Zehn Zeugnisse der Hoffnung auf bessere Zeiten

Die TE-Autoren David Engels, Marco Gallina, Anna Diouf und David Boos sowie andere Autoren nähern sich J.R.R. Tolkien, dem Schöpfer des Silmarillions, des Hobbits und des Herrn der Ringe. Er war ebenso überzeugter Katholik wie großer Liebhaber der alten nordwestlichen Mythologien. Von Marcel Scholz

Ein gutes Buch kann Vieles: unterhalten, bilden, amüsieren, nachdenklich machen. Aber auch Hoffnung schenken. Und gerade Hoffnung kann man dieser Tage gut gebrauchen. Dass sich hinter dem etwas sperrig anmutenden Titel „Aurë entuluva!“ des vorliegenden Sammelbands genau solche Hoffnung verbirgt, wird offensichtlich sobald man die deutsche Übersetzung dieses elbischen Ausrufs erfährt: „Der Tag soll wiederkommen!“ Dieser Ruf Hurins aus der mythologischen Sagenwelt J.R.R. Tolkiens ist das Motto jener zehn Autoren, die sich unter diesem Schlachtruf versammelten, um der ständigen Verballhornung und woken Umdeutung des Werks von Tolkien (zuletzt in der Amazon-Serie „Rings of Power“) ihren zum Teil sehr persönlichen Beiträgen die Stirn zu bieten. Die Autoren berichten dabei von der Hoffnung, die ihnen das Werk Tolkiens selbst gab und versuchen damit auch dem Leser zu vermitteln, welch ungeahnte Kraft, die weit über das rein Fantastisch-Unterhaltsame hinausgeht, und welch hoffnungsvoller Trost von den Schöpfungen J.R.R. Tolkiens ausgeht.

„Aurë entuluva!“ wurde von David Engels anlässlich des diesjährigen 50. Todestags von J.R.R. Tolkien veröffentlicht. Tolkien, der Schöpfer des Silmarillions, des Hobbits und des Herrn der Ringe, war ein ebenso überzeugter Katholik wie großer Liebhaber der alten Mythologien des nordwestlichen Abendlandes, und ist für Engels ein echter Seher, der bereits in seinen frühen Werken die heutige moralische, transzendente und existenzielle Krise des Abendlandes voraussagte und vielfache Inspiration lieferte, wie man auch angesichts dieses Niedergangs seinen christlichen und abendländischen Idealen treu bleiben kann. Das erklärte Ziel bestand darin, Tolkien als eine Brücke zur Transzendenz wahrzunehmen, der den Leser über die Vermittlung der zeitlosen und archetypischen Geschichten des Silmarillions, des Hobbits und des Herrn der Ringe zu einem besseren Verständnis nicht nur des Guten, Wahren und Schönen führen soll, sondern auch des Reichtums und der tiefen Schönheit der eigenen, christlich-abendländischen Tradition.

Sternstunden des Lesens
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Engels geht in diesem Sammelband der Frage nach, welche Rolle Tolkien bei der persönlichen Hinwendung der Autoren zu Gott, zum Abendland und zur Familie gespielt hat. Es geht also um nichts weniger als „eine Auseinandersetzung mit der Frage, was die Lektüre Tolkiens mit dem Leser ‚macht‘, was sie für seinen Lebensweg bedeutet, wie sie ihn verändert, begleitet und wachsen läßt.“ Vorwegnehmend ist zu sagen, daß der Herausgeber mit diesem Anliegen nur teilweise Erfolg hat, dabei aber auf höchst charmante Weise scheitert; denn nicht alle seiner neun Gefährten haben sich wirklich auf das Wagnis eingelassen, ein persönliches Zeugnis abzulegen, manche gaben  der  Adlerperspektive geisteswissenschaftlicher Einordnung den Vorzug.  Entstanden ist somit ein höchst berührender und gleichzeitig wissenschaftlicher Sammelband, der unterhält, bereichert und hoffen läßt.

Wege zur Transzendenz

Im Folgenden wollen wir einen kurzen Blick auf einige ausgewählte Texte werfen. Engels liefert als Herausgeber auch den ersten Beitrag, und man merkt jeder Zeile seine tiefe Liebe zum Werk des Professors an. Engels berichtet sehr persönlich davon, wie Tolkien jede seiner wichtigen Lebensetappen von Kindheit an begleitet hat, und unterstreicht in der Folge jene Aspekte des Werks Tolkiens, die ihn persönlich am meisten berührt haben – unter anderem die Erkenntnis, daß der Niedergang einer Kultur bei Tolkien „im Wesentlichen ein moralisches Phänomen [ist]; und zwar nicht nur ‚moralisch‘ im Hinblick auf die pragmatische Bedeutung von Moral für Gesellschaft, sondern im Sinne ihrer Anbindung an eine real existierende Transzendenz.“

