Die verrutschte Menschlichkeit

Nur wer sein Gesicht zeigt, kann komplett kommunizieren. Worte genügen nicht. Und wer die Lippen des andern nicht lesen kann, versteht ihn meist nicht gut. Drei Erlebnisse aus der Zeit der maskierten Menschen.

IMAGO / ZUMA Wire

Erstens: Mein leicht entflammbarer heiliger Zorn spricht bayerisch. Als eine Verkäuferin hinter der Glasscheibe plus Maske nicht zu verstehen ist, entfährt es mir: „Nemmas halt Ihrn bleeden Fotzndeckel ab!“ Hier hilft das Bayerische leider nicht, wo es doch so viele schöne Ausdrücke für das Gesicht, den wertvollsten Körperteil des Menschen bietet: die Bappn, der Riaschl, das Gfries, die Goschn und eben auch die Fotzn. „Magst a Fotzn!“ ist keine sexistische Frechheit, sondern die Androhung einer Ohrfeige.

Die Maske gilt von allen Zwangsmaßnahmen als die mildeste. Aber Vorsicht! Je länger sie gilt, desto gefährlicher ist sie. Sie beschädigt im wörtlichen wie im übertragenen Sinn unser Bild vom Menschen. Das Individuum ist nur am Gesicht erkennbar – doch das Individuum zählt nicht mehr. Deshalb ist das Gesicht unverzichtbarer Ausdruck von Freiheit. Wir aber werden – ich fürchte, auf Dauer – nur noch mit Maske für komplette, kollektivfähige Staatsbürger gehalten.

Die medizinische Maske ist die Uniform der Angst, die Tarnkappe der Panik in den Gesichtern, das Banner der Achtsamkeit. Die Maske ist eine weiße Fahne. Die Normalität hat kapituliert.

Es siegt die Absurdität: Nur der mittels Maske unkenntlich gemachte Mensch wird noch als menschliches Wesen akzeptiert. Da ist etwas gründlich verrutscht, nicht nur über die Nasenspitze.

Im Gesicht sitzen nicht bloß die wichtigsten Sinnesorgane, sondern auch die Muskeln unserer Mimik. Wir wissen sekundenschnell Gefühle und Gemütszustände auszudrücken: Zorn, Trauer, Freude, Ekel, Begehren, Zuneigung, Müdigkeit. Nur wer sein Gesicht zeigt, kann folglich komplett kommunizieren. Worte genügen nicht. Und wer die Lippen des andern nicht lesen kann, versteht ihn meist nicht gut.

Das gilt übrigens auch für das Hören von Musik. Die Vibrationen der Musik nehmen wir mit dem ganzen Körper auf, besonders auch mit dem Mund, die Rhythmen beeinflussen unsere Atmung. Das funktioniert hinter Masken nicht. Und beim Dirigieren, wohlgemerkt, ist die Mimik genauso wichtig wie die Hände.

Vor allem zwischen kleinen Kindern und ihren Eltern, zwischen Schülern und Lehrern, im Dialog zwischen Klassenkameraden hat Mimik eine unverzichtbare Funktion. Das Gesicht lobt und tadelt, warnt, fordert auf, beruhigt, spottet, droht, und ermuntert. Die Maskenpflicht erzeugt deshalb beim Kind Ängste mit langfristigen psychischen Folgen. Nur gar keine Schule ist noch schlimmer. Aber das ist wahrlich kein Trost.

Mit Maske sind wir amputiert. Mit Maske, ob wir wollen oder nicht, sind wir auf Distanz zum andern. Sagen wir es, wie es ist: Die Maske nimmt die menschlichen Züge. Sie ist ein inhumanes Instrument. Man sollte deshalb die Maskenpflicht niemals als neue „Normalität“ akzeptieren.

Zweitens: Der Blick durch die Eingangstür einer Galerie. Ich nehme das Gebotsschild unwillkürlich als Teil einer Kunstinstallation wahr und bringe es mit dem als Häschen maskierten Playgirl in Beziehung. Die „Maskenpflicht“ wird hier demaskiert als das, was sie ist: obszöner Unsinn und Ausdruck nackter Verzweiflung. Der berühmte Satz von George Orwell lässt sich mühelos auch auf den Corona­-Staat anwenden. „Mit Fünfzig hat jeder das Gesicht, das er verdient.“

Das mag für Individuen gelten, aber eben auch für ein Gemeinwesen, das in pandemische Panik gerät. Dialektik: Mit der Maskenpflicht lässt die real existierende Demokratie die Maske fallen. Sie zeigt nun offen die Fratze darunter.

