Unser Zeitgeist heißt Misstrauen allem und jedem gegenüber.
Mit dem Zeitgeist ist es vor allem so: Niemand gibt offen zu, dass er ihm folgt, und alle tun es – nun, nicht alle, aber fast. Natürlich behaupten die meisten von sich, sie bildeten sich ihr eigenes Urteil. Das tun so viele, dass man glauben könnte, wir seien ein Volk von Querdenkern. Doch selbst viele Querdenker verhalten sich höchst Zeitgeist-konform. In seinem Buch „Zeitgeisterjagd“ krönt Matthias Heitmann diese Unaufrichtigkeit mit der lapidaren Feststellung: „Der Zeitgeist sind immer die anderen.“ Den Historiker Hiery lässt er damit zu Wort kommen:
„Gelegentlich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als käme ,dem‘ Zeitgeist in Demokratien eine Art Totalitarismusersatz zu; als diene er als Vorwand und Ausrede für keineswegs unbestimmte und plötzlich entstehende allgemeine Tendenzen, sondern für durchaus zielgerichtete Bestrebungen, unpopuläre und nicht mehrheitsfähige Vorstellungen und Ideen durchsetzungsfähig zu machen.“
Misstrauen als Organisationsprinzip
Wer fühlt sich mit diesem Satz aus Hermann Joseph Hiery: „Der Zeitgeist und die Historie“ nicht mitten in die Auseinandersetzungen unserer Tage versetzt? Diese Auseinandersetzung wird aber nicht offen zwischen unterschiedlichen Positionen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Medien diskutiert, sondern mit Meinungs- Druck von allen Seiten versucht durchzusetzen: Nicht indem die einen die anderen versuchen zu überzeugen, sondern indem sich die radikal entgegengesetzten Positionen diese gegenseitig verbieten. Der oft beschworene Diskurs weicht flächendeckend der Ausgrenzung. Da greift ein Satz, der bei Hiery kurz nach dem schon zitierten steht: „… der Anpassungsdruck, der durch den Zeitgeist befördert werden kann, stellt ihn zweifellos in eine gewisse Nähe zur sogenannten ‚political correctness‘ unserer Tage.“
Totalitarismusersatz, das ist ja keine leichtgewichtige Diagnose. Schauen wir auf die Einheitsfront der Bundestagsparteien in nahezu allen wichtigeren Fragen und die ähnliche Einheitsmeinung in den meisten Medien und gesellschaftlichen Organisationen, kommen einem die Zeiten der Bonner Republik mit großen kontroversen Debatten innerhalb und außerhalb der Parlamente fast schon wie Märchen vor. Wie konnte es so weit kommen, dass die ja nicht verschwundenen grundlegend anderen Auffassungen von den wichtigen Dingen des Lebens im öffentlichen Raum keinen Platz mehr finden – jedenfalls keinen seriösen?
Heitmanns zentraler Befund ist erschreckend. Unser Zeitgeist heißt Misstrauen. Misstrauen „ist zu einem Organisationsprinzip unserer Welt aufgestiegen: Misstrauen gegenüber der Politik, gegenüber den Wissenschaften und der Technologie, gegenüber der Wirtschaft, gegenüber Ärzten, gegenüber nahezu allen Institutionen und Verbänden, gegenüber Fremden, gegenüber Nachbarn, auch gegenüber Partnern, gegenüber Menschen im Allgemeinen – und gegenüber der eigenen Person. Wer das nicht ähnlich fühlt, gilt als Sonderling.“ Dieser Geschmack zieht sich auch durch die GfK-Studie von der Rückkehr der German Angst, von der die Zeitungen berichten.
