Wie die ARD mit dem Sonntagskrimi der Stadtflucht entgegenwirkt. Selten hat man in einem Kriminalfilm mit ähnlichem Eifer Vorurteile, Klischees und eine gehörige Portion Boshaftigkeit verrührt. Am Ende wird sich mancher zweimal überlegen, ob die Schwäbische Alb zu den bevorzugten Zielen gehören kann.
Der Schimanski-Tatort: „Duisburg-Ruhrort“ mit Götz George (†77) erhält in der Mediathek folgenden Warnhinweis: „Das folgende fiktionale Programm … enthält Passagen mit diskriminierender Sprache und Haltung.“ Denselben Text hätte man der aktuellen Folge aus dem Stuttgarter Tatort voranstellen können: Selten hat man in einem Kriminalfilm mit ähnlichem Eifer Vorurteile, Klischees und eine gehörige Portion Boshaftigkeit verrührt.
Die Rahmenhandlung verlegte das Tatort-Team in und um einen Gasthof mit Tiernamen (zum Hirschen), den eine Familie bewirtschaftet, deren Tagwerk die Kamera (Michael Merkel) mit spürbarem Widerwillen und Befremdung einfängt. In dem fiktiven Dorf „Waldingen“ (120 Einwohner) sind nicht nur die Lichtverhältnisse düster. Man flucht, bekreuzigt sich aber kurz danach, um Gottes Vergebung zu erlangen. Kinder werden nicht nur als billige Bedienungen und zur Küchenhilfe eingespannt, sondern auch gezwungen, den elterlichen Gasthof später zu übernehmen, um Papa und Mama im Alter abzusichern.
Die männlichen Einwohner verbringen ihre Wochenenden gerne auf dem Schießstand im Wald, grillen danach ganze Säue am Spieß. Abends am Stammtisch gibt man in der Runde mit dem – ungeladenen – 38er Special-Revolver an, „ideal, um den Fangschuss zu setzen“. Als Beilage gibt’s derbe Zoten und man betatscht die Bedienung. Und: Dauernd läuten die Glocken, bellt irgendein Hofhund oder muhen die Kühe.
Hannah Riedle (Mia Rainprechter) ist jung und sportlich, will aus dieser Umgebung – wer kann es ihr verdenken – ausbrechen. Gegen den Willen ihrer Mutter und Wirtsfrau Luise Riedle (Julika Jenkins) will sie nach Sturgert (Schwäbisch für Stuttgart, in diesem Krimi wird Mundart gesprochen) ziehen und in die Tischlerinnen-Lehre gehen. „Ora et Labora“ (bete und arbeite), das Leben ihrer Eltern, wolle sie nicht. Diese Haltung stößt auf den ungezügelten und brachialen Widerstand der Mutter, die das für „Schwachsinn“ hält, findet, ihre Tochter hielte sich für „etwas Besseres“: „Es kann doch nicht jeder machen, was er will … wenn sie das macht, ist sie für mich gestorben …“. Hannah schmeißt noch eine teure Terrine auf den Boden und setzt die Ankündigung in die Tat um. Kurze Zeit später wird sie in Stuttgart erwürgt aufgefunden.
Die Ermittlungen führen Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) nach Waldingen, wo Buch (Norbert Baumgarten) und Regie (Andreas Kleinert) die Bühne für ein ganz besonderes Theaterstück hergerichtet haben. Vorhang auf, alle sind verdächtig.
Der trauernde Vater und der geschasste Verlobte
Hannes Riedle (Moritz Führmann) ist der Gastwirt des Hirschen und bricht nach der Todesnachricht zusammen, springt zu lautem Punk-Rock wie ein Derwisch durch die dunkle Gaststube und besäuft sich mit „Selbstgebranntem“. Neben dem Gastgewerbe stellt er Fallen im Wald auf, mit denen er „Kleintiere“ fängt. Mutter Luise liegt derweil im Ehebett und macht sich wegen des Streits mit Hannah Vorwürfe.
