Die leise, zurückhaltendere Stimme der Dichter und Denker verschwindet heute im Getöse des Zeitgeistes hinter Narzissmus, Gier und Machtstreben. Hinter dem Lärm der grenzenlosen, betäubenden Unterhaltungsindustrie.
Wann immer Politik ideologisch wird, verlieren auch die Künste ihre Unabhängigkeit. Wir können es heute überall beobachten. Der Bericht bei TE über Dieter Nuhr und Co. zeigt uns z.B. deutlich, wie sich Menschen in so einem System die Flügel der künstlerischen Freiheit stutzen lassen.
Die Künste als Spiegel der Gesellschaft
Die Wissenschaften, Philosophie, Psychologie und die Künste – die „Dichter und Denker“ – haben über die Jahrhunderte hinweg die europäische Kultur geprägt. Sie haben unseren Werten Ausdruck und Form verliehen und dem Menschen – mit all seinen Schwächen und Sehnsüchten, mit seiner Gewalttätigkeit und seinem Scheitern, aber auch in seiner Größe und der Fähigkeit, Schönes zu schaffen und große Ideen zu entwickeln – den Spiegel vorgehalten. Die Psychologie hat uns gelehrt, dass wir ambivalente Lebewesen sind, die Gut und Böse untrennbar in sich vereinigen. Die Musik mit ihrer Fähigkeit, eine höhere Realität entstehen zu lassen, ist ein essentieller, beflügelnder Bestandteil unseres Lebens. Die Künste haben uns dabei geholfen, die Schönheiten und Abgründe der Welt sichtbar zu machen und uns selber besser kennenzulernen: zu erfahren, wozu der Mensch im Guten und im Bösen fähig ist.
Musik zu Gehör bringen und Schreiben ganz allgemein bedeutet die Fähigkeit, schwer Greifbares, Vielschichtiges in eine eigenen Sprache zu übertragen. Johann Wolfgang von Goethe hat es dem Dichter Torquato Tasso in seinem gleichnamigen Bühnenstück in den Mund gelegt: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.“
Was Literatur vermag
Große Literatur urteilt und verurteilt nicht, sondern stellt dar. Leo Tolstois Spätwerk „Die Kreutzersonate“ wurde z.B. im Gegensatz zu seinen großen Romanen kritisiert, weil es zu moralisch und belehrend daher kam. Literatur soll tiefer gehen. Das komplexe, vielschichtige Dasein erzählen. Etwas sein, was tiefe Emotionen erregt, einen bleibenden Eindruck hinterlässt und nicht zuletzt auch sehr beglückend sein kann. Das erzeugt die innere Spannung. Honoré de Balzac schreibt: „Man muss das ganze gesellschaftliche Leben durchforscht haben, um ein wahrer Romanschreiber zu werden, denn der Roman ist die private Geschichte der Nationen.“
Ein Beispiel: Das literarische Werk Fjodor Dostojewskijs beschreibt die politische, soziale und geistige Verfasstheit zur Zeit des Russischen Kaiserreichs, das sich im 19. Jahrhundert in einem fundamentalen Umbruch befand. Dostojewski beschäftigten die Konflikte, in die der Mensch im tiefgläubigen alten Russland mit dem Anbruch einer aus dem Westen kommenden Moderne geriet. Wo Halt finden, wenn der alte Glauben verloren ging. Der zentrale Gegenstand seiner Werke war der Zustand der menschlichen Seele in diesem Konflikt – wie sich die Veränderungen der Außenwelt auf die Psyche des Menschen auswirkte.
Es ist gewinnbringend, sich aus der Gegenwart, dem allgegenwärtigen Zeitgeist, in eine – den meisten heute kaum mehr in unseren Bildungseinrichtungen vermittelte – Vergangenheit zu begeben: in eine ferner liegende Zeit abzutauchen, eine Zeit mit anderen Vorstellungen, Sitten und Gebräuchen. Das bietet Möglichkeiten, Abstand zu gewinnen und Heutiges besser einschätzen und bewerten zu können. Der Zeitgeist unserer auf reinen Konsum und Gewinn ausgerichteten Gegenwart und einer Vergangenheit, die oft bei der Erkundung der schuldhaften Nazi-Zeit endet, wird uns zur Genüge in allen Medien eingetrichtert.
Modern sein!
