Ab 5.47 Uhr wird erzogen

Gabor Steingart bürdet sich die Last des weisen Mannes auf, Polen endlich mit Härte zur Räson zu bringen. Mit ihm kommt der Berliner Journalismus ganz zu sich.

Adam Niescioruk

In der deutschen Presse steht von allen Wissenschaften die Bescheidwissenschaft am höchsten. Auch und gerade gegenüber dem Ausland. Was dem perfiden Albion, den bildungsfernen USA und dem verstockten Polen guttut, weiß niemand so gut wie ein Journalist aus Berlin. In diesem Punkt gibt es ausnahmsweise seit über einhundert Jahren keinen Traditionsbruch. Einen mustergültigen Text über Polen, der im Prinzip hundert ähnliche Kommentare anderswo zusammenfasst, veröffentlichte heute Gabor Steingart, Chefdenker von „Pioneer“, in seinem „Morning Briefing“, das er um 5.47 Uhr herausschickte und damit eine historische Marke haarscharf streifte.

Die Überschrift seines Polen-Textes zeigt schon, wo es lang geht: „Mehr Härte wagen“. Wie man weiß, handelt es sich um ein altes deutsches Problem – die Skrupel, ob Härte gegen den Polen wirklich gewagt werden darf. Unsere ewige Zurückhaltung gegenüber dem östlichen Nachbarn. Dafür, beruhigt uns Steingart, gebe es keinen Grund mehr, da Warschau den Bogen wirklich überspannt: „Unser schwieriger Nachbar Polen will nicht so, wie wir wollen.“ Dann, wenn er wollte wie wir – und nur dann – , könnte man nämlich auf Härte verzichten. Was will der schwierige Pole denn?

„Das europäische Recht – Grundlage eines funktionierenden Binnenmarktes – soll in Polen nicht gelten. Und wenn doch, dann nur, wenn es passt: Polen first.“ Steingart ist wie viele seiner Kollegen ein Meister des Holzschnitts. In der aktuellen Auseinandersetzung behaupten Polens Richter und Regierungspolitiker nicht, dass EU-Recht bei ihnen „nicht gelten“, sondern nur, dass es nicht generell über nationalem Recht stehen soll. Die gleiche schwierige Ansicht vertrat übrigens auch schon das Bundesverfassungsgericht unter seinem früheren Präsidenten Andreas Voßkuhle in seinem Urteil zum Anleihenkauf der EZB, worauf die EU-Kommission mit einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland antwortete. Dass EU-Recht und Rechtsprechung nicht immer und automatisch über der Verfassung stehen, ergibt sich auch aus Grundgesetzartikel 20. Und mehr oder weniger aus allen Verfassungen der Mitgliedsländer.

Aber wer mehr Härte will, kann und muss sogar mehr Vereinfachung wagen. Polen, so Steingart, werde sowieso nicht aus der EU austreten, weshalb auch keine übertriebene Rücksicht wie seinerzeit gegen Großbritannien angezeigt sei. „Hier die fünf Gründe“, schreibt der Pionier aus Berlin, „warum die neue Bundesregierung nahezu risikofrei eine entschlossenere Haltung gegenüber Polen einnehmen kann.“ Risikofrei eine Haltung einnehmen – das ist überhaupt die Spezialstrecke des deutschen Kommentariats. Hier macht ihm weltweit niemand etwas vor. Irgendetwas, das ahnt Steingart, war da mit Polen und der Historie. Daraus begründet er, warum niemand so gut geeignet sei wie Deutschland, Polen auf den richtigen Pfad zu führen: „Die gemeinsame Geschichte, die vor allem auch eine Leidensgeschichte ist, verbindet unsere beiden Völker. Polen ist ein geschundenes, ein verletztes Land, das die Distanz zu Russland und die Nähe zu Deutschland sucht … Zwischen Deutschen und Polen existiert ein Wärmestrom.“

Wer als geschichtlich unbefangener Leser das Morning Briefing von 5.47 Uhr studiert, könnte meinen, Deutschland und Polen seien in der Vergangenheit irgendwie gemeinsam von Russland überfallen worden. Zwischen Deutschland und Polen gibt es zum Glück heute viele Beziehungen, und nicht unbedingt der Wärmestrom, aber der Stromfluss von Polen nach Deutschland dürfte, ganz nebenbei, in Zukunft noch wichtiger werden als jetzt, jedenfalls dann, wenn 2030 zur Weltklimarettung das letzte deutsche Kohlekraftwerk vom Netz geht. Da besteht allerdings eher eine bundesrepublikanische Abhängigkeit von Polen als umgekehrt. Aber vielleicht stellt sich der frühere „Handelsblatt“-Chef das ideale Außenwirtschaftsverhältnis genau so vor: Polen liefert Kohlestrom nach Berlin, Deutschland Belehrungen nach Warschau.

