Diesen kontrastierenden Vergleich hat ein Leser auf Martensteins Kolumnen in der ZEIT angewendet. Trifft er zu? Nun, wahrscheinlich lesen deshalb so viele Martenstein, weil er nicht polemisiert, sondern beobachtet und beschreibt aus einem gewissermaßen ethnologischen Blickwinkel: Woher kommt ein bestimmter Typus? Wie sind seine Sitten und Gebräuche entstanden?
Harald Martenstein gehört zu den altgedienten Kolumnenschreibern des Landes. Er geht dieser Tätigkeit schon so lange nach, dass er, wie er in seinem jüngsten Kolumnenbuch „Es wird Nacht, Señorita“ mitteilt, am Beginn seiner Karriere noch Worte wie „Beinkleid“ und „Spargeltarzan“ in unironischer Absicht verwendete. Über viele Jahre gehörten seine kurzen Stücke auch zum Angebot des Tagesspiegel, bis dessen Chefredaktion 2022 – es ging um Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen und ein ganz bestimmtes Detail darin – den Text nicht nur von der Onlineseite löschte, sondern sich auch noch umfangreich davon distanzierte (die Kolumne, um die es damals ging, dokumentiert er samt Nachwirkungen in dem Buch).
Der 1953 geborene Autor schreibt seitdem Kolumnen für Die Welt, bei der angestammten Zeit blieb er allerdings bis heute. Aus dieser Zeitung stammen sämtliche Texte des neuen Bandes. Sie stehen jeweils für sich, bilden allerdings in Teilserien größere Themenkreise. Zu den Vorzügen von „Es wird Nacht, Señorita“ gehört, dass die Sammlung auch eingestreute Kommentare von Zeit-Lesern enthält.
Einer lautet, Martensteins Beiträge in dieser Zeitung, das sei wie Kardinal Woelki in den St.-Pauli-Nachrichten. Ob der Vergleich das Verhältnis zwischen Predigt und dem unterhaltsamen Teil wirklich angemessen erfasst, kann dahinstehen. Den Kontrast trifft er jedenfalls recht gut. Der erste Abschnitt in “Es wird Nacht, Señorita“ widmet sich dem, was auf Englisch virtue signalling heißt, also der demonstrativen Herausstellung von Tugendhaftigkeit, die sich in den vergangenen zehn Jahren auch in Deutschland zum gesellschaftlich bedeutsamen Brauch entwickelte.
Wahrscheinlich lesen deshalb so viele Martenstein, weil er nicht polemisiert – was beide Seiten auf Dauer ermüden würde –, sondern beobachtet und beschreibt aus einem gewissermaßen ethnologischen Blickwinkel: Woher kommt ein bestimmter Typus? Wie sind seine Sitten und Gebräuche entstanden?
Beispielsweise die eines Theaterregisseurs, der sich auf einer Party mit dem Autor unterhält und konsequent gendert, obwohl keine Dritten zuhören, die sich durch das generische Maskulinum ausgeschlossen fühlen könnten. Möglicherweise gehört der Kulturmensch zu den Leuten, die den so genannten Glottisschlag grundsätzlich immer anwenden, um ihn nicht im falschen Augenblick zu vergessen. „‘Glottis‘ klingt nach ‘Berg in der Ostschweiz‘“, lernt der Leser, „ist aber Teil des Larynx, letzterer verbindet den Pharynx mit der Trachea“.
