Was wäre ein besserer Gründungsmythos für das neue Deutschland gewesen als die Friedliche Revolution von 1989 als Vollendung der demokratischen Revolution von 1848/49? Doch diese Option gibt es unverändert.
Glaubt man den Medien – aber wer wollte das noch tun, wo doch feststeht, dass sie oft geschwiegen und verschwiegen und noch öfter geframt oder zuweilen schlicht die Unwahrheit behauptet haben – so erleben wir wieder einmal Deutschlands dunkelste Stunde. Rassisten, Populisten und Antisemiten, dazu noch Familisten, Antifeministen, Islamophobe und Homophobe, Heterodominante und Christen stehen kurz vor der Machtübernahme, wenn ihnen nicht Aktivisten als Journalisten, als Antifa-Kämpfer, als Staatsministerin für Digitale Aufklärung in einem Akt größten persönlichsten Mutes entgegentreten würden. Neu ist das alles nicht, denn dass die Gefahr aus der Mitte der Gesellschaft kommt, die ohnehin rechts steht und sie zudem rassistisch ist, wie die Kandidatin für das Amt der Vorsitzenden der Linkspartei, des Rechtsnachfolgers der SED, Janine Wissler jüngst konstatierte, hat Jürgen Trittin in einer Broschüre bereits 1993 festgestellt.
Sekundierend hört man immer öfter von Historikern, die sich faktenfrei dem Postkolonialismus und anderen Ideologien verschrieben haben, dass auch die deutsche Geschichte voller Schandtaten und Gräuel steckt. Und damit meinen diese Historiker nicht nur die Zeit der Diktatur der Nationalsozialisten, die in der Tat Deutschlands Schande und dunkelstes Dezennium darstellt, auch nicht die kommunistische Diktatur in der DDR, die man inzwischen sogar versucht zu verharmlosen.
Gerade von der 48er Revolution aus führt der Weg zur friedlichen Revolution von 1989. Als Sternstunden der deutschen Geschichte ereigneten sich 1871 die Gründung des deutschen Kaiserreichs und 1919 die Gründung der Weimarer Republik. In dem skizzierten Zeitraum lassen sich eine Fülle von Höchstleistungen in der bildenden und der darstellenden Kunst, in der Musik, in der Literatur, in den Geistes- und Naturwissenschaften, in der Technik und im Wirtschaftsleben besichtigen. Gerade im immer öfter geschmähten, recht liberalen wilhelminischen Kaiserreich wurde eine Reihe deutscher Wissenschaftler für herausragende Leistungen mit dem Nobelpreis geehrt, Wissenschaftler, für die sich die Humboldt-Universität zu schämen scheint, zumindest sollen diese international anerkannten Koryphäen aus der Galerie der Universität verbannt werden, damit Platz geschaffen wird für die großen Kämpfer für das Gute, Kämpfer wie Jürgen Trittin, Dorothee Bär und Janine Wissler, allerdings kommen diese drei Kämpfer nur aus einem Grund nicht in Frage für die Galerie der Universität, denn sie sind keine “Humboldtianer“.
Das „Thema der ersten Ausstellung ab 2020 lautet: „Humboldtianer*innen mit Zivilcourage“. Erinnert werden soll an Angehörige der Universität, die Zivilcourage bewiesen haben: indem sie sich für andere eingesetzt, indem sie Haltung gezeigt haben, indem sie gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung eingetreten sind und dabei Nachteile für das eigene Fortkommen in Kauf genommen haben.“ Schließlich wird seit „einigen Jahren…immer wieder Kritik an der Galerie laut, weil in ihr nur eine kleine, ausschließlich weiße und männliche und daher von vielen als wenig repräsentativ empfundene Gruppe erinnerungswürdiger Angehöriger der Universität vertreten ist. Zudem erscheint fraglich, ob das Kriterium „Nobelpreisträger“ allein für das stehen kann, was die Mitglieder der Universität heute für einen legitimen Ausdruck von Erinnerungskultur halten.“ Vor dem Hintergrund, dass die Humboldt-Universität seit Ewigkeiten keinen Nobelpreisträger mehr hervor gebracht hat, darf man das als Absage an das Ringen um wissenschaftliche Höchstleistungen zugunsten von Haltung verstehen. Wir können zwar nichts, aber das können wir gut.
Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ war in den Gebieten der westlichen Besatzungsmächte nach 1945 ein neuer Anfang möglich, wurde 1949 die Bundesrepublik gegründet, während die Mecklenburger, die Brandenburger, die Sachsen, die Anhaltiner, die Thüringer und die Ostberliner, die Deutschen, die das Pech hatten, in der sowjetischen Besatzungszone zu leben, in eine neue Diktatur gezwungen wurden. Wer zwischen 1945 und 1949 in der sowjetischen Besatzungszone glaubte, dass auch hier eine demokratische Entwicklung möglich sei, wurde enttäuscht. Zunehmend wird die Geschichte der Errichtung der kommunistischen Diktatur im Osten von einem Establishment verdrängt, das demokratieunsicher zu werden scheint. Gerade die Jahre von 1945 bis 1949 zeigen, wie unter dem Deckmantel, für die Demokratie einzutreten, die SED die Nationale Front schuf, in der die anderen Parteien in einem „demokratischen Block“ zusammengeschweißt wurden. Im Grunde existierte nur eine Einheitspartei, denn eine Opposition gab es nicht mehr.
Das stimmt nicht ganz, denn es existierte schon eine Opposition, nur fand diese keinen Eingang in die Parlamente, sondern stattdessen in die Kerker der politischen Polizei. Bevor die Liberaldemokraten beispielsweise zu willigen Helfern der SED-Funktionäre wurden, hatte man ihre fähigsten und mutigsten Köpfe verhaftet, für viele Jahre hinter Gitter gebracht oder erschossen, wie die Studenten Wolfgang Natonek und Arno Esch. Die medial vom Zaun gebrochene Kampagne gegen den Vorsitzenden des Leipziger Studentenrats erfolgte nach einer Rede Natoneks auf einem Parteitag der sächsischen LDP in Bad Schandau.
Gegen Quoten und gegen die positive Diskriminierung gerichtet, die an den Universitäten durch die Bildungsfunktionäre der SED und durch die FDJ betrieben wurde, um eine sozialistische, eine linientreue Intelligenz heranzubilden, sagte Wolfgang Natonek: „Es gab einmal eine Zeit, in welcher der verhindert wurde, der eine nicht-arische Großmutter hatte. Wir wollen nicht eine Zeit, in der es dem verhindert wird zu studieren, der nicht über eine proletarische Großmutter verfügt.“
Die Enttäuschung saß bei den Studenten, die später der sowjetische Staatsicherheitsdienst (MGB) zur „Belter Gruppe“ zusammenstellte, tief, als die mit der Gründung der DDR 1949 versprochenen Wahlen ausfielen, schließlich wollte die SED einen Wahlausgang verhindern, der „unverzeihlich“ war und dem man nur mit offener Gewalt hätte „rückgängig“ machen können. Als sich abzeichnete, dass die Wahlen ein Jahr später nur eine Farce werden würden, weil man nur im Block abstimmen konnte, entschlossen sich diese Studenten zum Widerstand.
Entweder billigte man die im Vorhinein festgesetzte Verteilung der Mandate der Parteien oder man lehnte sie ab. Sie abzulehnen, bedeutete aber unverantwortlich, staatsfeindlich zu handeln. Wer den Wahlvorschlag der Nationalen Front ablehnte, galt als Feind der Demokratie, als Handlanger der Bonner Revanchisten, als potentieller Boykott-Hetzer. Der SED gelang es sogar, ein Klima zu entwickeln, in dem es sich gehörte, nicht die Wahlkabine aufzusuchen, sondern seine Zustimmung durch öffentliche Stimmabgabe zu demonstrieren, während das Aufsuchen der Wahlkabine einer staatsfeindlichen Handlung gleichkam.
Die Geschichte der Belter Gruppe ist eine Weiße Rose Geschichte, nur weitaus weniger bekannt. Diese Opfer scheinen die falschen Opfer, Opfer zweiter Klasse zu sein, denn sie kämpften nicht gegen die Nationalsozialisten, dazu waren sie auch viel zu jung, sondern gegen die Kommunisten. Der Student der Wirtschaftswissenschaften Herbert Belter, der „antidemokratische Literatur, wie es hieß, also Laskys Zeitschrift „Der Monat“ und Orwells „1984“ gelesen und verteilt und ein einziges Mal Flugblätter auslegt hatte, wurde von einem sowjetischen Militärgericht in Dresden dafür zum Tode verurteilt und am 28. April 1951 in Moskau erschossen, die anderen neun Studenten wurden in das Lager nach Workuta verschleppt.
