„Du“ für alle?

„Respekt für dich“, lautete bei der letzten Bundestagswahl (2021) der Slogan der SPD, und ein Versicherungsunternehmen verspricht in der Fernsehwerbung: „Du bist nicht allein“. Das Du meint alle, ohne Unterschied. Die bis vor wenigen Jahrzehnten übliche Höflichkeitsregel, fremde Erwachsene mit „Sie“ anzusprechen, gilt hier nicht mehr. Werden die Deutschen ein einig Volk von Duzern?

MAGO / Rene Traut

Das Anredeproblem „Du oder Sie?“ ist ein Klassiker für Deutschlerner, aber auch für die Deutschen selbst. Seit den 1970er Jahren hat sich die Duz-Zone ausgeweitet, es gibt immer mehr Bereiche, wo sich alle duzen – aber wo liegt die Duzgrenze? Der aktuelle Duz-Trend begann mit der 1968-er-Bewegung, als die Studenten anfingen, einander zu duzen. Vorher war unter Studenten, die sich nicht näher kannten, das „Sie“ selbstverständlich. Schüler duzten sich, Studenten nicht – außer Burschenschaftler, die schon 1818, bei der Gründung der „Allgemeinen Teutschen Burschenschaft“, das Gruppen-Du einführten: „Um das engere Band der Eintracht und Brüderlichkeit zu bezeichnen, nennen sich alle Burschenschaftsmitglieder Du“, heißt es in ihrer Verfassungsurkunde.

„Brüderliches“ Du und „unerträgliches“ Sie

Der Wunsch nach einem – gehoben ausgedrückt – brüderlichen Miteinander ist der Hauptgrund dafür, dass in den letzten Jahrzehnten viele Gruppen, Firmen und Organisationen dazu übergingen, intern Du statt Sie zu verwenden: „Ein allgemeines Du fördert das Miteinander“ und den „Teamgeist“, heißt es; “Duzen schafft Nähe“ und „flache Hierarchien“. Demgegenüber hat das traditionelle Sie einen schweren Stand: Es schaffe „Distanz“, grenze ab, sei „hierarchisch“. Andererseits gilt es als Höflichkeits- und Respektform, und in diesem Sinne äußerte Bundeskanzler Kohl: „Zu Russland muss man Sie sagen“.

Das Du klingt heute gegenüber dem Sie „modern“ und „jugendlich“. Sprachgeschichtlich ist allerdings das höfliche Sie jung, es wurde erst im 18. Jahrhundert üblich. Dem 16-jährigen Goethe, damals Student in Leipzig, passte diese neumodische Anrede überhaupt nicht: „Euer Brief“, schreibt er 1765 an einen Frankfurter Schulkameraden, „ist mir eben zugestellet worden; die Versicherung, dass Ihr mich liebt, … würde mir mehr Zufriedenheit erweckt haben, wenn sie nicht in einem so fremden Tone geschrieben wäre. Sie! Sie! ̶ das lautet meinen Ohren so unerträglich … dass ich es nicht sagen kann.“ Später hat Goethe das Sie gepflegt – in ihrem Briefwechsel (1794-1805) verkehrten Schiller und Goethe per Sie – und nur wenigen Personen das Du angeboten.

Öffentliches „Sie“ – privates „Du“

Das zweigliedrige deutsche Anredesystem Du – Sie setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts allgemein durch: Das Sie verdrängte die älteren Höflichkeitsformen „Ihr“ (für 1 Person) und „Er/Sie + 3. Person Singular“ (Kommt Er/Sie heute Abend?); das Du wurde vor allem zum Zeichen wechselseitiger Zuneigung, weil das einseitige Duzen (der Höhergestellte duzt nach unten, erhält aber eine Respektanrede) massiv zurückging. Kinder durften nun ihre Eltern duzen ̶ eine Anrederevolution, die Goethe nicht mehr mitmachte: Er selbst hat seine Mutter nie geduzt und wurde von seinem Sohn August (geb. 1789) gesiezt: „Ich sehne mich recht nach Ihnen“, schrieb ihm das siebenjährige Kind, und als Erwachsener unterzeichnete August seine Briefe an den Vater mit „Ihr dankbarer Sohn“.

