Wie der kurze Sommer der Freiheit zum langen sozialistischen Winter wurde

Diese unerzählte Geschichte des Widerstands in der DDR, die ich Ihnen zu lesen empfehle, wird Sie genau so packen wie mich; mit einer Mischung aus Schaudern und von Seite zu Seite wachsendem Interesse. Jenseits der Lücken in unserem Bonner-Republik-Wissen über die DDR gehen mir die Schicksale der jungen Leute, ihrer Eltern und Freunde, von denen Mai erzählt, sehr zu Herzen.

Wer wissen will, wie sich das Drama namens DDR, der zweiten deutschen, der sozialistischen Diktatur abgespielt hat, die nahtlos an die erste, die nationalsozialistische anschloss, muss dieses neue Buch von Klaus-Rüdiger Mai lesen. Wer sich wie ich für den gescheiterten Versuch interessiert, einen deutschen Staat auf der Grundlage des gleichen Rechts für alle in einer freiheitlichen Demokratie zu errichten, dem wird es wie mir ergehen. Autor Mai füllt mit seinem Buch Stück für Stück viele Lücken in unserem Wissen.

Ich war permanent versucht, diese und jene und noch eine Passage zu zitieren, aber ich soll die Geschichte des kurzen Sommers der Freiheit und wie daraus die DDR-Diktatur wurde, ja nicht nacherzählen. Deshalb beschränke ich mich auf wenige.

„Die DDR war ein Staat mit Utopieüberschuss: Sie unterbreitete mit der Vorstellung eines Paradieses ein metaphysisches Angebot, das auch deshalb so unwiderstehlich war und für manche immer noch ist, weil es innerweltlich verwirklicht werden könne.“

Utopien sind immer vor allem etwas für junge Leute, damals wie heute:

„Man versteht die Geschichte der DDR, die Geschichte, wie aus Ostdeutschland eine Diktatur wurde, nicht, wenn man nicht auch sieht, dass sehr viele junge Leute eine Chance in dem neuen Staat, die Möglichkeit einer neuen, einer gerechten Gesellschaft sahen; ihre Begeisterung war so echt wie ihre Hoffnung.“

„Es muss demokratisch aussehen …“
Wie aus der DDR eine Diktatur wurde
Was Mai über eine ganze Reihe von jungen Leuten aus den Nachkriegsjahren  Mitteldeutschlands, in denen die DDR entstand, erzählt, ist eine tragische Serie. Darunter ist eine große Zahl junger Liberaldemokraten, während sich die anderen parteilich nicht zuordnen lassen, aber alle eint, dass sie an den Hochschulen bald lernen müssen, wie die Kommunisten über jede Demokratie hinweg die Herrschaft an sich reißen. Für die einen endet das mit ihrem Tod, für viele mit Misshandlung, Gefängnis, Existenzvernichtung – mit lebenslangen Folgen.

Klaus-Rüdiger Mai schreibt Sachbücher ebenso wie Romane. Indem er in der Geschichte über den kurzen Sommer der Freiheit die unglaubliche Fülle von Fakten mit dem persönlichen Schicksal von jungen Widerständlern mit Leben erfüllt, macht für mich dieses Buch zu einem ganz besonderen. Von Arno Esch und Wolfgang Natonek hat der eine und andere von uns schon mal gehört. Aber von dem fast Dutzend junger Leute der „Gruppe Belter“ um Herbert Belter, der in Moskau durch Genickschuss hingerichtet wurde und von dem es nicht einmal ein Grab gibt, wussten wohl nur wenige. Mai gibt diesen jungen Mitteldeutschen ein Gesicht und holt sie für die Lesezeit wie die Erinnerung daran zurück ins Leben. Ihr Schicksal berührt ganz anders als nackte Fakten und Zahlen. Hinter den Fakten richtet Mai auch gleißende Scheinwerfer auf die willigen Helfer des Systems der DDR und die Sowjetbesatzer – auf Mörder, Henker, Spitzel, Häscher und Denunzianten.

Der Leser wird auch bekannte Namen finden – in bisher unbekannten Zusammenhängen, vom Politiker Genscher bis zum Journalisten Löwenthal. Dass der LDPD-Vorsitzende Manfred Gerlach ein besonders strammer Diener des DDR-Regimes war, wusste ich. Wie viele junge Leute er aber nicht nur als Denunziant, sondern auch als Fallensteller ans Messer lieferte, war mir abschreckend neu.

Erschreckend zog sich ein Gefühl durch das ganze Buch, weil ich alle paar Seiten etwas las, was Gedankensprünge zum politischen Kulturkampf in der Berliner Republik auslöste. Nicht nur, aber vor allem auch unter den Überschriften „Sturm auf die Wissenschaft“ und „Gleichschaltung der Universitäten“ klingelte permanent die Assoziations-Glocke.