„Selbstverständlich sind Skepsis, Ungläubigkeit und gesundes Misstrauen Grundeigenschaften aufgeklärter Menschen“, betont unser Autor, aber „Misstrauen gegenüber allem und jedem führt letztlich in die Isolierung und zu Apathie“. Bei den „modernen Formengesellschaftlichen Engagements und Protests“ werde das besonders deutlich, viele engagieren sich im Namen gegen alles mögliche, nur nicht „für konkrete menschliche Belange: Je höher die misanthropische Dosis, desto stärker kann sich dieses Engagement auch direkt gegen Menschen und Gesellschaft richten. Die fließenden Übergänge etwa zwischen Tierfreunden, Tierversuchsgegnern und militanten Tierrechtsaktivisten zeigen die Abstufungen.“
Heitmann beschreibt vieles im Detail, was er „eine zentrale Eigenheit des heutigen Zeitgeists“ so zusammenfasst: „Die Wahrscheinlichkeit, dass moderne ‚politische‘ Radikalität im Denken und Handeln an eine hohe Konzentration misanthropischer Überzeugungen gekoppelt ist, ist größer als die, dass es sich um menschenfreundliches und humanistisches Engagement handelt.“ Gesellschaftskritik nehme „immer häufiger die Form einer sehr grundlegenden, fast schon un- oder antipolitischen – und damit auch antidemokratischen und elitären – Zivilisations- oder Menschenkritik an.“
Wer sich eine neue Krankheit anlesen möchte, greift zur Apotheker-Zeitung. Dort findest du das Zimperlein, das dir noch fehlt, sagt mein Freund, der Apotheker. Heitmann schreibt: „Für viele Menschen ist Burnout der Inbegriff einer einzigartigen psychischen wie physischen Überlastung, ausgelöst durch die moderne Welt, gegen deren hohe Anforderungen, rasende Geschwindigkeit und ohrenbetäubenden Lärm man sich kaum zur Wehr setzen könne.“ Um das Jahr 1900 gab es eine ähnliche Überforderungswelle: „Damals lautete die Diagnose nicht Burnout, sondern: Neurasthenie … in den Jahren vor 1914 war sie eine der häufigsten Diagnosen überhaupt.“
Die Epidemie verschwand, um 100 Jahre später als Burnout wieder epidemisch aufzuerstehen. Da liegt der Schluss nahe, sagt unser Autor, dass andere Ursachen vorlagen und vorliegen als seinerzeit die „elektrische Revolution“ und nun die elektronische sowie ihre Folgen: „Denn zwischen diesen beiden Wellen hörte die Welt weder auf, modern zu sein, noch verlangsamten sich Entwicklung und Fortschritte, im Gegenteil.“
Damals hieß Burnout Neurasthenie
Was haben die zwei Zeitpunkte gemeinsam? „Gemein waren ihnen die Angst vor der Zukunft, die Ungewissheit sozialer Umwälzungen, Rezessionen und politischer Verwerfungen, eine wachsende gesellschaftliche und politische Orientierungslosigkeit und damit verbunden ein steigendes Gefühl der individuellen Ohnmacht und der Resignation.“ Genau diese Stimmung finde ich in unzähligen Kommentaren der Leser von Tichys Einblick und überall, wo ich mit den unterschiedlichsten Zeitgenossen rede.
Damals im fin de siècle schwankte das Gefühl des Verfalls „zwischen Endzeitstimmung, Defaitismus, Lebensüberdruss, Weltschmerz, Todes- und Vergänglichkeitsfaszination auf der einen sowie Euphorie, Leichtlebigkeit, Frivolität und Dekadenz auf der anderen Seite.“ Was uns heute im Unterschied zu damals fehlt, ist jegliche politische Dynamik. Sie „speiste sich damals aus einer direkten Auflehnung gegenüber dem Status Quo“.
„Im ‚fin de siècle‘ war Fatalismus ein Freifahrtschein in die unendliche Leichtigkeit des Seins; der Weltschmerz wurde gefeiert und getanzt“, konstatiert Heitmann, „Der heutige Fatalismus besticht hingegen eher durch eine ausgeprägte Lustfeindlichkeit, Ernüchterung und Schwermut; der Weltschmerz wird still und einsam erlitten.“
Wir leben in einer Leid-Kultur: „Die Frage ‚Was machst Du?‘ wird in einem solchen Klima der Befindlichkeitsbetonung durch die Frage ‚Was hast Du?‘ ersetzt.
Seit die Linke – im weitesten Sinne, die einst Progressiven also – ausgiebig selbst in der Obrigkeit Platz genommen hat, ist sie selbst obrigkeitsgläubig geworden. Etwas anderes hatte sie nie vor, werden uns da viele zurufen. Das schreibt Heitmann nicht, aber ich. Es gibt derzeit keine Progressiven – jedenfalls nicht als politische Kraft. Lesen Sie bitte „Zeitgeisterjagd“ von Matthias Heitmann, das kann die Therapie fördern.
Matthias Heitmann: Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens. TvR Medienverlag, Jena 2015, 197 Seiten, 19,90 Euro.
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