Auch die „Obrigkeit“ musste ihre Untertanen siezen: Die Anrede „Sie + Herr“ stand für bürgerliche Gleichheit und Selbstbestimmung (der Männer). Insgesamt ergab sich folgende Abgrenzung von Du und Sie, die bis Ende des 20. Jahrhunderts die Regel war: Im öffentlichen Raum ist die Anrede mit „Sie“ üblich, im privaten Bereich gilt bei bestimmten sozialen Beziehungen (unter Verwandten, Freunden, Kameraden usw.) das gegenseitige „Du“. Kinder werden grundsätzlich geduzt, ebenso wie Personen in der Lyrik (Gedichte mit Anrede-Sie sind sehr selten).

Das neue, öffentliche „Du“

Das heute verbreitete Duzen in Firmen, Organisationen und im Umgang mit Kunden wird gerne als „Duz-Kultur“ bezeichnet. Faktisch ist es aber ein Duz-Zwang (vergleichbar dem Zwang zum Gendern): Es handelt sich um keinen normalen Sprachwandel, sondern eine Sprachsteuerung von oben. Die Meinung, mit dem allgemeinen Du würden zwischen-menschliche Barrieren und Hierarchien abgebaut, ist eine Illusion: Im Konfliktfall sticht der Ober den Unter – gleichgültig ob per Sie oder Du. Übrigens können die Deutschsprecher durchaus unterscheiden zwischen einem rein konventionellen Du („Hier duzt man sich“) und einem Freundschafts-Du, dem ein Sie vorausging.

Der deutsche Staat hält sich mit dem Duzen seiner Bürger noch zurück. Kein Finanzamt duzt den Steuerzahler, aber beim sogenannten „Bürgergeld“ ist man – zumindest in Berlin – schon weiter: Die dortigen Jobcenter informierten in einer Plakatkampagne die möglichen Bezieher unter der Schlagzeile „Du findest uns zu bürokratisch“, wie einfach man an dieses Geld kommt: „Tatsächlich genügt bereits ein Antrag auf Bürgergeld und wir prüfen, auf welche Leistungen du Anspruch hast.“

Vor zwei Jahrzehnten hätte man dieses Du als „herablassend“ bewertet, heute gilt es als „inklusiv“ und „menschenfreundlich“ – entsprechend dem Leitspruch der Berliner Jobenter: „Immer menschlich, immer für dich da.“

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Kommentare ( 113 )

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brennnessel
1 Monat her

meine ganz persönliche Lösung für den Umgang mit der unerwünschten Dudisierung. Ich sage :
„Wenn Sie mich duzen, dann fühle ich mich nicht wohl.“
Damit rette ich seither jede Konversation.

Joe4
1 Monat her

Es gibt Firmen, die zum „Du“ übergegangen sind, Kunden – auf Wunsch – siezen. Es sollte m. E. besser andersherum laufen: Duzen nur auf Wunsch. Einige Unternehmen duzen aber leider generell. Als ich ein solches mit einer Beschwerdemail konfrontierte, hieß es als Begründung, die Mehrheit der Kundschaft wünsche es so und man habe sich darauf eingestellt. Man kann es einfach ignorieren. Als Kunde sieze ich weiterhin.

Andreas aus E.
1 Monat her

„Er behalte sein Du für sich, wir wünschen das nicht“ ist angemessene Reaktion auf dieses übergriffige Gedutze.
Die Sozialisten sollen ihr gleichschaltendes Genossengedutze mal schön für sich behalten.

Logiker
1 Monat her
Antworten an  Andreas aus E.

in der Ehemaligen war es Usus und guter Ton, sich gegen das „Du“ der SED-Genossen, das diese gern auch auf andere anwendeten, klar und deutlich zu verwahren.