Der verschwundene Sohn
Wo die Herrschaft auf Lügen beruht, wird die Wahrheit zum Staatsfeind
An den in unseren Tagen meist zaghaften Widerspruch gegen die mit der Klima-Kampagne vorangetriebene „Große Transformation“ musste ich sofort denken, als ich las:

„Selbst diejenigen, die das erkennen, agieren taktisch in der Hoffnung, die neue Diktatur verhindern zu können. Doch wer sich auf die schiefe Ebene begibt, hält nichts auf, wie er vermeint, sondern rutscht selbst mit herunter.“

Lange versuchten viele in der jungen DDR, da und dort doch noch etwas von ihren Anfangsträumen zu retten. Schwer fiel es vielen einzusehen und sich einzugestehen, dass es in Mitteldeutschland in die nächste Diktatur ging. Dem Utopieüberschuss folgten die Resignation und der Rückzug in die Nischen; aber darüber könnte Klaus-Rüdiger Mai ein weiteres Buch schreiben.

In seiner Einleitung reißt Mai ein Thema an, das noch ein Buch wert wäre. Er fragt, warum wir eine geteilte Wahrnehmung des Widerstands gegen das NS-Regime und gegen das SED-Regime haben:

„Messen wir die beiden deutschen Diktaturen in unserer Erinnerungskultur mit unterschiedlichem Maß? Konkreter gefragt, gewichten wir die Opfer der beiden Diktaturen unterschiedlich? Ist es bestimmten politischen Kräften gelungen, die kommunistische Diktatur, den linken Totalitarismus im Zuge der Bereinigung ihres politischen Erbes zu verharmlosen?“

Klaus-Rüdiger Mai wird mir verzeihen, wenn mich sein Buch auch woanders hin und weiter führt. Vielleicht ergeht es Ihnen, werte Leser auch so. Aber erst einmal empfehle ich Ihnen, diese unerzählte Geschichte des Widerstands in der DDR zu lesen. Ich bin sicher, Sie wird Sie genau so packen wie mich. Mit einer Mischung aus Schaudern und von Seite zu Seite wachsendem Interesse. Jenseits der Lücken in unserem Bonner-Republik-Wissen über die DDR gehen mir die Schicksale der jungen Leute, ihrer Eltern und Freunde, von denen Mai erzählt, sehr zu Herzen. Wie hätten wir von meiner Generation uns verhalten? Hätten wir das überhaupt?

 Klaus-Rüdiger Mai, Der kurze Sommer der Freiheit. Wie aus der DDR eine Diktatur wurde. Herder, Hardcover mit Schutzumschlag, 320 Seiten, 22,00 €


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Kommentare ( 3 )

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Nibelung
11 Monate her

Während meiner vielen Geschäftsreisen in die frühere DDR konnte ich durchaus sehr viele unterschiedliche Ansichten der Bürger vernehmen beim Funktionär im Betrieb ebenso, wie bei anderen Menschen, denen ich während dem Aufenthalt begegnet bin. Da gab es unterschiedliche Charakteren, die hundertfünfzig Prozentigen, die vom Sozialismus durchaus überzeugt waren und manchmal war ich überrascht, wenn z.Bsp. die Zimmervermietende Offizierswitwe oder eine Führungskraft aus dem volkseigenen Betrieb plötzlich vom Leder zogen, wenn wir allein waren und das Vertrauen etwas gewachsen ist um dann etwas mehr zu sagen, was ja niemand hören durfte, denn sonst war der Job weg, genau wie heute, in… Mehr

RMPetersen
11 Monate her

Ein Freund, der die ersten 35 Jahre seines Lebens in der DDR verleben musste, bis 1989, spürte erheblich früher als ich (und andere im Westen Aufgewachsenen), was sich so ab 2012 in Deutschland abspielte: Die Geburt der dritten Diktatur. Es ist eine totalitäre Herrschaft mit demokratischen Fassade, alle wesentlichen Medien und die Justiz haben sich gleichgeschaltet. Wer die Sprachregelungen der DDR verinnerlichen musste, um zu überleben, spürt das, sagte mein Freund. Und es dreht ihm der Magen um: Gut 20 Jahre, sagte er, lebte ich ohne Angst. Das war die Zeit bis, wie gesagt, 2012. Spätestens ab 2015 herrscht die… Mehr

ekki
11 Monate her

Danke für den Lesetip, das klingt nach einem sehr lesenswerten Buch, wird bestellt! Die aufkommenden Assoziationen zur Gegenwart kann ich schon jetzt nachvollziehen, was das Buch noch spannender macht. Ich bekomme oft das Gefühl, dass die DDR eine Art Blaupause für manche aktuelle Entwicklung darstellt, was erschreckend ist. Stasinetzwerke oder DDR Nostalgiker am Werk oder die immer gleichen Mechanismen von Sozialisten aller Coleur? Wie auch immer, ich freue mich auf die Lektüre!