Den 23. April hat die 28. Generalkonferenz der UNESCO 1995 als „Welttag des Buches und des Urheberrechts“ ausgerufen, den die Buchbranche sowie die lesende Community seitdem jährlich feiert. Wie kam es dazu und was haben Katalonien, Cervantes, Shakespeare und der Hl. Georg damit zu tun?
Allgemeine Gedenktage liefern im überhitzten Meinungsklima immer mehr Streitmaterial. Längst sind auch Jubiläen und sogar Straßennamen zu Feldern des politischen Kampfs geworden. Da werden Künstler nach Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit und Sozialverhalten beurteilt, die ganze bisherige Überlieferung von Dichtung, Malerei und Musik steht unter Generalverdacht. Im Ergebnis ist es wie im Märchen von der Schneekönigin: Dem kleinen Kay springt ein Glassplitter ins Auge, wonach er alles nur noch böse und hässlich sieht.
Ein opportunistischer, intellektuell anspruchsloser, dafür umso rabiaterer Nachwuchs in Kulturindustrie und Medien nutzt jede Gelegenheit, um mit spürbarer Aggressionslust alles zu delegitimieren und zu „dekonstruieren“, was Dichter, Philosophen. Historiker, bildende Künstler und Musiker im Laufe der europäischen Zivilisation geschaffen haben. Geschichtliche Ereignisse und Biographien sollen nicht mehr verstanden, sondern zensiert werden.
Welttag des Buches
In dem Dilemma, in dem allgemeines Gedenken heute steckt, gibt es vielleicht einen kleinen Lichtblick: 1995 erklärte die in Paris tagende Generalkonferenz der UNESCO den 23. April zum „Welttag des Buches und des Urheberrechts“. Das Medium Buch soll damit gefördert werden „als Instrument zur Verbreitung von Wissen und als wichtiger Faktor der kulturellen Bereicherung“. Noch ist es ja so, dass in Büchern jede Meinung, Erzählung, Phantasie ihren Platz finden kann. Noch.
Lehrreich ist auch die Geschichte des Buchgedenktags. In Barcelona gab es seit dem 15. Jahrhundert den poetischen Brauch, dass an „San Jordi“, also am 23. April, die Männer ihren geliebten Bräuten und Gattinnen Rosen schenkten und diese sich dafür mit Buchgeschenken revanchierten. Das wurde bald mit Volksfesten verbunden und im Lauf der Jahre kamen Lesungen, Aufführungen und Musikveranstaltungen hinzu. Diese katalanische Tradition wurde vom offiziellen Spanien aufgenommen. 1926 proklamierte Madrid – angeregt durch die in England gleichen Tags üblichen Shakespearefeiern – einen alljährlich wiederkehrenden „Tag des Buches“. Welch schönes Vorbild für die Einheit katalanischer und spanischer Kultur.
Cervantes und Shakespeare
Vor 402 Jahren starben an einem 23. April Miguel Cervantes und William Shakespeare. Eigentlich starb Shakespeare später, nämlich am 3. Mai. Spanien war der gregorianischen Kalenderreform früh gefolgt (1582), die zehn Tage des alten julianischen Kalenders ersatzlos strich, während das antikatholische Britannien sich erst 1752 zur neuen Zeitrechnung überwand. In beiden Ländern dauerte es noch, bis ihre großen Dichter zu gefeierten „Klassikern“ wurden. Dann allerdings wurden sie rasch in den höchsten Geniehimmel erhoben. „Don Quichote“ wurde zum „besten Buch der Welt“ gekürt, Shakespeare zum „größten Dichter aller Zeiten“. Die 10-, 20- und 50-Cent-Münzen der spanischen Euromünzen tragen eine Cervantes-Abbildung. Der Cervantes-Preis ist der wichtigste Literaturpreis der spanischsprechenden Welt.
Mit einem Märchensplitter im Auge ließe sich auch an Cervantes kritteln. Seine Teilnahme an diversen Schlachten gegen Türken und Sarazenen, darunter am epochalen Sieg 1571 über die türkische Flotte bei Lepanto, könnte als „Kreuzzüglertum“ missdeutet werden. Opfer waren zu dieser Zeit allerdings die Christen. Osmanische Kriegsgaleeren und maghrebinische Piratenschiffe beherrschten damals das Mittelmeer. Als Beute suchten sie neben den Handelsgütern Nachschub für die Sklavenmärkte in der islamischen Hemisphäre. So war es verständlich, dass der Sieg von Lepanto als christliche Selbstermutigung gefeiert wurde. Der Erfolg wurde dem Eingreifen Marias zugeschrieben, Papst Pius stiftete den Gedenktag „Unserer Lieben Frau vom Siege“. Als Prinz Eugen die Türken 1716 in Ungarn vernichtend schlug, wandelte man das Gedenken zum „Rosenkranzfest“ am 7. Oktober.