„Modern sein“ ist das Zauberwort. Modern als zeitgemäß? Modern als populär? Als modisch, up to date – als progressiv? fragt man sich. Schon wieder so ein Begriff, der nicht geklärt wird. Wie fügt sich da das allgegenwärtige „postmodern“ ein? Was soll man sich darunter vorstellen? Alexander Grau schreibt im „Cicero“ vom 31.12.16:
„In Deutschland hält man sich gerne für modern und wähnt sich an der Spitze des Fortschritts. Und das nicht nur technologisch. Vor allem moralisch und politisch fühlen sich die administrativen, kulturellen und medialen Eliten dieses Landes als Avantgarde der historischen Entwicklung. Schließlich ist man international, europäisch und multilateral, immer gesprächsbereit, sozial und weltoffen.
Doch diese gefühlte Modernität ist Selbstbetrug. Sie beruht auf der naiven Annahme, dass die hierzulande verinnerlichten politischen Werte und Ideale tatsächlich zukunftsweisend sind und die Weltgeschichte mit unaufhaltsamer Logik auf deren letztliche Durchsetzung und Instanziierung hinausläuft.“
Was „modern“ ist, bestimmen die herrschenden Eliten. So wie sie auch ohne Differenzierungen bestimmen, wie die angeblich Rückständigen und die „Ewiggestrigen“ ticken. Das wird uns auf den Bühnen schon seit langem ohne jeden Witz und Geist, ohne Doppelbödigkeit vorexerziert, wo uns etwas durch Wiederholen eingebläut werden soll, was vielen schon längst zum Hals heraushängt. Wo uns das Nachdenken ausgetrieben werden soll. Wo eine „Gesinnungsgemeinschaft“ zwischen Bühne und Publikum hergestellt werden soll, was einer Manipulation schon sehr nahe kommt. Mit dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus wurden schon eindrucksvolle Belege für Zensur und Manipulation, für die Zerstörung von Kunstwerken geliefert – um ein Menschenbild zu verwirklichen, das dem komplexen Wesen des Menschen nicht entspricht.
Das Verlorengehen von erkämpften Errungenschaften
Unsere großen, hart erkämpften kulturellen Errungenschaften – soziale Gerechtigkeit, Meinungsfreiheit, Trennung von Kirche und Staat, Gewaltenteilung – sind in Gefahr, vernachlässigt – und noch schlimmer – vergessen zu werden. Die von der Kanzlerin fast täglich beschworenen „Werte“ sind nur noch Worthülsen. Der immer wieder aufflammende Glaube an die Schönheit und Sinnhaftigkeit des Lebens, an die Kraft des menschlichen Verstands scheint seit den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts verloren gegangen zu sein. Die Zerbrechlichkeit, die Hässlichkeit und das Elend des Lebens, die Labilität des Menschen waren gar zu sichtbar in den Vordergrund getreten und hatten damals ihren Ausdruck auch in der Kunst ganz allgemein gefunden. „Der Schrei“ von Edvard Munch ist ein Beispiel für diese Stimmung.
Doch auch in diesen dunklen Zeiten konnte man auf die Werte der europäischen Kultur gedanklich zurückgreifen. Mein Großvater trug die Werke Immanuel Kants in seinem Tornister in den 1. Weltkrieg. Es hat in Nazi-Deutschland Aufführungen von „Don Carlos“ gegeben, wo das Publikum bei der Zeile „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ spontan geklatscht hat, weil es die Worte aus Schillers Zeiten in ihre eigene Gegenwart übersetzen konnte. Dasselbe geschah, wenn z.B. ein Hamlet-Darsteller die Sätze „Ganz Dänemark ist ein Gefängnis“ und „Die Zeit ist aus den Fugen“ besonders stark akzentuierte. Die Botschaft war allen Zuhörern sofort zugänglich.
Sind wir nicht längst an einem Punkt angekommen, wo eine Rückbesinnung auf unser reiches kulturelles Erbe uns Unterstützung und Halt geben könnte? Hat man uns und unseren Kindern das Werkzeug, das man dazu braucht, noch in Schulen und Universitäten beigebracht? Unser Kulturschatz ist auf dem Wege, in Vergessenheit zu geraten, wenn es niemanden mehr gibt, der davon noch weiß und ihn weiterträgt. Wenn im Gegenteil Kunstwerke, die Muslime stören könnten, von den Wänden genommen oder verhüllt werden. Oder wenn sogar aus Kinderbüchern Schweine verschwinden sollen. Dies sind nur wenige Beispiele von sehr vielen, die mir gerade in den Sinn kommen. Nicht „systemkonforme“ Intellektuelle wie Rüdiger Safranski oder Jörg Baberowski werden heute schon ausgegrenzt und ausgeladen. Die Intellektuellenszene, die wir in den 70er Jahren noch hatten, ist aus der Öffentlichkeit verschwunden.