Noch heute wird der antikommunistische Widerstand nicht hinreichend gewürdigt, im Gegenteil sogar immer weniger. Die Aufarbeitung des kommunistischen Unrechts wird als „rechts“ diffamiert und der antitotalitäre Konsens aufgelöst, so dass nur der Antifaschismus übrig bleibt. Antifaschismus kann aber in einen rotlackierten Faschismus, um ein Wort von Kurt Schumacher aufzunehmen, kippen, wenn er vom Korrektiv des Antikommunismus befreit wird, übrigens auch umgekehrt, sowohl Antifaschismus als auch Antikommunismus benötigen einander, um sich zu begrenzen – insofern ist die antitotalitäre Klammer für die Demokratie von existentieller Bedeutung, denn es muss den totalitären Versuchungen von rechts und von links widerstanden werden. Das ist die Lehre des 20. Jahrhunderts, die man beginnt zu vergessen.
Nach 1949 lebten die Deutschen in zwei Staaten, die einen in Demokratie und Freiheit, mit dem Marshallplan versehen, der zu einem Stimulus des Wirtschaftswunder wurde, die anderen in einer Diktatur, aus der sie nach dem Mauerbau auch nicht mehr entkommen konnten. Statt eines Marshallplans hatten sie die Reparationen an die Sowjetunion zu leisten, wurden Bahngleise und Industrieanlagen abgebaut und in die Sowjetunion transportiert. Diesen Zustand der deutschen Teilung überwanden die Ostdeutschen 1989 zu einem Zeitpunkt, als niemand mehr im Westen an die Wiedervereinigung glaubte, mehr noch, das westdeutsche juste milieu fühlte sich von den Ostdeutschen provoziert. Um das zu verstehen, hilft es, sich einige Entwicklungen thesenhaft vor Augen zu führen:
I. Der lange Marsch der 68ziger war überaus erfolgreich, vor allem in dem von CDU/CSU unterschätzen Bereich der Bildung, der Kultur und in den Medien.
II. Dass sich Jürgen Habermas im Historikerstreit Mitte der achtziger Jahre durchsetzte und dadurch eine Verharmlosung der sozialistischen Diktatur und der Verbrechen des Stalinismus einsetzte, führt auch dazu, dass Linksradikalismus salonfähig gemacht wurde. Inzwischen wird auf allen Eben daran gearbeitet, den antitotalitären Konsens aufzulösen, damit nur ein antifaschistischer Konsens übrigbleibt. Wenn man inzwischen von einem grünen Sozialismus träumt, muss der Sozialismus in eine menschenfreundliche Gesellschaft umgelogen werden.
III. In der alten Bundesrepublik hatte sich ein Milieu, gerade in den Medien, bei den Funktionären der Grünen und der SPD, weniger offensichtlich aber auch bei manchen in der Union, Stichwort Pizza-Connection, gebildet, dem die Toskana näher als die Mark Brandenburg war. Für die hatte schon damals, Deutschland aufgehört zu existieren.
IV. Im linksliberalen Milieu hegte man zudem den Traum vom besseren Deutschland, den man allerdings niemals real zu leben gedachte, der aber für den eigenen Seelenaushalt extrem wichtig war. Deshalb haben sie es den Ostdeutschen niemals verziehen, dass die ihren sozialistischen Traum, ihre Transzendenz durch eine Revolution zerstört haben.
V. Das linksliberale Milieu, das inzwischen immer mehr zum tonangebenden juste milieu der Bundesrepublik wurde, arbeitete seinerseits am Ende der alten Bundesrepublik, in dem es den Umbau des Systems in Angriff nahm.
VI. Vielleicht existierte in beiderlei Deutschland eine einerseits zwar verschiedene, dennoch ähnliche Dekadenz: die Bundesrepublik und die DDR gingen im Grunde nur phasenverschoben unter. Nicht die Wiedervereinigung führte zum Ende der alten Bundesrepublik, sondern der Aufstieg des linksliberalen juste milieus zum Establishment.
VII. Deshalb empfanden große Teile des juste milieus die Wiedervereinigung als Supergau und trachteten danach, dieses wiedervereinigte Deutschland so schnell wie möglich wieder los zu werden, in dem es in die Europäische Union aufgelöst werden sollte. Europäische Einigung also als Ausweg aus der ungeliebten Wiedervereinigung.
VIII. Damit setzte ein Linksschwenk ein, der geschickt als Kampf gegen einen halluzinierten Rechtsruck inszeniert wurde und wird.
IX. Die Nation wird zum Zerrbild stilisiert, anstatt die Chance zu nutzen, ein unverkrampftes, positives Verhältnis zur eigenen, nun wiedervereinigten Nation zu entwickeln. Die Ablehnung der Nation entspricht nur spiegelverkehrt der Überhöhung der eigenen Nation – dementsprechend bringen beide Rigorismen nur Nervosität und Radikalität hervor. Es ist interessant, wie gerade diejenigen, die die Nation am heftigsten ablehnen, einem moralischen Chauvinismus verfallen, der wieder alle anderen in Europa und in der Welt vom hohen Ross der eigenen, diesmal moralischen Überlegenheit belehrt.