Es folgen noch weitere Argumente: das viele Geld, das die Polen von der EU erhalten (eigentlich von den Steuerbürgern) und das sie nicht mit entsprechendem Wohlverhalten vergelten. Außerdem: Sollte das östliche Nachbarland je in einen militärischen Konflikt mit Russland geraten, so Steingart, dann würde ihm die Bundeswehr nur dann zur Seite stehen, wenn sich die polnische Regierung künftig an den Wertekanon der Redaktionsbüros von Berlin Mitte hält. Vermutlich würde die polnische Armeeführung im Ernstfall nach Berlin mailen: Bitte helfen Sie uns nicht, allein ist es schon schwer genug, aber das nur als Fußnote. Zum Schluss fasst Steingart zusammen, was jetzt passieren muss: „Polen soll nicht unterdrückt, nur demokratisch erzogen werden. US-Pädagogen raten im Umgang mit Problemkindern übrigens nicht zur Moderation, sondern zur Strenge. Ihr Konzept: Tough Love.“

Ein Land mit 38 Millionen Einwohnern, die unterschiedlich denken, unterschiedlich wählen, allerdings eine Geschichte mit vielen Erziehungsversuchen teilen, kollektiv auf den Status eines Kindes und dazu noch eines Problemkindes zu stufen – das geht noch ein bisschen weiter als Rudyard Kipling in „The White Man’s Burden“, in dem es über die Völker außerhalb heißt: „Our new caught sullen people/half devil and half child”. Kipling, ein brillanter und heute natürlich als kolonialistisch verfemter Autor, kannte Indien hervorragend, sprach Hindi und stand eigentlich, wie sich in „Kim“ nachlesen lässt, eher auf der Seite der indischen Völker. Steingarts Bild von den Schwierigpolen lässt sich in einer Zeile zusammenfassen: ‚halb Kind, halb Problemkind‘. Ohne Erzieher aus Brüssel und Berlin wäre Polen verloren.

Wäre Steingart nicht ein so hervorragender Vertreter seines Milieus, das immer den gleichen Kommissstiefel schreibt, dann würde er zumindest den Satz Hannah Arendts kennen: „Wer erwachsene Menschen erziehen will, will sie in Wahrheit bevormunden und daran hindern, politisch zu handeln.“ Aber Arendt steht bekanntlich für die Vergangenheit, Steingart dagegen für die intellektuelle Gegenwart an der Spree und wahrscheinlich erst recht die Zukunft. Wer sich als deutscher Journalist die Last des weisen Mannes aufbürdet und erwachsene Polen erziehen will, erhält demnächst irgendeinen kerndeutschen Preis für europäische Verständigung.

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Kommentare ( 105 )

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Juergen Schmidt
3 Jahre her

Die EU ist eine Vertragsgemeinschaft. Polen hält sich an die Verträge.
Der »gemeinsame europäische Wertekanon«, was soll das eigentlich sein? Wer legt den fest? Was steht da drin – kann man das irgendwo nachlesen?
Es ist ein Narrativ, eine Erfindung der totalitären EUdSSR-Konstrukteure. Dient dazu, die bürgerlich-konservativen Mehrheitsgesellschaften in der EU zu bekämpfen, ihnen ihren sozialistischen Willen, ihre zerstörerische Agenda aufzuzwingen.

moorwald
3 Jahre her
Antworten an  Juergen Schmidt

Wenn in der Politik von „Werten“ die Rede ist, sollen handfeste Interessen verschleiert werden.

w.k.
3 Jahre her

Nach dem Polen-Artikel, die Steingart Morning aus den E-Mails aussortiert. Steingart hat sich als eifriger „Great Transfer“- Helfer entlarvt.

Milton Friedman
3 Jahre her

Shithole-Country indeed. Ein elementarer Unterschied zu den Polen ist, dass diese für ihre Freiheit litten und für ihre Rechte kämpften. Nicht schulstreikten oder hüpften, sondern ihr Leben riskierten und das ihrer Familie. Uns musste man eine Verfassung aufzwingen, und wie halbherzig wir damit umgehen sehen wir u.A. an dem von Ihnen Genannten. Aber auch daran wie einfach es manche (die Grünen) haben, die Verfassung mit 8% Stimmenanteil zu verändern oder daran, wie einfach man einfach Grundrechte aushebeln kann (ich glaube da war was mit irgendeiner Pandemie). Und statt jene unter uns zu ehren, die für unsere Freiheit litten, 1848er oder… Mehr

Last edited 3 Jahre her by Milton Friedman
Milton Friedman
3 Jahre her

Herr Wendt mal wieder großartig, Herr Steingart hingegen dämmert auf seinem Hausboot dem Sonnenuntergang entgegen in immer flachere, braun-gekippte Gewässer.

