der Bevölkerung der Donbassregion“, sagt er. Die obligatorischen Schuldigen sind für ihn außerhalb Russlands zu suchen. Die Ukraine habe 2014 selbst mit Aggressionen gegenüber der Donbassregion einen Konflikt mit Russland herbeigeführt. Der Westen habe darauf nicht hart genug reagiert. Die alte Leier des Kremls.

Moralkeule wird weggelassen

Kontroverse Äußerungen völlig ohne Kommentierung im Raum stehen zu lassen, ist eine der großen Stärken der Doku. Authentisch und ohne gezielte Manipulation können die Protagonisten ihre Meinung vertreten. Anstatt mit martialischen Bildern auf Emotionalisierung zu setzen, stellt die Doku das Wort in den Vordergrund. Die unterschiedlichen Bewertungen der einen oder anderen Seite sorgen für Abwechslung und Spannung. Wohltuend ist es, dass auf politischen Haltungsjournalismus gänzlich verzichtet wird. Nüchtern und sachlich steht die subjektive Perspektive im Fokus. Die Doku stellt das Individuum über das Kollektiv. Die Doku hat allerdings auch ein paar Schwachstellen. Aus Sicht des Zusehers ist es mühsam, die Statements von zehn sich ständig wechselnden Protagonisten verdauen zu müssen. Nach wenigen Sätzen zu einem Thema kommt ein Cut und der nächste Protagonist ist etwas anderem dran. Es wirkt überhastet. Da sich einige Perspektiven ähneln, wäre eine Reduzierung der Protagonisten zuschauerfreundlicher gewesen. Alles in allem ist die Doku auf menschlicher Ebene sehr berührend und sehenswert. Auf eine schwere Moralkeule wird aber verzichtet. Die Perspektiven werden dargestellt und unterstreichen einander. Viele andere Journalisten könnten sich von diesem sachlichen Beitrag etwas abschauen.


Fabian Kramer wird im Schwarzwald zum Koch ausgebildet. Für Tichys Einblick betätigt er sich als freier Autor.

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Kommentare ( 27 )

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Roland Mueller
1 Jahr her

Nichts ist wirklich anders geworden. Wir hören den gleichen antirussischen Propagandamüll wie 2014 dieses Mal ohne die hirnrissigen Tiervergleiche. Der Rest ist wie gehabt einschließlich Lügen, wie z. B. die erfundenen Massenvergewaltigungen oder Russen, welche nur noch mit Spaten kämpfen, mit extrem kurzer Halbwertzeit.

Wolfgang Schuckmann
1 Jahr her

Mit dem Unterschied, dass die russischen Bürger ihre Staatsführung nicht in Frage stellen und sehr geschlossen, hört man, hinter der politischen Agenda stehen, weil sie vielleicht bemerkt haben könnten, wie fragwürdig die Motivation des Westens sein könnte.

Montesquieu
1 Jahr her

Auf Arte lief letztens eine gute Doku über das, was seit 2014 im Donbas passierte: „„Donbass: Leben auf verbrannter Erde“. Ist in der Mediathek abrufbar.

Kassandra
1 Jahr her
Antworten an  Montesquieu

Der Schweizer Analyst Jacques Baud beleuchtet weiter und über das Tagesgeschehen hinaus: https://schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-international/hintergruende-und-elemente-des-ukraine-krieges.html
Nachdem man das las – was bleibt dann von der „Dokumentation“? Denn es gibt auch keine richtige Dokumentation im grundsätzlich Falschen!

Haeretiker
1 Jahr her

Wer will mitten in einem Krieg den Eindruck erwecken, eine Dokumentation zu senden ohne Intentionen? Und dann noch produziert vom Phoenix/DW. Ich glaube doch auch nicht den Statements der russischen Regierung. Man sollte nicht die Intelligenz der Rezipienten beleidigen.
Dies zum ersten. Zum zweiten: Alles in allem wünschte ich mir auch eine Doku die auf menschlicher Ebene ebenso berührend und sehenswert die Kriegsopfer und Kriegsfolgeopfer in Afghanistan, Libyen, Syrien, Irak zeigen. Und da meine ich die wirklichen Opfer, die die nicht aus dem Dreck herausgekommen sind und andren Ende auch keine Schokolade winkt.

