Tichys Einblick
John Kerry will Ersten Zusatzartikel ändern

Der weltweite Krieg gegen die Meinungsfreiheit

Faesers und Haldenwangs dieser Welt, vereinigt euch! In Deutschland, Brasilien und den USA erklingt der Schrei danach, die Meinungsfreiheit im Namen der Demokratie einzuschränken. Der US-Democrat John Kerry spricht gar davon, dass es einen „Wahrheitsbeauftragten“ brauche, um die Desinformation zu bekämpfen.

IMAGO / Newscom World

Die Meinungsfreiheit steht weltweit unter Beschuss. Dabei stehen nicht mehr die autoritären Systeme im Fokus. Längst hat sich der Schwerpunkt in die westliche Hemisphäre verlegt. Wo die Meinungsfreiheit stets eher Privileg denn Recht war, fällt das weniger auf. In Europa und Nordamerika sticht das Phänomen der Meinungseinschränkung dagegen umso mehr ins Auge, weil Meinungsfreiheit nicht nur zu den verbürgten Grundrechten gehört, sondern weil sich dieser Zivilisationsraum als Wiege der freien Meinungsäußerung versteht.

Wenn die Meinungsfreiheit in ihrer Heimat unter Druck steht, gar als „hinderlich“ gilt, dann besteht die Gefahr, dass sie ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr zurückkehrt. Narrative kursieren bereits in der Politik, in den Medien und bei NGOs, was Meinungsfreiheit wirklich sei. Augenfällig war das beim Deutschen Fernsehpreis. Ein RTL-Moderator betonte dabei, dass Hass, Hetze und Desinformation das Internet „gefährlich“ mache, weil Meinungen dort nicht eingeordnet würden. Das bedrohe die Demokratie, gar die Pressefreiheit. Eine ganze Reihe von Protagonisten aus den genannten Teilbereichen streut diese Definition seit Jahren: Die Meinungsvielfalt verliert ihren Wert, wenn es keine Richtlinie gibt, was Fakt und Wahrheit ist. Meinungsfreiheit nur, wenn sie der Einheitsmeinung entspricht.

Das ist deswegen eine überraschende Wende, weil die Demokratie für sich in Anspruch nimmt, keiner höheren Wahrheit zu bedürfen; ihr eigenes transzendentes Gut stellen die Grundrechte dar, die in der Verfassung als unveräußerlich gelten (zumindest in der Mehrheit der abendländisch geprägten Staaten). Grundrechte sind damit der dogmatische Rest im säkularen Staat. Ansonsten zeichnet sich die Demokratie durch Mehrheit und Kompromiss aus. Das war stets ihre Stärke, wie auch ihre Schwäche, denn was eine Mehrheit bestimmt und beschließt, muss eben nicht „wahr“ oder „richtig“ sein, es ist lediglich demokratisch in dem Sinne, dass die Mehrheit eines Volkes hinter dem Beschluss steht.

Dass unter dem lauten Schrei der Mehrheit so manche Demokratie in die Diktatur abdriftete, ist der gegenwärtigen Generation der „Wir sind mehr!“-Rufer bis heute nicht geläufig.

Meinungsfreiheit ist dabei eine inhärent europäische Idee – dazu zählen auch die europäischen Kolonien, namentlich die USA eingeschlossen. Sie entwickelte sich nicht erst in der Aufklärung, sondern bereits in der Renaissance. Sie war bereits Erasmus von Rotterdam ein Anliegen. Angesichts der konfessionellen Spannungen und Kämpfe im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts, bei der keine Seite die Oberhand behielt, musste man in den gemischtkonfessionellen Gebieten einen modus vivendi finden. Eine Idee, die sich insbesondere in der anglo-amerikanischen Welt verbreitete, wo sich mittlerweile eine Vielzahl von Spaltungen ergeben hatte. Den Engländern steckte die puritanische Cromwell-Ära in den Knochen, in der Neuen Welt mussten Siedler mit vielfältigen christlichen Bekenntnissen auskommen, nachdem diese aufgrund ihres Glaubens emigriert waren.

Heute ist größtenteils vergessen, dass die Meinungsfreiheit historisch betrachtet eine Tochter der Religionsfreiheit ist; es sollte daher nicht überraschen, dass es im Ersten Zusatzartikel der US-Verfassung in erster Linie darum geht, dass in den Vereinigten Staaten keine Staatsreligion eingeführt werden darf, und nur in zweiter Linie um die Presse- und Religionsfreiheit, für die dieser Zusatz heute weltweit deutlich bekannter ist.