Cervantes büßte sein Soldatentum heftig, wurde mehrfach schwer verwundet; seine linke Hand blieb dauerhaft gelähmt. Er geriet 1575 in Gefangenschaft und wurde als Sklave nach Algier verschleppt. Erst nach über fünf Jahren gelang es dem Trinitarierorden, ihn freizukaufen. Später arbeitete er als Steuereintreiber, verließ seine Frau und zeugte mit einer Geliebten eine Tochter, für die er aber wegen notorischer Überschuldung nicht sorgen konnte. Wegen Unterschlagung von Kircheneigentum geriet er vor das Inquisitionstribunal, schließlich ins Gefängnis.
Nebenbei bilanziert: Seiner kriegsbedingten Behinderung, Geldnot und der Langeweile in der Zelle verdanken wir sein Hauptwerk. Im Schuldgefängnis entstanden die ersten Kapitel des „Don Quijote“, in dem er sich vordergründig über die Ritterromane seiner Zeit lustig machte. In Wahrheit sind die Geschichten über den „Ritter von der traurigen Gestalt“ nach der Meinung gescheiter Interpreten eine der klügsten und dennoch witzigsten Parabeln über den Sinn des Lebens.
Machodramatiker William Shakespeare
Von Shakespeare sind wenige urkundlich belegte Zeugnisse bekannt. Das wichtigste aber lässt den genialen Engländer, betrachtet man ihn mit einem Splitter im Auge, sehr hässlich erscheinen. Die herausragende Quelle zu seiner Biographie ist sein Testament, das nur ein einziges persönliches Detail enthält. Im Nachtrag steht da der schnöde Satz: „To my wife I give my second-best bed“.
Die im gesamten Vermächtnis sonst mit keinem Wort erwähnte Ehefrau und Mutter seiner Kinder wird mit dem „zweitbesten Bett“ abgefertigt. Kann so etwas nach einer 34-jährigen Ehe und drei gemeinsamen Kindern einen anderen Grund haben als Frauenfeindschaft? Ja, sie kann. Es gibt neben wunderbaren und liebenswerten auch ganz abscheuliche Ehefrauen, die ihren Gatten das Leben zur Hölle machen. So einer Xantippe wenigstens am Ende noch einen reinzuwürgen, macht den eigenen Abgang vermutlich sehr befriedigend! Das konnte sich nur der geniale Dramatiker ausgedacht haben.
Hoffnung für einen präsentierbaren Lebenswandel gab es im Jahre 1795! Da wurden überraschend zwei für den Charakter des Dichters sehr erfreuliche Dokumente entdeckt: ein zärtlich-romantischer Liebesbrief des jungen William an seine Anne (mit der Beigabe einer Haarlocke) und ein mustergültiges anglikanisches Glaubensbekenntnis von des Dichters eigener Hand, was wegen der Gerüchte über seinen heimlichen Katholizismus sehr willkommen war. Leider stellte sich bald heraus: Beide Schreiben waren Fälschungen.
Es bleibt dem deutschen Regietheater vorbehalten, den Kampf gegen einen machismo-verdächtigen Autor zu führen. Man „dekonstruiert“ so lange bis die Ingroup klatscht und baut die genialisch-wilde Dramatik zur politisch-moralischen Demonstration um. Den Weg wies die berühmt-berüchtigte Zadek-Inszenierung mit Angela Winkler als Hamlet. Und die Epigonen folgen, etwa Karin Henkels „Macbeth“ in den Münchner Kammerspielen, wo fünf Darsteller nicht nur in sämtliche Rollen wechseln, sondern auch hin und her zwischen moralischen Standpunkten, Geschlechteridentitäten und Sprachen.
Wie gut, dass wir uns die Laune am wilden William nicht verderben lassen müssen: Das traditionssichere Britannien, das sich selbstbewusst an royalem Gepräge und nostalgischen Richterperücken ergötzt, zum Abschluss der „Last Night of the Proms“ gemeinsam das „Rule, Britannia!“ schmettert, wird auch Shakespeare noch lange nach der „pc“-Ära pflegen.
