Auch in der vierten Lieferung der Buchreihe EXIL aus dem Buchhaus Loschwitz geht es um Gewagtes, das dennoch und deshalb Licht ins Dunkel wirft: Kritische Überlegungen zur politischen Kybernetik, zum „scharfen“ Lachen Wilhelm Buschs und zum „ungesicherten“ Europa-Begriff unserer Tage.
Eberhard Straub, einst Redakteur in den Feuilletons verschiedener Zeitungen, heute freier Journalist und Autor, veröffentlicht in der neuen, vierten EXIL-Staffel ein Buch über Europa, das aus Aufsätzen und Analysen aus den Jahren 1994 bis 2020 besteht. „Europa“ heißt der Band schlicht, doch der Untertitel „Ein ungesicherter Begriff“ lässt stutzen. Was wäre an diesem Begriff nicht geklärt? Straub geht es nicht so sehr um die geographischen Grenzen, die gelegentlich auch politische Implikationen haben: Es gibt sozusagen ein Groß- und ein Klein-Europa je nach Setzung der Ostgrenze.
Aber vor allem geht es Straub um eine Epochenwende, die er für so bedeutsam hält, dass praktisch der ganze Band darum kreist. Und damit geht es ihm zugleich um zwei verschiedene Begriffe Europas. Zum einen das, was viele heute (fälschlich) „Europa“ nennen: den Überbau aus EU, Europarat und anderen Institutionen; auf der anderen Seite das alte Staatensystem Europa, das Straub vom Mittelalter bis zum Ende des Ersten Weltkriegs datiert. Im Jahr 1918 liegt der große Umbruch in dieser geschichtlichen Erzählung, in der ein Europa zerfiel und von seinen Einwohnern verlassen wurde, bevor dessen leere Form – nach einem weiteren Weltkrieg – mit neuen Konstruktionen gefüllt wurde, die sich vom alten Organismus deutlich unterscheiden.
Straubs Blick auf diesen Organismus öffnet sehr diskret neue Blickachsen. Die europäischen Königreiche der älteren Epoche (vor allem Frankreich und das Habsburgerreich) fühlten sich zwar immer wieder zur Führung des Kontinents berufen, das bedeutete aber nie eine Bevorzugung der ihnen zugrundeliegenden Nationen. Es war ein Europa vor dem Nationalismus, in dem Macht dennoch traditionell organisiert war. Mit Österreich-Ungarn ging das letzte Experiment dieser Art im Jahr 1918 unter.
Die alte europäische Welt hatte schon immer gemäß dem Wahlspruch „In Vielfalt geeint“ funktioniert, der heute als Motto der Europäischen Union dient. Die Dichter, Denker und Kunstschaffenden des westeurasischen Subkontinents fühlten sich zweifellos als Europäer, doch ihr Gemeinsames war immer die Kultur, nie ein vereinheitlichtes Staatswesen: „Internationaler Gedankenaustausch musste vor 1914 nicht eigens organisiert werden.“ Die Vielfalt passte mit Eintracht zusammen, nicht mit der Einheitlichkeit und der maßlosen Vereinheitlichung unserer Tage.
Die Wurzeln der heutigen – irgendwie ja noch andauernden – Ost-West-Spaltung findet Straub schon im 19. Jahrhundert und ist dabei immer auch auf der Spur der „Verfemten“ im Staatensystem. Fast heutig wirkt, wenn die britische Presse im Krimkrieg der 1850er Jahre das Kneifen Preußens beklagte: „Preußen wird immer verhandeln, aber es findet nie einen Entschluss. Es findet sich gerne auf Kongressen ein, aber fehlt auf den Schlachtfeldern. Es ist immer bereit, eine Menge von Idealen und Gefühlsmomenten vorzubringen, aber seine Politik scheut zurück vor allem, was nach Realität und Aktualität schmeckt.“ Ist das nicht ein Porträt der Berliner Republik von heute, samt einer Annalena Baerbock, die ihre Werte und Vorstellungen (und den Taft der Kongresse) sicher einer realistischen Außenpolitik vorziehen wird?
Später wurden Deutschland und Österreich aus dem westeuropäischen Zivilisationsbegriff getilgt, als es im Ersten Weltkrieg darum ging, die Mittelmächte mit Russlands Hilfe zu besiegen. So entlarvt Straub die Relativität des westeuropäischen Zivilisationsbegriffs, der vor allem ein Opportunismus ist (auch wenn ihn heute Grüne benutzen). Und so erfahren wir, dass im Epochenbruch 1918 zuerst und vor allem eine Idee von „Mitteleuropa“ aufgelöst wurde. Mit dem Verlust dieser Mitte – so Straubs These – ist auch die Idee von Europa überhaupt zu einem unklaren Begriff geworden. Entscheidend war vor allem die Moralisierung der internationalen Politik, die damals von Frankreich, Großbritannien und den USA betrieben wurde.