Nur in diesem Zusammenhang kann man verstehen, was der kürzliche Vorstoß von Ex-Präsidentschaftskandidat, Ex-Außenminister und Ex-Klimabeauftragten John Kerry bedeutet. Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist eine Form der Heiligen Schrift, ihre Buchstaben für Konstitutionalisten unantastbar. Mit einer Nonchalance, wie sie auch hierzulande bezüglich von Grundrechten vorkommt, erklärt der US-Demokrat am Mittwoch beim Weltwirtschaftsforum, wie man etwa „Desinformation zum Klimawandel“ bekämpfen könnte:

„Es wird jetzt viel darüber diskutiert, wie man das einschränken kann, um zu gewährleisten, dass man eine gewisse Rechenschaftspflicht in Bezug auf Fakten usw. hat. Aber sehen Sie, wenn die Leute nur eine Quelle haben, und die Quelle ist krank und hat eine Agenda, und sie verbreiten Desinformation, dann steht unser erster Verfassungszusatz als ein großer Block entgegen, um in der Lage zu sein, das Problem aus der Welt zu schaffen. […] Wir müssen an Boden und das Recht zu regieren gewinnen, indem wir hoffentlich so viele Stimmen gewinnen, dass wir in der Lage sind, Veränderungen durchzusetzen.“

Es ist verblüffend, wie diese Worte mit denen übereinstimmen, wie sie am selben Tag beim Deutschen Fernsehpreis geäußert wurden. Seit Jahren wird – auch und gerade in den sozialen Netzwerken – über die „Grenze des Sagbaren“ philosophiert. Dass die Aussetzung und Beschneidung von Grundrechten ein ebenso großer faux-pas ist, ging spätestens in der Corona-Krise verloren. Grundrechte sind nun verhandelbar; und selbst der erste Verfassungszusatz, der das Vorbild für zahlreiche andere Verfassungen zur freien Meinungsäußerung stand, ist nunmehr verhandelbar.

Oder anders ausgedrückt: Kerry sagt stellvertretend für eine Elite, dass man die Verfassung ändern müsse, weil Meinungsfreiheit hinderlich sei – und er das auch nach der Wahl tun will. Im Grunde sind das verfassungsfeindliche Bestrebungen, wenn nicht gar ein Staatsstreich mit Ankündigung. In Deutschland bedient das Bundesinnenministerium im Duo mit dem Verfassungsschutz ein ganz ähnliches Muster: Die „Delegitimierung des Staates“ darf als Totschlagargument gelten, um jeden Regierungskritiker zur Rechenschaft zu ziehen, was im Grunde selbst eine verfassungsfeindliche Angelegenheit ist. Die Verfassung, die den Staat einschränken soll, wird vom Staat missbraucht, um den Bürger einzuschränken.

Zurück zu Kerry. Die Argumentation, die der „Demokrat“ nutzt, ähnelt einem Narrativ, das in vielen westlichen Staaten zum Tragen kommt. Es ist eine Argumentationslinie, mit der eine Meinungsplattform wie X in Brasilien verboten werden kann – ein Schritt, den internationale Journalisten, die sich bis dato als „gate keeper“ sahen, lauthals begrüßten. Der Staat muss nicht nur regulierend eingreifen – er muss eine „Wahrheit“ anbieten, nach der sich die Subjekte zu richten haben. Das ist zu viel Interpretation? Kerry:

„Die Abneigung und Angst gegenüber den sozialen Medien wird immer größer. Das ist Teil unseres Problems, insbesondere in Demokratien, wenn es darum geht, einen Konsens zu einem bestimmten Thema zu finden. Es ist heute wirklich schwer zu regieren. Die Schiedsrichter, die wir früher hatten, um zu entscheiden, was eine Tatsache ist und was nicht, sind bis zu einem gewissen Grad ausgeweidet worden. Und die Menschen suchen sich selbst aus, wo sie ihre Nachrichten und Informationen finden. Und dann gerät man in einen Teufelskreis. […] Demokratien auf der ganzen Welt haben mit dem Fehlen einer Art Wahrheitsbeauftragten zu kämpfen, und es gibt niemanden, der definiert, was Fakten wirklich sind.“

Wer aber beruft den „Wahrheitsbeauftragten“ (truth arbiter)? Wer legt fest, was Wahrheit ist? In der säkularisierten Welt kann dies nur der Staat sein. Der „Faktencheck“ wird von oben sanktioniert. Was unterscheidet Kerrys Vorstellung von der in den kommunistischen Staaten oktroyierten Ideologie des Marxismus, Leninismus und Maoismus, wo in Büros verordnet wurde, was falsch und was richtig sei? Man könnte Kerrys Aussage als amerikanische Besonderheit davonfegen – wenn nicht überall in der einstigen „Ersten Welt“ solche Ambitionen vorlägen, insbesondere auch in Deutschland.