Nun ist es also wieder soweit.

cernunnos
1 Monat her

Sehr befremdliches Thema für mich. Dass mich irgendwelche Firmen duzen geht gar nicht, klar. Aber hier ist das alles recht locker. Man duzt sich eigentlich ständig, ob fremd oder nicht. Es gibt eine Altersgrenze bzw Altersabstand, das ist aber nicht fest, sondern eher intuitiv. Ich rede wegen der Arbeit ständig mit wildfremden Menschen. Ich habe mir da nie darüber Gedanken gemacht, das ist hier nun mal so. Mal siezt man, mal duzt man. Das kommt aus dem Bauch. Wenn man spürt da ist eine Distanz, dann siezt man, aber meistens duzt man. Nicht im Geschäft oder Restaurant, außer man hat… Mehr

Johann Thiel
1 Monat her
Antworten an  cernunnos

Das läuft dann unter, „den Umgang miteinander täglich neu auszuhandeln“. Ein Zivilisationsrückschritt. Formen sind dazu da, den Umgang miteinander zu erleichtern. Das aber setzt voraus, sich die Mühe zu machen durch Erziehung und Bildung die Formen zu beherrschen. Da aber unsere Gesellschaft der Auffassung verfallen ist, Anstrengung sei per se verwerflich ist, lässt man sich einfach gehen. Du oder Sie, das ist nur noch wie schreiben nach Gehör. Keine Regeln, zumindest keine die auf zivilisatorischen Entwicklungen beruhen, dafür erfundene Regeln für verbotene Wörter und woke Achtsamkeit für jede Art von Infantilität bis hin zur gesellschaftlichen Perversion. Also, sozusagen aus „dem… Mehr

Manfred_Hbg
1 Monat her

Obwohl ich mich als „50er Baujahr“ eigentlich auch eher zu den „lockeren“ und „moderneren“ Typ Menschen zähle, halte ich mich aber trotzdem bei fremden Menschen grundsätzlich an das „Siezen“. Wobei meiner Meinung nach das „Siezen“ auch etwas mit Höflichkeit, Achtung und Respekt zu tun hat.

Ich kann mich sogar auch noch schwach daran erinnern, dass es mit Blick auf das weibliche Geschlecht auch einige Zeit die Anrede „Fräulein“ gegeben hatte. Wobei diese Anredeform zu meiner Zeit aber meiner Erinnerung nach nicht sehr geläufig war.

Andreas aus E.
1 Monat her
Antworten an  Manfred_Hbg

Meine Großtante bestand, weil zeitlebens unverheiratet, selbstverständlich auf das „Fräulein“, auch noch mit annähernd 90.
Familienintern wurde natürlich gedutzt, aber wenn Tante mir bspw. zum Geburtstag Brief geschrieben hatte (von Hand, Tinte, Sütterlin), stand im Absender selbstverständlich „Frl. xxx xxx“.

Joe4
1 Monat her
Antworten an  Manfred_Hbg

„Fräulein“ für junge und/oder unverheiratete Frauen war bis Mitte der 80er Jahre üblich, jedenfalls hier im Nordwesten. Ich stand dieser Anredeform eher ablehnend gegenüber, schließlich sagte auch niemand „Herrlein“. – Ich bin strikt gegen das ungefragte Geduze von Fremden, Unternehmen und Politik (Werbung, Infos etc.).

verblichene Rose
1 Monat her

Das Problem ist nicht das „DU“! Das „Problem“ ist, dass Deutsche ihre Sprache (unter sich) wohl hoffentlich noch sehr schätzen! Und diese Sprache transportiert dann doch noch sehr viel mehr, als nur die Übermittlung einer Äusserung. Sie vermittelt aber vor allem RESPEKT! Natürlich kann man sich auch auf „Deutsch“ daneben benehmen, aber das wird dann auch sofort erkannt, wenn das Gegenüber denn überhaupt daran interessiert ist. Man kann diese Sprache also „für sich“ nutzen, aber man hat dann womöglich nicht überall gleich Freunde, oder erntet ein gewisses Missverständnis. Das nicht von mir selber angebotene „Du“ stört mich daher nur wenig.… Mehr