Über die Neuerfindung der Kybernetik als politischer Steuerungswissenschaft
„Riskante Essays“ heißt der Untertitel des Bandes „Der Weg der Maschine“, in dem der viel gefeierte Romanautor Thor Kunkel sich an einigen flagranten Diskurslinien unserer Zeit – offensichtlichen ebenso wie verborgenen – abarbeitet. Kunkels Blick auf diese Denkansätze lässt aufhorchen. Unsere Gegenwart wird darüber zur Vorstufe einer auf unheimliche Weise durchregulierten Zukunft, die man sich nicht so nah vorgestellt hätte. Beispiele geben die Lösch-, Warn- und Unterdrückungsorgien in den sozialen Netzwerken, wo es um Gesundheitsthemen geht.
Der Untermauerung seiner Überlegungen dienen auch einige autobiographische Realitätsfragmente. Berichte aus dem Gastgewerbe am Lago Maggiore zeigen uns Menschen von heute, oder zumindest einige interessante Beispiele wie einen ehemaligen Thyssen-Manager, der von der Entartung der heutigen Eliten erzählt. Wenn er den Band sehr prononciert als „Exilierter“ des Kulturbetriebs begann, dann relativiert Kunkel diese Selbstbeschreibung später, wo er vom heutigen Schriftsteller per se als Atomisiertem und Mitglied einer „Kleinstgruppe“ mit spezifischem Besitzstand spricht.
Die anderen Beiträge kreisen um Ideologie als Talent (eine Parole aus dem heutigen Kulturbetrieb), den Einsatz von „Neuro-Marketing“ zur politischen Willensbildung, das mangelnde Zugehörigkeitsgefühl manch eines „neuen Deutschen“ zu diesem Land (am Beispiel Mesut Özil) und die seit 1945 weiterwirkende Selbstaufgabe der Deutschen. Immer setzt Kunkel bei einem „Aufreger“ an, über den er im folgenden aber argumentierend hinausgeht. So kann man immerhin mit dem Autor Klarheit über gewisse Tendenzen der Gegenwart bekommen. Auf Zuversicht liegt sein Akzent dabei nicht. Die mögen andere beitragen.
Ausgelacht werden alle – auch die Verkünder angeblich ewiger Wahrheiten
Beim Zeichner und Literaten (Heinrich Christian) Wilhelm Busch ist eine Paradoxie festzustellen: Die Sprachmacht dieses Autors haben viele durch sein berühmtestes Buch, „Max und Moritz“ kennen oder zumindest ahnen gelernt. Doch der Schriftsteller und Photograph Rolf Stolz hat vieles aus dem literarischen Werk zu präsentieren, das noch nicht zu allgemeinem Bildungsgut geworden ist, es aber sehr wohl verdienen würde. Buschs Sprache kommt alltäglich daher, steckt aber voller blitzender Pointen. Der Titel des Buches – „Die Schärfe des Lachens“ – ist wohl gewählt, denn nach der Lektüre von Buschs humoristischen Versen sieht man die Welt auch ein bisschen schärfer und klarer als zuvor.
Busch ist Realist und als solcher zur Inventur alles Vorhandenen verpflichtet. Mit ihm können auch die Leser das kritische Denken von Grund auf lernen. Buschs Worte und Reime führen zielgerade auf eine durch und durch gedankenvolle Weltsicht hin. Das gilt auch für scheinbar problematische Seiten, wenn Busch sich etwa über die Randgruppen seiner Zeit lustig macht, so auch über die sich gerade emanzipierenden Juden. Auch für sie gilt der eben zitierte Satz, auch sie verdienen – wie alle anderen – Spott, nicht Schonung. Aber Rolf Stolz kann leicht zeigen, dass der Meister auch die Christen nicht aussparte.
Mit „Schärfe“ ist aber auch die Bösartigkeit des Dichter-Zeichners gemeint, der häufig eine tiefere Gerechtigkeit innewohnt. Und dabei strahlen die entstandenen Kunstwerke dennoch vor allem eines aus: Behaglichkeit. Ihr Autor hatte eine Ahnung davon, wie er das hinbekam: „Man sieht die Sach an und schwebt derweil in behaglichem Selbstgefühl über den Leiden der Welt, ja über dem Künstler, der gar so naiv ist.“ Insofern heißt es Obacht: Ein so wort- und bildmächtiger Künstler, der so gut um seine eigene „naive“ Wirkung auf den Leser und Betrachter wusste, dürfte ein gefährlicher Künstler sein.
Die akkurate Form von Buschs Versen – „friedlich / gemütlich“, „geschieht / Profit“, „Beschluß / muß“ – dient der Schönheit und dem Sinngewinn ebenso wie der Tarnung. Kein Buch für die „Sensibelchen“ unserer Zeit, jene woken Schneeflöckchen, die so viele andere in die Cancel-Hölle ihrer Giftschränke verbannen wollen. Gegen dieses und andere Leiden unserer Zeit hat Rolf Stolz beim ehernen Realisten Wilhelm Busch viel Munition gefunden.
Thor Kunkel, Der Weg der Maschine. Annäherungen an den kybernetischen Sozialismus. 144 Seiten.
Rolf Stolz, Die Schärfe des Lachens: Wilhelm Busch. 152 Seiten
Eberhard Straub, Europa. Ein ungesicherter Begriff. 104 Seiten
Alle drei Bände sind in der Reihe EXIL im Buchhaus Loschwitz erschienen, in englischer Broschur ausgestattet und kosten jeweils 17,00 €.
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