Es gilt auch für das beste Deutschland aller Zeiten das Wort von Albert Camus: „Ab einem bestimmten Alter ist jeder Mensch für sein Gesicht verantwortlich.“ Wenn das stimmt, dann hat Deutschland allerdings allen Grund, Maske zu tragen, um moralisierend zu verbergen, dass die Freiheit den Bach hinuntergeht. Für den Untertanen gilt, dass er nicht mehr für sein Gesicht verantwortlich sein darf, sondern nur noch dafür, seine Visage vorschriftsmäßig zu verbergen. Offene Gesichter gelten als Zumutung. Sie nehmen sich eine Freiheit heraus, die ihnen nicht zusteht.

Nebeneffekt: Man spricht natürlicherweise niemanden an, der nicht erkennbar ist, sondern nur den Wunsch nach Distanz signalisiert. Es ist keine Kleinigkeit, dass wir seit zwei Jahren systematisch dabei behindert werden, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Die erzwungene Maskierung ist auch eine Form der Isolation.

Aus gutem Grund kennt das deutsche Versammlungsgesetz ein Vermummungsverbot. Wer öffentlich für eine Sache demonstriert, soll auch mit seinem Gesicht dafür einstehen. Inzwischen trifft Demonstranten die Vermummungspflicht, ohne dass das Verbot abgeschafft wäre.

Drittens: Sehen Sie, wie mich das Gegenüber (w/m/d) misstrauisch anstarrt! Ich fotografiere ungeniert, ohne ihn um Erlaubnis zu bitten. Das wage ich nur, weil wir beide Maske tragen. Es ist trotzdem unverschämt. Die Hemmschwelle ist verschwunden, weil ich den/die/das andere nicht mehr als Person wahrneh­me. Die Maskenpflicht macht den Einzelnen unsichtbar. Mit Maske ist er nur anonymer Teil einer Masse.

Es ist noch schlimmer: Wir sehen im Mitmenschen eine potenzielle Bedrohung, einen Gefährder. Der maskierte Passagier mahnt unentwegt: Vorsicht! Abstand! Nähe kann tödlich sein! Ja glaubt denn irgendwer, das hätte auf Dauer keine tiefen Auswirkungen auf das Zusammenleben?!

Ich spüre es an mir selbst. Weil mich mit Maske niemand erkennt, gerät mein Zorn grobschlächtiger, unverschämter, hemmungsloser, beleidigender. Ich lasse mich gehen. Das ist nicht gut. Das Leben wäre ohne Maske gesünder.


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Kommentare ( 82 )

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82 Comments
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ReneKall
2 Jahre her

Neulich beim Zwangstest, weil man ja sonst nicht mehr arbeiten darf: Es standen ca. 30 Leute vor dem Eingang und warteten mit mindestens 1,5m Abstand auf Einlass. Alle maskenbewehrt, nur ich stelle mich ohne an. Genau konnte ich es nicht einschätzen, ob ich entsetzte Blicke erntete. Man kann ja die Gesichter nicht sehen. Es dauerte nicht lange, da tauchte ein Security auf und forderte mich auf eine Maske aufzusetzen. Ich wand ein dass man sich hier im Freien befindet, Abstand einhält und noch nicht einmal ein Maskengebotsschild aufgestellt war. Allein, es war sinnlos, entweder ich ziehe eine Maske auf oder… Mehr

Barbarossa
2 Jahre her

Natürlich wäre das Leben ohne Maske gesünder, lieber Herr Herles. Aber ich finde, wir sollten auch die Kirche im Dorf lassen und diese Entwicklung gelassener sehen. Hier, wo ich lebe, habe ich während dieser ganzen Sch… noch nie, ich wiederhole: noch nie eine solche Maske getragen! Warum? Weil ich es nicht will, und weil es Unsinn ist, punktum. Zugegeben: man schafft sich dadurch nicht unbedingt Freunde, aber so ist es nunmal, wenn auch seit Corona bewiesen: Individalität und Freiheit gibt es nicht zum Nulltarif. Man muß sie sich immer wieder erstreiten. In der Vergangenheit waren wir zwar ein paar Jahrzehnte… Mehr

Evero
2 Jahre her

Ist Fasnacht in Zeiten von Corona dadurch gekennzeichnet, dass die „Maskierten‘ im Unterschied zum Alltag keine Maske tragen und man sie so an der Mimik als Jecken erkennt?

Coronamaskenträger sind ja freudlose Zombies.

