Die Toleranz der westlichen Zivilisation ihren erklärten Feinden gegenüber ist oft nur Bequemlichkeit und pure Haltungslosigkeit. Wenn der Westen glaubt, andere Kulturen nicht kritisieren zu dürfen, kann er die eigene nicht mehr verteidigen. Den Sonntagsreden von der Wertegemeinschaft muss das Eintreten für sie von Montag bis Samstag folgen.
Warum war es nach dem Jahr 1000 so schnell vorbei mit der islamischen Blüte? Der theologische Schultyp der Madrasa breitete sich aus, ihr Lehrplan der „Wissenschaft vom Wort“ oder der „Beweisführung“ (Ilm al-kalam) dient dazu, „den Glauben vor allen wissenschaftlichen und philosophischen Übergriffen zu schützen. Damit setzte die entschlossenen Wendung nach innen ein, von der sich die arabische Welt in mehrerlei Hinsicht nie wieder erholen sollte“, lässt Kissler den Kulturhistoriker Peter Watson sagen und fügt an: „Es war eine Selbstabschottung auf Überfremdungsangst, die einer islamischen Aufklärung das Licht ausblies.“ Bekanntlich ist es seither nicht mehr angegangen.
Als weiteres Fundament der westlichen Zivilisation nennt Kissler den Schlusspunkt von Augustinus 426 mit „De civitate Dei“, indem er „das göttliche vom irdischen Reich, die Civitas Dei von der Civitas terrena schied, zog er auch eine scharfe Trennlinie zum einstigen römischen Staatskirchentum ebenso wie zur Kirche des Ostens.“ Damit war der Schritt zur wahren Trennung noch lange nicht vollzogen. Im 50-jährigen Investiturstreit zwischen Papst und Kaiser hätte es sonst eine Theokratie oder ein byzantinisches Staatskirchentum gegeben. Kissler zitiert Winkler: „Der historische Kompromiss aber … setzte die Kräfte frei, die Europa und den Westen dauerhaft prägen sollten.“ Durch die Magna Charta von 1215 setzte sich die Teilung der Gewalten fort „von fürstlicher und ständischer Gewalt, wobei die letztere in der Folgezeit von Adel, Geistlichkeit und städtischem Bürgertum ausgeübt wurde.“
Hic Rhodus, hic salta! First things first
Die großen Revolutionen von 1776 und 1789 sind der vierte Baustein „der abendländischen Zivilisation neben griechischer Polis, römischem Recht und biblischer Eschatologie“. Beschleunigt sieht Kissler die Entwicklung durch die amerikanische Eigenentwicklung. Die Virginia Declaration of Rights 1776 ist nach Winkler „die erste Menschenrechtserklärung der Geschichte“.
Kissler: „Ein knappes halbes Jahrhundert, nachdem das Morgenländische Schisma 1054 die religiöse Spaltung Europas in eine Kirche des Westens und eine des Ostens vollendet hatte, sorgten die Entdeckungen neuer innerer und äußerer Welten und sogar einer buchstäblich neuen Welt jenseits des Ozeans für den Aufbruch eines noch weitgehend mit Europa identischen Westens in eine globale Ära.“ Winkler, sagt unser Autor, greift aus diesem Anlass zur Fanfare: Nur im Westen habe sich das für jede Innovation unerlässliche „Klima des bohrenden Fragens“ entwickelt, nur im Westen wurde der Grund gelegt „für das, was wir Pluralismus und Zivilgesellschaft nennen.“
Kissler berichtet von einem virtuellen Streit zwischen Hans Magnus Enzensberger und Heinrich Aufust Winkler. Winkler glaube fest an die ungebrochene subversive Kraft der Ideen von 1776 und 1789. Ihr normativer Prozess sei nicht vollendet, solange die Menschenrechte nicht weltweit umfassend verwirklicht sind. Kissler: „Demnach ist der Westen ein universales Unterfangen. Seine Mission muss es sein, auf friedlichem Weg den Menschenrechten, die eben keine Rechte nur des westlichen Menschen sind, global Geltung zu verschaffen.“ Nicht so Enzensberger: „Der Universalismus kennt keine Differenz von Nähe und Ferne; er ist unbedingt und abstrakt … Darin zeigt sich ihr theologischer Kern, der alle Säkularisierungen überstanden hat … Da aber alle unsere Handlungsmöglichkeiten endlich sind, öffnet sich die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer weiter … dann erweist sich der Universalismus als moralische Falle.“