Dadurch erhält das Werk Tolkiens den Charakter einer idealtypischen Beschreibung des Aufstiegs und Niedergangs großer Kulturen im Kontext eines immer wiederholten Ringens um das Wahre, Gute und Schöne; ein Ringen, das aufgrund der Schwäche der menschlichen Natur zwar nie aus eigener Kraft gewonnen werden kann, aber doch jedesmal individuelle wie kollektive Zeichen setzt, die teils durch göttliche Gnade mit einem unerwarteten Sieg belohnt werden – die Tolkien wie Engels so wichtige „Eukatastrophe“, die im letzten Moment ins Positive gewendete Katastrophe –, teils wie Lichter aus der Dunkelheit in die Zukunft hinausstrahlen. Dies erklärt auch den Titel des Sammelbands, „Aurë entuluva!“ („Der Tag soll wiederkommen!“) – der berühmte Ausruf Hurins, eines Fürsten der Menschen im Ersten Zeitalter Mittelerdes, als er während der „Fünften Schlacht“ als letzter Lebender seiner Streitmacht eine ganze Armee von Feinden in Schach hielt, um dem Elbenkönig Turgon den Rückzug zu ermöglichen, aus dem letzten Endes die spätere Rettung ganz Mittelerdes erwachsen sollte.

Wieviel persönlichen Einfluss und Hoffnung Tolkiens Werk bietet, bezeugt auch der amerikanische Schriftsteller Joseph Pearce im wohl beeindruckendsten Beitrag dieses Sammelbandes. Direktor des „Center for Faith and Culture” am Aquinas College in Nashville, Tennessee, Verfasser mehrerer Biographien u.a. zu Chesterton, Solschenizyn und selbstverständlich Tolkien, liefert Pearce einen zutiefst persönlichen Konversionsbericht, der – so viel darf gesagt werden – erstaunliche Parallelen zu meiner eigenen Tolkienerfahrung aufweist.

Versöhner von Vernunft und Glauben
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Pearce fand zu Tolkien, als er in einer seiner tiefsten Lebenskrisen steckte, nachdem er wegen eines Verstoßes gegen den „Race Relations Act” in Großbritannien zu einem Jahr Haft verurteilt worden war. Im Gefängnis nahm er zum erstenmal den „Herrn der Ringe“ zur Hand. „Die Erfahrung, die ich dabei machte, sollte mein Leben verändern, auch wenn ich das zu diesem Zeitpunkt nicht wußte oder bemerkte. Ich war mir bewußt, daß die Welt der Moral, in die ich eintrat, als ich die Seiten des Buches aufschlug, gesund war.“ Pearce, der bald darauf auch Chesterton entdeckte, konvertierte schließlich im Gefängnis zum Katholizismus und widmet seitdem sein Leben der katholischen Publizistik; die Schilderung eines Gesprächs, das er mit Solschenizyn, dem großen Systemkritiker des Kommunismus, über Tolkien führte ist zutiefst bewegend und wohl die stärkste Passage des Sammelbandes.

Marco Gallina, Redakteur bei „Tichys Einblick“, widmet seinen eloquenten Beitrag der Frage, inwieweit der selbsterklärte Atheist bzw. Agnostiker Terry Pratchett, sich nicht nur als Satiriker bei Tolkien bediente, sondern sich durchaus bewußt auch mit dessen religiösem Denken auseinandersetzte. Interessant ist dabei vor allem die folgende Feststellung: „Daß die Gleichzeitigkeit des Tolkien-Revivals und der Ausprägung der Generation Benedikt in einen ähnlichen Zeitraum fällt, dürfte kein Zufall sein. Dieselbe Generation, die in weiten Teilen die Alte Messe wiederentdeckt hat, weist eine Affinität zum Opus magnum des Engländers auf.“

Den für mich charmantesten Beitrag verfasste der Organist, Dokumentarfilmer und TE-Redakteur David Boos. In der stilistischen Tradition Thomas Manns nimmt er uns mit auf die Reise seines Alter Egos „Adaham“ und erzählt auf sehr persönliche Weise, wie er vom linken Revoluzzer schließlich in den Schoß der heiligen Mutter Kirche heimkehrte. Im Laufe dieser Reise begegnet Boos Widerständen, die er zwar in sich aufnimmt, um seine Perspektive zu öffnen, in denen er aber sich selbst und seinem eigenen Wertesystem treu bleibt.

Es ist ein Kreislauf – weg und wieder hin zu Gott; weg und wieder hin zur Heimat; weg aus der romantischen Welt der Musik und wieder zu ihr zurück. Dabei erkennt er den Individualismus als nicht per se etwas Egoistisches, sondern als die Wahl, seiner eigenen Bestimmung zu folgen: „Im Zusammenspiel der freien Entscheidungen, die jeweils vom Erkennen der schicksalhaften Notwendigkeit bestimmt sind, entsteht somit die Symphonie der Gesamtheit […]“. Diese Reise ist freilich nie ganz ohne Gefahren, Boos spricht seinem Alter ego beim Abschied von seinen Eltern mit dem folgenden Tolkienzitat Mut zu: „Es ist eine gefährliche Sache aus Deiner Tür hinauszugehen. Du betrittst die Straße, und wenn du nicht auf Deine Füße aufpasst, kann man nicht wissen, wohin sie Dich tragen.“

Ein weiterer Beitrag stammt von Anna Diouf, ebenfalls TE-Autorin, die eine persönliche Reflexion über den Begriff des oft zitierten „Eskapismus“ liefert und einige Vorurteile darüber demaskiert, die sie mit den Worten beschließt: „Wer nach Mittelerde geht, entflieht nicht dem Leben, sondern entflieht zum Leben hin“.