Mit der Wiedervereinigung endete, obwohl es anfangs nicht danach aussah, die alte Bundesrepublik, wie übrigens auch die alte EU. Es erweist sich als schwerer Fehler und als Hypothek für das wiedervereinigte Deutschland, dass in den beginnenden neunziger Jahren kein großer gesellschaftlicher Diskurs darüber geführt wurde, wie das neue wiedervereinigte Deutschland sein, in welcher Tradition es stehen, auf welcher Identität es fußen und welchen originären Gründungsmythos man zu Grunde legen sollte. Mit ihrer seit Mitte der achtziger Jahre erworbenen Deutungshoheit in den Medien haben die Linksliberalen diesen notwendigen Diskurs verhindert.
Als der Dramatiker Botho Strauß 1993 den Essay „Anschwellender Bocksgesang“ und ein Jahr später die Publizisten Heimo Schwilk und Ulrich Schacht im Zuge der Wiedervereinigung den Sammelband „Die selbstbewusste Nation“ herausgaben, erlebten sie die ganze Macht des linksliberalen Mainstreams. Im Grunde beabsichtigten sie, eine Debatte zu initiieren, wie sich das neue, wiedervereinigte Deutschland als Staat kulturell, geschichtspolitisch und innen- sowie außenpolitisch definieren sollte. Es ging notwendigerweise darum, dass die Nation sich ihrer selbst bewusst wird, anstatt, dass sie in eine kolossale Verdrängung flüchtet. Diese Debatte wurde allerdings durch Ausgrenzung und das argumentum ad hominem verhindert.
Im Osten weiß man, was für ein lebloses Konstrukt der Verfassungspatriotismus ist. Nach Jahrzehnten der sowjetischen Fremdherrschaft und der Diktatur, nach dem Mut, den man aufgebracht hat, eine bis an die Zähne bewaffnete Macht zu stürzen und Freiheit, Demokratie und die Wiedervereinigung Deutschlands in einer friedlichen Revolution zu erzwingen, ist es längst Zeit für einen Patriotismus. Patriotismus ist Liebe zum Vaterland, zu dessen Bedingtheiten das Grundgesetz zählt, zu dem aber Geschichte, Tradition und Kultur treten. Eine gelingende Einigung hätte einer gemeinsamen Basis für diesen Patriotismus bedurft.
Was aber wäre ein besserer Gründungsmythos für das neue Deutschland gewesen als die Friedliche Revolution von 1989 als Vollendung der demokratischen Revolution von 1848/49? Existiert denn ein schöneres Pathos der Freiheit, als Menschen, die unbewaffnet gegen eine militante Diktatur auf die Straße gingen mit den Rufen: „Wir sind das Volk“ und „Keine Gewalt“? Sollte denn nicht die Freiheit das verbindende Element der Deutschen in Ost und West, in Süd und Nord sein und wäre das nicht der wahre Abschluss der demokratischen Revolution von 1848/49? Hätte dieser Gründungsmythos nicht einen optimistischen, nach vorn gerichteten Blick ermöglicht? Freiheit und Demokratie als Existenz und Aufgabe.
Und in Europa? Hat nicht auch die Europäische Union darauf verzichtet, sich neu zu begründen, anstatt ebenfalls ein paar Waggons mehr an den Zug zu koppeln? Stecken wir nicht in einer Krise der EU, weil in Brüssel, in Paris und Berlin, der gleiche grundlegende Fehler gemacht worden ist wie zuvor in Deutschland? In dem Wort „Osterweiterung“ steckt das ganze Problem.
Haben nicht die Ostdeutschen das Tor für die Wiedervereinigung aufgestoßen, waren es denn nicht die Osteuropäer, die alle Türen nach Westeuropa aufsprengten, damit aus Ost und West ein Europa werden könnte? Wie kann man überhaupt Europa ohne Ost- und Mitteleuropa, ohne die alten und verjüngten Kulturlandschaften denken? Historisch ist Ostdeutschland mental das alte Mitteldeutschland, wie Österreich und Ungarn mit dem alten Mitteldeutschland Mitteleuropa repräsentieren.
Hat der schwere und opferreiche Weg zur Freiheit nicht in Polen in den achtziger Jahren begonnen, nach dem wir alle im Osten die Erfahrung der Unterdrückung gemacht hatten? Wurden wir denn nicht 1953, 1956, 1961, 1968, 1981 vom Westen im Stich gelassen? Haben wir denn nicht erlebt, wie die Freiheit der Staatsräson untergeordnet worden war?