Sehr oft befasst sich der Kolumnist mit Erscheinungen, die ihm gegen den Strich gehen, die er bisweilen sogar für verhängnisvoll hält. Aber nie wünscht er sich die anderen weg oder stumm. Neutral beobachtet er allerdings auch nicht. Das liegt vermutlich an seinem juvenilen und kurzen Ausflug in die politische Radikalität, dem er eine Art Immunschutz gegen das Totalitäre jedweder Richtung verdankt. „Mir sind alle Bewegungen unheimlich“, schreibt Martenstein, „die sich nur fürs ganz Große interessieren, für die Weltrettung, für den Sieg einer politischen Theorie, die angeblich alle Probleme löst, für die einzig wahre Religion.“
Das Überthema Nummer zwei lautet Canceln, also das Beiseitedrängen bestimmter Meinungen durch Leute, die sich selbst für uneingeschränkt meinungsberechtigt halten. „Von der Cancel Culture“, heißt es in einem Text, „sagen ja manche hartnäckig, es gebe sie gar nicht. Über die Stadt Bielefeld behaupten Spaßvögel das Gleiche. In beiden Fällen ist die Beweislage dünn. Dazu laufen einfach zu viele Bielefelder und zu viele Gecancelte da draußen herum.“
In diesem Abschnitt finden sich unter anderem eine Hommage an den britischen Autor Roald Dahl, der heute professionellen Textdurchflöhern nicht mehr zumutbar erscheint, es folgt eine kleine Abhandlung über die spät entdeckten Sünden des Malers William Turner, danach die Würdigung der Professorin Susan Arndt, Kuratorin einer Liste unkorrekter beziehungsweise nicht mehr sagbarer Begriffe, zu der beispielsweise das „Hä-Wort“ gehört. Via angefügten Kommentars des Autors erfährt man, dass sich die Wissenschaftlerin wegen dieses Textes bei der Zeit beschwerte. In der Folge entstand daraus ein Streitgespräch zwischen ihr und Martenstein. Es gibt also auch gute Konsequenzen, wenigstens ab und zu. Was es mit dem inkriminierten Hä-Wort auf sich hat, müssen künftige Leser des Buchs bitte selbst herausfinden. Um die Beleidigung von Schwerhörigen geht es jedenfalls nicht.
Gesellschaftlich-politische Phänomene allein füllen noch kein Kolumnistenleben, also auch keinen Sammelband. Er handelt deshalb auch von Tinder, dem Ende der Münchner Schickeria und anderen neueren Entwicklungen. Auch von dem unerwarteten Problem seines Sohnes beim Erwerb des Seepferdchens. Nicht alle Stücke wirken komisch, etwa, wenn er darüber schreibt, wie leicht es dem sehr wohlmeinenden Autor eines christlichen Magazins von der Hand geht, seine weltanschaulichen Gegner als „Tumor“ zu bezeichnen. Oder, wenn Martenstein von seiner dementen Mutter erzählt. Erst durch die Variation von Themen und Tonlagen entsteht ein Bilderbogen, der die Gegenwart illustriert. Im Idealfall färbt etwas von der Gelassenheit vieler Texte auf den Leser ab.
Nicht wenige Leute kaufen Die Zeit gerüchteweise nur wegen des wöchentlichen Martensteins. Für alle anderen gibt es seine Kolumnenbücher.
Harald Martenstein, Es wird Nacht, Señorita. Gedanken über die Beglückungen der Gegenwart. C. Bertelsmann Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 224 Seiten, 22,00 €.
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Ich habe das Buch (noch) nicht gelesen, aber ich finde das Cover und den Titel mehr als gelungen. Ich interpretiere Cover und Titel als subversive aber umso deftigere Ohrfeige gegen das gegenwärtige linke Milieu in Deutschland, welches dem (links)Faschmismus in Quantität und Durchdringung der Machteliten in Deutschland gewärtig viel näher steht als „die Rechten“ es nach ’45 jemals waren. Mehr spanisch/lateinamerikanische Gelassenheit, ich gönne sie dem Autor, aber ich bin noch deutlich jünger und die Linken (die Grünen sind Teil dessen) zerstören zunehmend dieses Land, das Land in dem ich lebe und aufgewachsen bin. Wo führt das hin, wenn einem… Mehr
Martenstein schreibt in „der Zeit“? Das könnte ein Grund sein, warum er mir völlig unbekannt ist.
Ich freue mich immer von Herrn Martenstein zu lesen!
Wenn man ohne Polemik beschreibt, was ist, gerät man mindestens in den Bereich der Satire, wenn nicht gar in den der Zynik.