Der heilige Drachentöter
Christliche Festtage sind Antiklerikalen, Scharia-Anhängern und Phantasielosen prinzipiell verdächtig. Schnell wird geklagt, dass vielleicht Menschen anderen Glaubens oder Hautfarbe beleidigt oder zartbesaitete Menschen verstört werden könnten. Wie die vielen Kinder, die angeblich durch ein Kruzifix im Klassenzimmer traumatisiert werden. In vorauseilender Beschwichtigung solch halluzinierter Kritik wird aus dem Christkind der alberne „Santa Claus“, aus dem Christkindlmarkt der Wintermarkt, aus Ostern das „Hasenfest“. Auch der Festtag des Hl. Georg entspricht nicht den mäkeligen Kriterien der „political correctness“.
Der Vornamensspender aller Georgs, Jörgs, Jürgens, Schorschs, Jorges, Jordis, Juris, Jiřis und Györgys, von mindestens 36 Königen und einer unüberschaubaren Schar in Adel und Prominenz, gehört eindeutig zu den militantesten Heiligen. Sein Heldenmythos preist alle ritterlichen Tugenden, an denen sich viele Jahrhunderte lang die gesamte Christenheit erbaute. Sein Bild – zu Pferd, mit der Lanze einen Drachen stechend – gehörte zu den attraktivsten Sujets für Maler und Bildhauer.
Verlässliche Daten über Leben und Wirken Georgs gibt es nicht, dafür aber zahllose Legenden. Nach der mittelalterlichen Legenda aurea wird er wegen seines unerschrockenen Bekenntnisses im Jahr 305 festgenommen. Neben üblichen Folterarten treibt man ihm 60 Nägel in den Kopf, er wird drei Tage in frischgelöschtem Kalk eingelegt, in glühende Schuhe gestellt, auf ein glühendes eisernes Bett gelegt und mit siedendem Blei übergossen, in einen glühenden ehernen Stier eingeschlossen. Er überlebt alle Qualen, leert unbeschadet mehrere Giftbecher und wird schließlich am achten Tag enthauptet.
Sankt Georg zählt zu den „14 Nothelfern“, ist Schutzheiliger und Patron von England, Russland, Schweden, Georgien, Deutschland, Frankreich, Piemont, Katalonien und des Kirchenstaats, von mindestens 34 Städten von Bamberg bis Valencia; Patron der Krieger, Reiter, Ritter, Soldaten; Helfer gegen die Macht des Satans, gegen Kriegsgefahr und Unglück.
Die sein „Markenzeichen“ begründende Legende ist die Erzählung vom Drachen. Danach kam er als wandernder Ritter in ein Land, das von einem Ungeheuer tyrannisiert wurde. Als man sich der Forderung des Untiers nach Menschenfleisch nicht mehr länger entziehen konnte, fiel das Los für das erste Opfer auf die Königstochter. Während sie zitternd im Brautkleid dem Monster entgegen schritt, griff Georg den Drachen mit einer Lanze an und verletzte ihn schwer. Er hieß die Prinzessin, ihren Gürtel um den Hals des verwundeten Ungetüms zu schlingen und es in die Stadt zu ziehen. Zahm wie ein Lämmlein ließ es sich von der Jungfrau führen. Als das Volk die drei kommen sah, entsetzte es sich, aber Georg versprach, das Untier zu töten, wenn sich alle zu Christus bekehrten. Alle wollten es, und Georg tötete den Drachen – 15.000 Menschen konnten getauft werden.
Ist es heute noch vertretbar, einem Tierquäler einen Festtag zu widmen? Gab es nicht soeben erst eine Petition mit 280.000 Unterschriften gegen die geplante Einschläferung eines Kampfhundes, der zwei Menschen getötet hatte? Ich denke schon, man kann und sollte. Mit Drachen, die Jungfrauen verschlingen wollen, darf man nicht lange fackeln.
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„Noch ist es ja so, dass in Büchern jede Meinung, Erzählung, Phantasie ihren Platz finden kann. Noch.“ Ich weiß nicht, ob das noch so ist. (Ich klammere hier ökonomische Notwendigkeiten aus.) Oder haben wir nicht doch erste Anfänge zwischen den Zeilen zu schreiben, um gesellschaftliche Erscheinungen offen legen zu dürfen? Das zwischen den Zeilen geschriebene, hat immer Raum für Interpretationen. Wer davon tangiert ist, wird es richtig interpretieren. Nach meinem Verständnis war Cervantes ein Kritiker der gesellschaftlichen Situation (Verfall) par excellence. Sieht sich aber gezwungen, diese Kritik einem Narren in den Mund und in seine Handlungen zu legen. In der… Mehr