Man unterstellt den Ostdeutschen, dass sie bedingt durch das Leben in zwei Diktaturen schlechte Demokraten seien. Aber was könnte ein größeres Bekenntnis zur Demokratie, eine fulminantere demokratische Handlung sein, als eine Diktatur zu stürzen? In der FAZ wurde behauptet, dass die Vorstellung vom mündigen Bürger AfD-Diktion sei und die Tugend des Demokraten im Vertrauen bestünde, das er den „Interpretationseliten“ entgegen bringen sollte. Wenn in der Literatur und in den Erbe-Diskussionen in der DDR in den siebziger Jahren die Epoche der Aufklärung immer wichtiger wurde, dann hing das mit der Möglichkeit zusammen, sich auf den mündigen Bürger zu berufen, den man implizit gegen die Diktatur stellte. Mit Immanuel Kant gegen den Kommunismus. Der Aufklärungsdiskurs thematisierte die Freiheit.
Nur Diktaturen fordern von ihren Untertanen Vertrauen zu den Interpretationseliten ein. Demokratien hingegen benötigen den mündigen und kritischen Bürger. Während Diktaturen blindes Vertrauen von ihren Untertanen verlangen, stärkt ein gesundes Misstrauen die Demokratie. Die Ostdeutschen haben die Interpretationseliten gestürzt, weil sie nicht länger gezwungenermaßen „Vertrauen“ aufzubringen Willens waren.
Ostdeutsche haben ein feines Gespür dafür, wenn sie bevormundet werden oder wenn Medien nicht der Objektivität, sondern der Haltung, nicht der Wahrheit, sondern dem politisch Nützlichen verpflichtet sind. Das neue Wort „Haltung“ ist ihnen in der alten Forderung, den Klassenstandpunkt einzunehmen, wohl vertraut.
Man darf es sich hinwieder nicht zu einfach machen und dem ewigen, gerade durch die Medien befeuerten Divide-et-impera-Spiel auf den Leim gehen, denn bei all dem steht doch unverrückbar fest: die Linie der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung verläuft nicht an der Elbe, nicht zwischen Ost-und Westdeutschland. Insofern ist die deutschen Einheit gelebte Realität. Es existiert eine wesentlich größere Nähe zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen, als es das juste milieu der alten Bundesrepublik sich wünscht, das sich einerseits längst überlebt hat und anderseits die gegenwärtige Herrschaft innehat. Die wahre Konfliktlinie verläuft noch nicht einmal zwischen links und rechts. Die Linie der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung verläuft zwischen Globalisten und Kommunitaristen.
Es wäre an der Zeit, will man die Entfremdung überwinden, die eingesetzt hat, über die wirkliche Gestalt Europas und Deutschlands nachzudenken. Kosmopolitismus muss durch Geographie geläutert werden. Die Europäische Union kann nur von seinen Regionen und von seinen Nationen her, wie das Charles de Gaulle einmal als Europa der Vaterländer skizziert hat, entwickelt werden. Es bedarf eines Gründungsmythos, der in der Freiheit besteht, in der Erinnerung an die friedliche Revolution von 1989, die jene Mauer, die Europa teilte, zum Einsturz brachte. In dieser Revolution wurde die Freiheit des einzelnen, als auch das Recht der Völker auf nationale Selbstbestimmung erkämpft. Der Tag der deutschen Einheit ist ein Feiertag, denn die historische Anomalie der Teilung ist überwunden.
Der Genius der Deutschen ist ein föderaler, wiedervereinigt in dem neuen Deutschland sind die deutschen Länder, wie sie unserem historischen Geworden-sein entsprechen, allen Brüsseler und auch Berliner Zentralisierungsbemühungen abhold.
Deutschland jedoch steht am Scheideweg, ob es seine historische Aufgabe annimmt oder sie in der Flucht vor der eigenen Geschichte verwirft. Die historische Aufgabe des wiedervereinigten Deutschland besteht nicht darin, Europa zu spalten, wie es das Resultat der Merkelschen Politik ist, sondern darin, ein maßvoller Akteur der Mitte zu sein, auch der Mitte Europas, ein Vermittler, ein Ausgleicher. Das vermag Deutschland aber nur, wenn es seine eigene Geschichte und seine eigene Kultur annimmt, die eine Kultur der Freiheit ist. Nichts anderes meint der schöne, historische Begriff der deutschen Libertet: Freiheit als Aufgabe und als Sein.
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@Redaktion: Der Student hieß Wolfgang Natonek. Hans Natonek war sein Vater.