„Ich denke, dass die Demokratien derzeit sehr gefordert sind und nicht bewiesen haben, dass sie sich schnell genug und groß genug bewegen können, um die Herausforderungen zu bewältigen, mit denen sie konfrontiert sind, und für mich ist das Teil dessen, worum es bei dieser Wahl geht.“

Die „Demokratie“ muss sich bewegen – selbst wenn sie dabei vielleicht das aufgibt, was sie ausmacht. Ähnlich wie die CDU in Thüringen bereit ist, den Parlamentarismus zu beschädigen, kündigt Kerry an, dass seine Partei nach der Wahl die Meinungsfreiheit zu beschneiden bereit ist, um die eigene Machtposition zu festigen. Neuerlich: Die Erosion der Grundrechte in der Corona-Krise hat einen Geist aus der Flasche gelassen, dessen man nicht mehr Herr wird. Erschütternd bleibt, wie wenig Widerstand solche oder ähnliche Äußerungen hervorrufen. Man darf heute laut über das Ende althergebrachter Rechte philosophieren, so es hoffentlich den politischen Gegner einhegt. Preußenschlagmentalität trifft Römischen Bürgerkrieg.

Denn sowohl der US-Verfassungshof wie auch das deutsche Bundesverfassungsgericht haben sich sehr deutlich zu diesem Thema artikuliert. Im Fall Murdock vs. Pennsylvania von 1943 befand der Supreme Court, dass „Freiheit der Presse, Freiheit der Rede und Freiheit der Religion eine vorrangige Position“ einnähmen. Der Gerichtshof fügte hinzu, dass eine Gemeinschaft die Verbreitung von Ansichten nicht unterdrücken oder der Staat sie besteuern darf, weil sie unpopulär, lästig oder geschmacklos sind.

Ganz ähnlich urteilte Karlsruhe im Jahr 2011. Das Gericht stellte darin fest, dass Meinungen generell durch Artikel 5 des Grundgesetzes geschützt sind, „ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden. Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden.“

Anderthalb Jahrzehnte später gehört es zum Alltag, im Namen der Demokratie die Meinungs- und Pressefreiheit (Stichwort: Compact) einzuschränken, und dies mit jener freiheitlichen Grundordnung zu untermauern, die man selbst zu schleifen bereit ist. Sie gehören in einen Kontext, in dem auch Petitionen gestartet werden, einem unliebsamen Politiker die Grundrechte zu entziehen. Die Kirchen, die die Aufgabe hätten, das bedrohte Individuum im Sinne seiner göttlichen Ebenbildlichkeit mitsamt seiner Rechte zu verteidigen, überlegen stattdessen, wie man sich der Mehrheit anschließen kann, und die politische Minderheit möglichst stigmatisiert und ausschließt.

Leben wir also noch in einer Demokratie? Unzweifelhaft ja! Aber das ist keine unbedingt gute Nachricht. Denn dass eine Mehrheit den Umbau der westlichen Staaten zu oligarchisch-anonymen Funktionärsstaaten toleriert, ist angesichts der Wahlergebnisse der letzten 20 Jahren offenbar. Die Tyrannei der Mehrheit gilt also weiterhin, auch, wenn die politische Minderheit gerne von einer schweigenden Mehrheit träumt – sie steht auf der anderen Seite. Im Thüringer Landtag findet das Experiment statt, wie selbst die stärkste Fraktion am Ende doch nur eine politische Minderheit repräsentiert, wenn die übrigen 65 Prozent gegen sie stimmen. In Österreich zeichnet sich ein ähnlicher Mechanismus ab.

Tocqueville behält also Recht – mehr denn je. Denn die Freiheit kommt unter die Räder der Gleichheit. Es gewinnt die Einheitsmeinung gegenüber der Meinungsvielfalt.

Schlimmer als der Verlust der Demokratie wiegt deswegen die Aushöhlung des Rechtsstaates, die Abschaffung der dadurch verbürgten Freiheiten und der Verlust republikanischer Kontrollmechanismen; hier und nicht im demokratischen Verfahren liegt das, was die abendländische Zivilisation ausmacht. Formal gab es auch in den Ostblockstaaten „demokratische Wahlen“. Sie waren nur noch dazu da, um die Autorität des Systems auch formal zu bestätigen. Die Frage bleibt lediglich, wie weit sich „der Westen“ bereits auf diesen Weg begeben hat.

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