Kompetente, faire und kritische Darstellung
Ein genialer Wurf: Peter Seewalds „Benedikt XVI. Ein Leben“
Interessante Einblicke in den tobenden Kulturkampf im Tolkien-Universum liefert Ryszard Derdziński, der über seine – leider Gottes negativen – Erfahrungen mit diversen Tolkien Societies berichtet.  Natürlich muss auch der Essay von Charles Coulombe erwähnt werden, der Zeugnis ablegt von der wechselnden und doch gleichbleibenden Bedeutung des Werks von Tolkien in seinem eigenen Leben und berührend herausarbeitet, wie deren Transzendenz und Hoffnung ihm Mut zuspricht, angesichts des wenig rosigen Zustands des Abendlandes. Im Vergleich dazu sind die Beiträge von Marion du Faouët, Damien Bador und vor allem von Michael K. Hageböck – dessen ausführliches Essay separat in der Abteilung „Anhang und Vertiefung“ geführt wird – eher literaturhistorische Betrachtungen, die ihren Reiz aber gerade im Kontrast mit den zuvor genannten „persönlicheren“ Beiträgen beziehen.

Ein Hoffnungsschimmer in dunkler Nacht

Es kann kein Zufall sein, wenn die Lektüre bestimmter Autoren wie z.B. Tolkien, Chesterton, Belloc oder Benedikt XVI. einen dermaßen tiefen Einschnitt im Leben eines Menschen bedeutet, daß er beschließt, zum Katholizismus zu konvertieren und dem Wahren, Guten und Schönen zu folgen – mich selbst eingeschlossen. Hier soll nicht der Platz sein, um meine eigene „unerwartete Reise“ zu erzählen, aber ein kleiner Auszug sei mir in tiefer Verbundenheit zu diesem Sammelband gestattet.

Ich selbst kam mit Tolkiens Werk 2001, kurz vor der Premiere der ersten Verfilmung des Herrn der Ringe von Peter Jackson, in Kontakt und war ähnlich wie Pearce von der Welt der Heldenhaftigkeit, Moral, Tugendhaftigkeit und besonders des nuancenreichen Kampfes von Gut gegen Böse sofort gepackt. Jedoch blieb mir die katholische Perspektive des Werks noch lange verborgen: Ich nahm es zunächst als Medizin gegen den pubertären Nihilismus unserer Zeit wahr. Erst während des Studiums stieß ich auf Tolkiens eigene Auseinandersetzung mit dem Katholizismus, die, zusammen mit den Kontroversen nach dem Rücktritt Benedikts XVI. vom Papstamt, mein Interesse weckten. Sie  führten mich zur Lektüre der Gesprächsbände Peter Seewalds mit Benedikt XVI. und ließen jenen Samen der Hoffnung keimen, den David Engels und seine Mitautoren in diesem Sammelband thematisieren.

Tolkien, Benedikt und bald auch Chesterton wurden die Reiseführer auf meiner unerwarteten Reise zum Katholizismus, die schließlich in meine Konversion mündete und mir seitdem alle weiteren Ereignisse meines Lebens als „Eukatastophe“ enthüllt haben: Der Kampfschrei „Aurë entuluva!“ erwies sich für mich als selbsterfüllender Aufruf.

Auch dieser Band ist in gewisser Hinsicht eine „Eukatastrophe“, ein (gelungener) Versuch, auf verschiedenste Weise für das Wahre, Gute und Schöne zu streiten und Keime der Hoffnung und des Widerstands zu pflanzen, damit der „Gute Kampf“ auch während der „langen Niederlage“ immer weitergefochten werden kann, bis die Hoffnung am Ende siegt: „Aurë entuluva!“

David Engels (Hg.), Aurë entuluva! Der Tag soll wiederkommen! J.R.R. Tolkien zum 50. Todestag. Renovamen Verlag, Taschenbuch, 272 Seiten, 19,95 €.


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Pitter
1 Jahr her

Der englische Historiker Edward Gibbon vermutete bereits vor einem Vierteljahrtausend, dass die meisten wundersamen Geschichten über frühchristliche Märtyrer lediglich der Phantasie antiker Holocaust-Münchhausen entsprungen sind. Die Opferzahl und die Brutalität des angeblichen Christen-Holocaust wurde in den Märtyrer-Stories gewaltig übertrieben, wie ebenfalls Gibbon beschrieb, (1) um den letzten römischen Kaisern ein schlechtes Gewissen einzupflanzen, (2) um der Kirche als Entschädigung einen fetten Reibach zu gestatten, (3) um die Nicht-Christen als Menschen minderen Wertes behandeln zu dürfen, (4) um die Bedeutung der Kirche gegenüber dem Imperium zu steigern, (5) um den Zusammenhalt und das Wachstum der Christengemeinden zu erhöhen. Die Leugnung dieses… Mehr