Hannes hat Mühe, sie am nächsten Morgen wieder zur Arbeit zu bewegen, zieht sie hoch: „Komm, ned aufgebe, es isch scho nach Acht, ned hängelasse …!“ Argwöhnisch hat der Vater heimlich beobachtet, wie Hannah und ihre Freundin Laila (Muriel Leinauer) sich aneinander gekuschelt haben. Ob das etwas zu bedeuten hatte?
Mit Freund Martin Gmähle (Sebastian Fritz) hat Hannah einfach Schluss gemacht. Der Bankdrücker und Bodybuilder hat alles versucht, sie zurückzugewinnen, sogar, sich die Haare blond zu färben – alles zwecklos. Seine Vorstellung war, dass sie bei ihm bleiben würde, wenn er ihr ein Haus, ein Kinderzimmer und eine Ledercouch vor einem großen Flachbildfernseher bietet. Aber Hannah läuft lieber mit ihrer Mädchensportgruppe über die Sandplatzbahn.
„Zu wild, zu laut, die falschen Freunde, die nie gegrüßt hätten“, so ihr Chef und Ausbilder und Vermieter, Pit Winkelblech (Gregor Knop) über sie. Auch die Nachbarin fragt beim Anblick der Polizeibeamten: „Was hat sie nun schon wieder ausgefressen?“ Überhaupt hatte sie (Freundin Laila über sie) „die Schnauze voll von Männern … war wahnsinnig genervt“. Wie zur Bestätigung hängt die Auszubildende am Balkon ihrer neuen Wohnung gegenüber der Tischlerei eine Regenbogenfahne auf, posiert mit Laila vor dem Plakat „Mein Körper gehört mir“.
Der ehemalige Mitschüler
Auch Marek Gorsky (Timocin Ziegler) hatte ein Auge auf Hannah geworfen, obwohl er mit Pia Ertl (Hannah Elischer) liiert ist, die ein Kind von ihm erwartet. Er stellte ihr nach, versuchte sie mit Geschenken zu umgarnen und wird an ihrer Wohnungstüre sogar einmal gewalttätig. Marek arbeitet wie Martin für den größten Arbeitgeber in der Gegend, die Betonbaufirma „Löffler“. Macht sich verdächtig, als er versucht, der Befragung durch die Kommissare zu entkommen, indem er Lannert anfährt.
Von den Dorfbewohnern werden die Polizisten argwöhnisch beäugt. Alle finden, Hannahs Schicksal „komme davon“, wenn man nach Stuttgart zieht, wo es ja nun viel gefährlicher wäre, „wegen der ganzen Araber und so“. KHK Bootz widerspricht: „Nun seien sie aber still“ – Antwort: „Ach so einer sind Sie“.
Lannert, der sich im „Hirschen“ eingemietet hat, verfällt den fleischlichen Reizen der Schwäbischen Küche, seine Taille „spannt“ vor lauter Eisbeinen mit Sauerkraut, aber so recht kommen die Beamten mit den polizeilichen Erkenntnissen nicht vorwärts.
Rauh pfeift der Wind auf der Alb
Mehrere Zwischenfälle rücken die scheinbar so intakte Dorfgemeinschaft ins Zwielicht. Als Mutter Riedle vom Tod ihrer Tochter unterrichtet wird, stürzt sie in der Küche. Niemand eilt ihr zu Hilfe. Thorsten Lannert sitzt verletzt auf dem Boden im Hof der Firma Löffler, keiner kümmert sich um ihn. Als Marek Gorsky vom Ex-Verlobten Hannahs angegriffen und verprügelt wird, hilft ihm niemand aus der Reihe der Dorfbewohner und Arbeitskollegen, die ungerührt zusehen.