Zitat Hamed Abdel Samad:
„In den vergangenen vier Wochen gab es gleich vier niederschmetternde Entscheidungen. Ein Verlag in Frankreich, der mein neues Koran-Buch am 16. September herausbringen wollte, hat die Veröffentlichung abgelehnt aus Angst vor Terroranschlägen. Die Stadt Dortmund hat mich bei einer Veranstaltung wieder ausgeladen. Angeblich aus Sicherheitsgründen. Und die Uni Augsburg, an der ich studiert habe und die mich 2001 als besten ausländischen Studenten ausgezeichnet hat, hat eine Veranstaltung mit Studenten abgesagt, weil ich auf einer Veranstaltung der AfD gesprochen habe. Die Uni München, wo ich jahrelang islamische und jüdische Geschichte gelehrt habe, will mir jetzt keine Räume zur Verfügung stellen mit der lächerlichen Begründung, man unterstütze keine weltanschaulichen Veranstaltungen.“
Diese Beschneidung des freien künstlerischen Ausdrucks kennen wir nur zu gut aus dem 20. Jahrhundert. Die Massenmörder Stalin, Mao und Hitler waren mit Hilfe ihrer Propaganda Meister darin. Es blieben nur Trostlosigkeit und Depression, Zerstörung und Tod zurück.
Bereicherung aus dem islamischen Kulturkreis?
Für die Künste, Musik, Malerei, Bildhauerei gibt es in der islamischen Welt keinen Platz. Mohamed darf nicht Gestalt annehmen. Der Fähigkeit der Künste, eine höhere Realität zu schaffen, den Regungen der menschlichen Seele Ausdruck zu verleihen, dem Menschen zu ermöglichen, seine Flügel auszubreiten, seine grenzenlose Fantasie spielen und sie in mannigfaltigen Erscheinungen Gestalt annehmen zu lassen, darf kein Raum gegeben werden. Der Prophet wusste, dass die Kunst der menschlichen Fantasie entspringt, der Sehnsucht und Suche nach besseren Welten, nach Weiterentwicklung. Ein solch freies Schweifen darf nicht erlaubt werden. Keine Ideologie hat das je erlaubt. Das Erhabene und Heilende darf nur im vom Propheten festgelegten Jenseits, im Paradies gesucht werden.
Sichtbare Zeichen des Verfalls
Die Vernachlässigung und Missachtung der in Europa in langen Kämpfen errungenen freiheitlichen und humanistischen Werte sind auch in unseren Städten schon lange wahrnehmbar. „Wir stellen eine zunehmende Verwahrlosung im öffentlichen Raum fest“, mahnt LKA-Präsident Ralf Michelfelder. Schönheit mit allem, was der Begriff einschließt – im Mittelalter auch als „Glanz der Wahrheit“ gesehen – spielt kaum noch eine Rolle, ist im Gegenteil fast suspekt geworden. Die Geschichten, die uns über jede alte Kirche, jeden Platz viel Interessantes zu erzählen hätten, finden keine Beachtung mehr. Man lässt sie – so wie auch unsere Bildungseinrichtungen – verwahrlosen. Kleidung wird durch absichtliches Zerlöchern und Zerreißen von schlecht bezahlten Arbeitern in China in stickigen düsteren Hallen gesundheitsschädigend modisch ausgebleicht: Körper werden durch Piercings, Tatoos und Drogenkonsum entstellt.
Auf den Bühnen stürzt man sich geradezu auf die Zerstückelung der Originaltexte, auf Ausscheidungen und sexuelle Besonderheiten. Die dem Menschen eigene Ambivalenz, die Zwischentöne, der Witz, die die Darstellung spannend machen, kommen kaum noch vor. Aber man findet sie natürlich noch. Besonders auf dem Gebiet des Films gibt es noch hervorragende Spielfilme und Dokumentationen, die all dies vermitteln. Durch Serien wie „Homeland“, „Hatufim“, „Damages“ und „House of Cards“ ist mir gar manches Licht aufgegangen.
Die leise, zurückhaltendere Stimme der Dichter und Denker verschwindet heute im Getöse des Zeitgeistes hinter Narzissmus, Gier und Machtstreben. Hinter dem Lärm der grenzenlosen, betäubenden Unterhaltungsindustrie. „The Noise of Time“ lautet denn auch der Titel des neuen Buches des Booker-Preisträgers Julian Barnes, in dem er das gefährdete Leben des Komponisten Dmitri Shostakovich in der Sowjetunion beschreibt. Wenn die Künste und Wissenschaften ihre Freiheit und Ausdrucksvielfalt verlieren, wenn sie nicht mehr gepflegt und gelehrt werden, sind sie am Ende. Wie sagte doch die große Tänzerin und Choreografin Pina Bausch zu ihrem Ensemble: „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren!“
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