Kassandra
1 Jahr her
Antworten an  Haeretiker

Patrick Lancaster ist im Donbass immer wieder vor Ort und lässt die, die seit 2014 „verfolgt“ werden, zu Wort kommen.
Die, die bei uns auftauchen, kommen eher nicht von da. Und die, die die großen Autos fahren, können nicht „bedürftig“ sein. Auch das, was uns zugemutet wird wie die Milliarden für Waffen – ein teurer hoax. Wiewohl Menschen jeden Tag sterben.

Markenkern
1 Jahr her

Diese Sendung stiftet mehr Verwirrung und erzeugt zum Teil falsche Emotionen und erzeugt Vorurteile. Wer ein wirkliches Interesse an den wahren Hintergründen und Ursachen des Ukraine Krieges hat, dem empfehle ich die Analyse der Kriegsursachen und die Zustandsbeschreibung eines hohen Offiziers der Schweizer Armee hier zu finden: https://uncutnews.ch/hintergruende-und-elemente-des-ukraine-krieges/

Michael Palusch
1 Jahr her

Die Kommentare lassen hoffen! Bei der TE Redaktion scheint sich, zumindest was den Kommentarbereich betrifft, die Erkenntnis Bahn zu brechen, dass das Schwarz-Weiß-Bild nicht länger aufrecht zu erhalten ist. Aus eigener Erfahrung mutmaße ich mal darauf los: Noch vor wenigen Wochen wären mindestens 80% der untenstehenden Meinungen (Stand: 10:39Uhr) kommentarlos in den elektronischen Papierkorb gewandert. Bisher galt doch, der Krieg wurde durch Russland ohne Vorgeschichte vom Zaun gebrochen und die ~14.000 durch die Ukraine getöteten Zivilisten im Donbas seit 2014 waren ebenso russische Propaganda wie der berechtigte Einwand, das Merkel, Hollande und Poroschenko völlig schambefreit ausplauderten, Minsk I und II… Mehr

Last edited 1 Jahr her by Michael Palusch
Dietrich
1 Jahr her

Sehr eindimensionale Dokumentation, die nur die eine Seite des Krieges beleuchtet, weshalb es gar keiner „Moderation“ bedurfte und man nur die Bilder sprechen lässt. Gestorben und gelitten wurde und wird aber auf beiden Seiten. Kriege waren niemals eindimensional, außer für Demagogen. Wertvoll wäre die Dokumentation geworden, wenn man auch die andere Seite im Donbass mit 10 Schicksalen verknüpft hätte, die seit 2014 unter dem Bombenhagel von Kiew gelitten hat und zu 14000 Opfern führte, die im Westen heute totgeschwiegen werden, als wäre es nie passiert und die Putin den Vorwand gaben, das Morden mit seinem Angriff zu beenden. (Minsk II.… Mehr

Kassandra
1 Jahr her
Antworten an  Dietrich

2014 und Ukraine eingeben ist auf jeder Suchmaschine eine Fundgrube sondergleichen – auch hinsichtlich Korruption. Schlimm!
Auch 2014 – Ukraine und beliebige Journalisten wie talk-Namen sind bloßstellend. Auch 2014 Ukraine Gauck. Ein schlimmer Agitator – wiewohl er momentan von der Bühne genommen scheint.
Steinmeier war Außenminister – auch das ein Treffer.

Chris Groll
1 Jahr her

Obwohl ich die USA und ihre Bürger sehr mag, muß ich Ihnen bei allem, was die Regierungen angerichtet haben, zustimmen.
Die Jahre, in denen Trump Präsident war, waren dagegen auf Ausgleich und Friedenssicherung bedacht.