Sie misstrauen, schneiden und bezichtigen ihn, der Mörder zu sein – nur weil seine Eltern aus Polen, „dem Osten“ zugewandert waren. Lannert und Bootz sind daran nicht ganz unschuldig, weil sie ihre Erkenntnis, dass Gorskys Mobiltelefon sich nicht in der Nähe des Tatorts eingewählt hat, er es somit nicht gewesen kein kann, nicht weitergeben.
Zum Schluss: Blutrache auf Schwäbisch
Luise Riedle ist überzeugt, dass Marek Hannah auf dem Gewissen hat. Sie zwingt ihren Mann mit einer Selbstmorddrohung „Auge um Auge, ich kann nicht mehr leben, wenn der davonkommt“ dazu, seine Hinrichtung zu planen. Er sabotiert dessen Wagen durch Stiche in den Reifen. Keiner der Kollegen nimmt den Hilfesuchenden mit, worauf ihn Riedle in sein Auto lotst und im Wald erschießt und verscharrt, obwohl er selbst an dessen Schuld Zweifel hatte.
Der wahre Mörder Hannahs war ein Pizzalieferant, dem sie zufällig in die Hände fiel. Die Stuttgarter Kommissare nehmen ihn fest, als sie sich von ihm eine Pizza liefern lassen. Diese Aufklärung des Falls dient allerdings nur noch der Abrundung des Theaterstücks, an dessen Ende sich mancher zweimal überlegen wird, ob die Schwäbische Alb zu den bevorzugten Zielen gehören kann.
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Eigentlich genügt doch in der Sparte ÖRR die Talkshowbeobachtung, jetzt bitte nicht noch immerzu die Tatorte nacherzählen. Ich weiß schon, warum ich die schon längst nicht mehr schau und die fehlen mir auch nicht.
die alten bis ca.2000 sehe ich gerne, am liebsten die aus den 70er jahren, da waren die kommissare noch herrlich normal undd das allgemeine level war höher.
Schade. Witzig wäre es gewesen, wenn der Mörder am Ende ein Araber aus Stuttgart gewesen wäre, der auf der Schwäbischen Alb Pizza ausfährt. So aber ist’s nur erwartbar langweilig. Man spürt die Absicht und ist amüsiert, was alles aufgeboten wird, um den Bürger vor dem Fernsehgerät zur richtigen Einstellung gehirnzuwaschen. Man gibt tatsächlich alles, von Böhmermann über Klamroth bis zum „Tatort“. Ich kann übrigens die Schwäbische Alb zur Erholung wärmstens empfehlen. Es ist eine rauhe Gegend mit viel Natur, ideal zum Wandern für jedermann. Es gibt dort nichts wirklich Spektakuläres, aber viele kleine Kostbarkeiten. Und danach geht’s in die Wirtschaft,… Mehr
Ein Tatort wie aus den ´70ern, echt Nazi.
Passt doch in die heutige Zeit in der sich Könige wieder selber krönen.
Man darf gespannt sein wieviele Königsanwärter, oh sorry Kanzlerkandidaten, es diesmal werden.
Der Tatort ist keine spannende Unterhaltung, sondern ein Erziehungsfilm mit pädagogischer Absicht. Die Zuschauer:in soll für richtiges und falscher Verhalten sensibilisiert und einen 90-minütigen Lernprozess durchlaufen, bevor die erworbenen Kenntnisse bei Miosga vertieft werden. Zukünftig ist auch ein weiterer Onlinetest vorgesehen, den man freiwillig machen kann, aber besser nicht verweigern sollte. Ansonsten läuft ein Tatort immer nach dem gleichen Muster ab. Tod einer Person in den ersten 3 Minuten. Anschließende Aufführung verschiedener, meist schräger Charaktere, die durch einen politisch korrekt arbeiten Polizisten, der Zuschauer:in nahe gebracht werden. Oft ist dann doch ein böser Kartoffeldeutscher der Täter, der zwischen Minute 80… Mehr