elly
1 Monat her

ich wechselte die Bank, als ich in Anschreiben geduzt wurde. Ich drehte mich kommentarlos auf dem Absatz um, als mich ein Autoverkäufer duzte, als mich ein knapp der Pubertät entwachsener Verkäufer in einem Elektromarkt fragte „kann ich Dir helfen“, antwortete ich „Sie sicherlich nicht, Sie sind zu jung“ und ging. In der Firma in der ich bis zur Rente arbeitet wurde die sogenannte Du Kultur eingeführt. Ich fand das ganz schrecklich. Auf das „unerträgliche“ Sie bestand ich bei externen Beratern, sowie die Wirtschaftsprüfern. Nur mit der erforderlichen Distanz war der professionelle Umgang möglich, der für Abschlussprüfungen notwendig ist. Das höfliche… Mehr

H. Priess
1 Monat her

Ein großer Stromanbieter hat in einem Anschreiben meine Mutter geduzt, die Dame ist 95! Sie fragte mich warum die das tun und ich erklärte ihr: Genossen duzen sich und da wir alle Genossen einer Gesellschaft sind und es keine Unterschiede zwischen den Menschen gibt duzen sich alle. Sie: Ich war nie in einer Partei und bin keine Genossin, das ist unverschämt! Recht hat sie! Mit dem Sie drückt man Distanz und Respekt aus und signalisiert eine gewisse Wertschätzung der Person. Als alter weißer Mann sieze ich selbst sehr junge Menschen die oft irritiert schauen aber dann doch recht angetan sind,… Mehr

Guzzi_Cali_2
1 Monat her

Unter Handwerkern gilt generell das „Du“ – schon seit jeher. Abseits der Baustelle wird aber gesiezt. Punktum.

c0benzl
1 Monat her
Antworten an  Guzzi_Cali_2

Bei Hobbys – Motorrad, Angler, auf dem Campingplatz war das auch immer klar.

Dieses aufgesetzte ‚Du‘ im Geschaeftsverkehr oder im sozialen Umgang ist nur peinlich und abwertend.

Guzzi_Cali_2
1 Monat her
Antworten an  c0benzl

Ich bezog es auf den Berufsalltag. Aber gerade unter Bikern, Oldtimerfahrern, Sport etc. ist absolut korrekt, was Sie sagen. Man könnte sagen, daß es vor allem in männerdominierten Bereichen bei gleicher Interessenslage so gehandhabt wird.

Kartoffelstaerke
1 Monat her

Duzen von Unbekanten, also auch möglichen neuen Kunden, ist meist plumpvertraulich und unangebracht.

Wenn z.B. ein Kellner mich unerwünscht duzt, sage ich freundlich aber kurz „Wir siezen uns“, und die Sache ist damit immer problemlos erledigt.

Für mich ist die unterschiedslose Duzerei von Fremden Ausdruck eines kollektivistischen Menschenbildes, der „Genossen-Sprache“, und dient der offensichtlich politisch erwünschten Vertuschung von Machtverhältnissen und Interessengegensätzen, z.B. zwischen Kunden und Anbieter.

Sie nivelliert Beziehungsunterschiede bezüglich Distanz und Nähe zu einem sprachlich verarmten Einheitsbrei. Duzen ohne die entsprechende persönliche Beziehung zerstört somit einen elementaren Teil der differenzierungsfähigen deutschen Sprache und des Sozialverhaltens.

verblichene Rose
1 Monat her
Antworten an  Kartoffelstaerke

Naja, solchen Kellnern ist wahrscheinlich nicht bewusst, dass die erzeugte „Nähe“ zum Kunden keine Einbahnstrasse ist.
Bekäme ich nämlich eine nicht geniessbare Ware, könnte es passieren, dass ich ihm sage: „schieb DIR den Frass in den….!“ 😜