Wolfgang Schuckmann
1 Jahr her
Antworten an  Chris Groll

Da kann ich aus eigener Erfahrung nur zustimmen. Ich habe zweimal erlebt was den Unterschied in den USA ausmacht. Einmal die sehr liebenswerten US- Amerikaner ohne Staatseinfluss und dann die “ Offiziellen „, die dazu da sind die Ordnung im Sinne der amerikanischen Staatsräson zu erhalten.
Wie Tag und Nacht.

Kuno.2
1 Jahr her

Wenn der Westen mit der Politik des gewählten Präsidenten Janukowitsch nicht einverstanden war, dann hätte man nur noch 1 Jahr bis zur nächsten Präsidentschaftswahl warten brauchen. Aber einige Natohasser innerhalb der Nato wollten nicht warten und inszenierten den Putsch im Februar 2014. Da das Putschistenregime als eine der ersten Maßnahmen damit begann die russische Bevölkerungsminderheit zu diskriminieren folgte die Abspaltung der ostukrainischen „Republiken“. Daraufhin griff die ukrainische Armee mehr und mehr deren schwache Selbstverteidigungskräfte an, auch mit Artillerie gegen Wohngebiete. Da ist es nicht verwunderlich, dass Moskau militärische „Berater“ dorthin schickte. Die Sache eskalierte immer weiter und führte zum russischen… Mehr

Last edited 1 Jahr her by Kuno.2
friedrich - wilhelm
1 Jahr her

……..die aussagen der betroffenen haben ihre berechtigung, seien sie richtig im geostrategischen spiel, oder falsch, doch eins ist für mich als kind des zweiten weltkrieges klar: es kann nicht – wie der westen, vor allem die usa, sagt, um eine regelbasierte weltordnung gehen, die die usa festsätzt, sondern es geht um eine multipolare weltordnung nach den regeln einer un – satzung! schon bismarck hat davon gewußt, daß die völker in europa friedlicher zusammengehen, wenn deutschland und russland auf dem eurasischen kontinent einig und gut freund sind, als wenn d a s nicht der fall ist.
all the best from washington!

Thomas
1 Jahr her
Antworten an  friedrich - wilhelm

Wenn Deutschland ernstgenommen werden will von den Wölfen, zu denen Russland auch gehört, muss es selber stark sein.
Putins Russland verachtet Schwäche und nutzt diese gnadenlos aus. Stärke hingegen wird respektiert.
Momentan befindet sich Deutschland in einer historischen Schwächephase, mutwillig herbeigeführt, begonnen mit RotGrün 1998.
Der Weg zurück nach oben wird lang und steinig.
Aber Russland hat es auch geschafft die 1990er zu überwinden (und deswegen den Hass des Westens auf sich gezogen, der sich den „Beziehungsreset“ ganz anders vorgestellt hat).

friedrich - wilhelm
1 Jahr her
Antworten an  Thomas

…….zu zeiten bahr und brandt hatte deutschland noch eine starke wehrmacht, wenn es auch sehr von den amerkanern abhängig war……, das ebenso wie heuer ein besatzungsregime ausübt(e)!

Last edited 1 Jahr her by friedrich - wilhelm
Wolfgang Schuckmann
1 Jahr her
Antworten an  friedrich - wilhelm

Deutschland hatte damals keine Wehrmacht sondern die “ Bundeswehr, und die war zutiefst in die Agenda der US – Amerikaner verflochten. Die Bundeswehr sollte die ersten Angriffswellen der damaligen roten Armee brechen, für mehr war sie nicht vorgesehen. Deutschland hätte, wäre es zum Verteidigungsfall gekommen, den nächsten Blutzoll für die Freiheit amerikanischer Lesart entrichtet. Von einer irgendwie gearteten Souveränität Deutschlands gegenüber seiner Kriegsgegner aus WK II muss nicht geredet werden, weil es die bis heute nicht gibt. Deutschland ist zu einem Tributpflichtigen Kriegsverlierer geworden und wird das auch bleiben. Wie sie schon richtig schreiben, ist Deutschland Besatzungsland, nicht mehr aber… Mehr