Kisslers Fazit liegt wie eine Grundschicht unter der darauf liegenden Konfliktschicht mit dem Islam: „Enzensbergers Aufruf, ’sich von moralischen Allmachtsphantasien zu verabschieden‘, steht quer zur Hoffnung des Westens, seine Prinzipien gerieten schlichtweg allen Menschen zum Besten. Der Westen muss, da hat Winkler Recht, von dieser Überzeugung getragen sein, sonst ist er deren Anwalt auch nicht mehr im eigenen Haus. Und diese Selbstaustreibung ist weit fortgeschritten. Der Westen exorziert gerade die westlichen Werte, er schrumpft sich selbst retour vom Prinzip zur Region.“ Wiederfinden des Westens bedeutet Eintreten für universale Menschenrechte.
Am eigenen Schopf aus der Misere ziehen
„Wie der Westen sich selbst abschafft“ handelt Kissler im Kapitel „Schere im Kopf, Messer am Hals“ ab. Daraus nur das Leitmotiv: „Generell ist erstaunlich, wie viel Toleranz die westliche Zivilisation ihren erklärten Feinden entgegenbringt – sei es in vorauseilender Selbstzensur, sei es im ostentativen Desinteresse.“ Das nächste Kapitel formuliert der Autor „Dschihad unser“, im Untertitel „Die Kirchen und andere Virtuosen der westlichen Selbstzerknirschung“. Kostprobe: „Dass Toleranz auch repressiv sein und Autorität im Gewand des Antiautoritären daherkommen kann, weiß vermutlich niemand besser als die milde Mehrheitskirche des Westens … Fast ebenso weit fortgeschritten ist die Verwechslung von Toleranz mit Standpunktlosigkeit …“.
Im vorletzten Kapitel, „Nur durch die Macht der Scharia“, heißt der Untertitel spannend: „Warum es bis heute keine islamischen Menschenrechte gibt und das Gegenteil aber auch stimmt“. Wohin das zielt, ahnen wir bei Chestertons Behauptung, der Islam verkünde die „Gleichheit der Menschen, aber es handelt sich nur um Gleichheit für das männliche Geschlecht“. Kissler meint: „Die entscheidende Frage für alle, denen an einer friedlichen Koexistenz der Religionen gelegen ist, an Frieden überhaupt, lautet: Können die Menschenechte, dieser unaufgebbare Kern des westlichen Prinzips, auch islamisch hergeleitet werden? Oder müssen Muslime auf einen Teil ihrer Tradition verzichten, um sich ganz der freiheitlichen Zivilisation des 21. Jahrhunderts anzuschließen? Die zweite Variante hat die größere Wahrscheinlichkeit für sich.“ Lesen Sie selbst, was Kissler zu dieser Annahme führt. Und lesen Sie auch, was er in seinem kurzen Schlusskapitel „Das neue Band“ zu sagen hat. So viel sei verraten: Peter Sloterdijk erhoffe sich eine „Weltkultur“, Ayaan Hirsi Ali einen Wendepunkt des Westens und sich selbst heißt Alexander Kissler hoffen.
Auf Heinrich August Winkler und seine „Geschichte des Westens“ wies Kissler weiter vorne hin und sagte, Winklers Abendland sei zuzutrauen, „dass es sich am eigenen Schopf aus der Misere zieht.“ Hoffen wir das Beste, liebe Leser.
Alexander Kissler, Keine Toleranz den Intoleranten, Warum der Westen seine Werte verteidigen muss. Gütersloher Verlagshaus 2015. 184 Seiten.
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