??

Kassandra
3 Jahre her

Jetzt ist er aber erst einmal da, der „Schwachsinn“ – und wird die nächsten Jahre mit unprofessionalität glänzen. https://sciencefiles.org/2021/10/26/szenen-der-verslummung-der-bundestag-als-nachhilfe-schule/ „Alle vier Neu-Abgeordneten sind deshalb Ausdruck einer schon seit Jahren in Deutschland fortschreitenden Entprofessionalisierung, die von einer markanten Infantilisierung begleitet wird. Von all dem ist vielleich am erschreckendsten, dass es sich die vier Neu-Abgeordneten tatsächlich zutrauen, Entscheidungen zum Wohle der Bundesbürger zu treffen. Das ist letztlich der beste Beleg dafür, dass sie nicht über die Erfahrung verfügen, die notwendig ist, um ein Abgeordneter in einem Parlament zu sein.“ Wenn man ein Land übernehmen wollte, könnte man es nicht besser beginnen, als… Mehr

alberto el primo
3 Jahre her

„Zwischen Deutschen und Polen existiert ein Wärmestrom.“ Selten eine so dumme, verlogene Aussage gelesen. Zwischen dem nach dem Ersten Weltkrieg erst neu gegründeten polnischen Staat und Deutschland existierte bis vor rund 30 Jahren gerade das Gegenteil! Noch 1992, als ich mit einer deutschen Schülergruppe eine Paddeltour durch die Masuren machte, wurden wir – anlasslos – von einer Brücke aus von polnischen Jugendlichen mit Steinen beworfen, als sie an unserer Sprache merkten, dass wir Deutsche waren.Und, ehrlich gesagt, es wundert mich nicht bei Typen wie diesem Steingart, die den öffentlichen Diskurs bis heute bestimmen.

Konservativer2
3 Jahre her

Was an Deutschland seit geraumer Zeit auffällt: irgendwie sind alle anderen doof – die USA, Polen, Ungarn, Russland, die pöhsen Engländer… nur wir haben die Weisheit mit dem Löffel gefressen?! Merke: wer einen auf dicke Hose macht, sollte auch, wie z.B. die Chinesen, genügend militärische Ressourcen in der Hinterhand haben. Bei denen sind es schlappe 2 Mio. Bewaffnete. Noch Fragen????

Da muss man den dreisten Mut unserer schreibenden und sendenden Zunft ja fast schon bewundern. Das ist wie Rex Kramer in „Kentucky Fried Movie“!

Hoffnungslos
3 Jahre her

In Polen will man die eigene nationale Souveränität erhalten, bei wirtschaftlicher Zusammenarbeit in Europa. Das ist völlig richtig. Der Versuch von Berlin und Brüssel, die Abschaffung der nationalen Souveränität der Europäischen Staaten zu erzwingen, wird scheitern. Europa wird nie ein zentralistisches Gebilde werden. Europa lebt in und durch seine Vielfalt und seine souveränen Staaten. Europa ist nicht Asien. Ihre nationale Freiheit mußten Polen und Ungarn immer wieder hart erkämpfen. Bleiben Sie dieser freiheitlichen Linie auch im Interesse Europas treu. Freiheit gehört zu Europa.

beccon
3 Jahre her

Die Polen sitzen doch am längeren Hebel. Von der EU-Mitgliedsschaft ist für sie nur der (unantastbare) Binnenmarktzugang von werthaltiger Bedeutung. Die Subventionen treten jetzt wo die Infrastruktur ausgebaut ist und Vollbeschäftigung herrscht in den Hintergrund. Den Rest können auch Kredite aus China leisten, für die unsere Nachbarn die Tür aufhalten. Nebenbei erfüllt sich Polen mit der Drei-Meere Initiative einen alten Traum einer Führungsrolle in Osteuropa (wozu auch Österreich gehört). Gedacht als Gegengewicht zu Brüssel in der EU kann diese auch eine Chance zum Andocken der in Polen so beliebten USA sein. Kurzfristig wird die Kritik verstummen, wenn eine direkte Busverbindung… Mehr

Last edited 3 Jahre her by beccon
Holzdrache
3 Jahre her

Guten Morgen Prophet, Polen wird niemals aus der EU austreten. Polen ist der grösste Transferempfänger (im Gegensatz zu GB) damit Profiteur der EU Zuwendungen und Millionen polnischer Arbeitnehmer profitieren von Arbeitnehmer Freizügigkeit der EU. Jede polnische Regierung die einen Exit vorschlagen würde, wäre in Windeseile abgewählt. Deshalb wird die EU über kurz oder lang Polen kleinkriegen. Leider. Viele Grüsse von der Saar