Halfrunt
2 Jahre her

Wow, da kommunizieren wir schon seit mehr als 100 Jahren über das Telefon und wir erkennen erst jetzt, dass das gar nicht richtig funktioniert weil wir unser Gegenüber nicht sehen und daher das Gegenüber auch gar nicht richtig verstehen können, weil wir nicht von den Lippen lesen können.
Was für ein Glück, dass wir es nun mit den Masken erkennen konnten. Sonst hätten wir womöglich, bis ans Ende der Menschheit so weitergemacht und wären nie zu dieser Erkenntnis gekommen.
Aber besser spät als nie.

Ticinese
2 Jahre her

Die Maske liegt auch ohne Corona voll im Zeitgeist: Statt liberalen Individualismus ein sozialistischer Kollektivismus, statt John Locke wieder Hegel und Marx, statt offene Gesellschaft eine Stammesgesellschaft der Sprachschwurbler, Genderistinnen und LGBTI.
Masken am „Carnevale“, dem Tag der Fleischeslust (und der ausserehelichen Amouren), sollten nicht den tristen Alltag prägen.
 
 
 

Maja Schneider
2 Jahre her

Sie sprechen mir aus der Seele, lieber Herr Herles, es ist wirklich inzwischen äußerst schwierig geworden, maskierten Menschen im Freien, allein im Auto oder auf dem Fahrrad nicht den ganzen Zorn spüren zu lasen, die einen überkommt beim Anblick dieser „Folgsamen“. Als Höhepunkt in letzter Zeit war es eine Spaziergängerin im Wald, die beim Anblick anderer Menschen schnell ihre Maske aufsetzte, nicht mehr weiterging und aus zehn Metern Entfernung uns anherrschte, wir stünden bzw. zu dritt (ein Nachbar lief uns über den Weg) zu nahe zusammen und sie wüsste ja nichts über unseren Impfstatus, wir könnten schließlich Virenträger sein, und… Mehr

Wittgenstein
2 Jahre her

Lieber Herr Herles,

Zugangsregeln eines Coffeeshops um die Ecke:

Ohne Test
– 3x geimpft (Booster-Impfung)
– 2x geimpft mit J&J
– 2x geimpft + 1x genesen (PCR-Test)
– Kinder/Jugendliche bis 15 Jahre

Mit Test (PCR ab 27 Tg.- 90 Tg.)
– 1x geimpft + 1x genesen
– 2x geimpft

ToGo-Angebote ohne Voraussetzung

– Maske beim Ein-/Austritt
– Maske beim Toilettengang
– Handdesinfektion
– 1,5m Abstand immer
– Wer Symptome aufweist – kein Zutritt

Da war der Kaffee kalt!

Die Kirche um die Ecke stellt regelmässig das Schild vor Tür:

„Wegen Gottesdienst geschlossen“

Christa Wallau
2 Jahre her

Wenn ich Menschen sehe, die im Freien mit Masken herumlaufen, frage ich mich, ob ich diese wohl noch für „normal“ im Sinne von „dem gesundem Menschenverstand verpflichtet“ halten soll. Leider sind es nicht Wenige, die mir maskiert draußen begegnen. Das ist keine gutes Zeichen für unsere Demokratie. Wo wird uns dieser blinde Gehorsam gegenüber schwachsinnigen Vorgaben noch hinführen?

bfwied
2 Jahre her
Antworten an  Christa Wallau

Leute sitzen allein im Auto – und tragen diese *Maske! Der Kassierer im Supermarkt sitzt hinter einer Glaswand, trägt keine Maske, aber pflaumt einen Kunden unverschämt an, weil der die „falsche“ Maske trägt, die 2 J. lang als die richtige angesehen wurde, jetzt aber von einer absurden Regierung als falsch derklariert wird. Auf dem frühmorgendlichen zugigen fast menschenleeren Markt drohen städtische Angestellte, heftige Strafen zu verhängen, wenn man die Nase frei hat oder gar keine Maske trägt. Es geht nicht um die Maske, es geht um Gehorsam. Wenn linke oder woke Demos/Veranstaltungen voll von Menschen sind, ohne Maske, und niemand… Mehr

Kassandra
2 Jahre her

Ich sehe Grundschulkinder in der Pause auf dem Schulhof toben – mit Maske. Und wenn sie von Eltern abgeholt werden, auf dem Nachhauseweg, tragen sie sie immer noch. Schlimm!

ComputerMann
2 Jahre her

Nachdem Omikron nach allgemeinem Wissen nur dreimal Husten und dann vorbei ist – gilt es die Maskenpflicht abzuschaffen.

Wie erreicht man das: Spazieren !