Die SPD versucht an diesem Wochenende auf ihrem Bundesparteitag einen Neuaufbruch. Mit Holger Fuß blicken wir auf die Anfänge des Niedergangs dieser ehemals erfolgreichen Volkspartei.
Dem Liberalismus-Verächter Lassalle stand Bebel stets kritisch gegenüber. Dessen Forderung nach einem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht für Männer beispielsweise lehnte Bebel ab. Er hielt die Arbeiter politisch noch nicht für reif genug. So war der Gothaer Vereinigungsparteitag von ADAV und SDAP zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands im Mai 1875 auch die Vermählung zweier Polaritäten, zwischen denen die Sozialdemokratie bis heute oszilliert. Der Historiker Bernd Faulenbach spricht vom »Gegensatz zwischen Utopie und konkretem Reformismus«.
Auf Seiten der Utopisten stand Lassalle, indem er gleichsam einen frühen Universalismus in die Welt setzte und den vierten Stand, also die Arbeiterklasse, als »gleichbedeutend mit dem ganzen Menschengeschlecht« deklarierte. Bebel, anfangs eher vom bürgerlichen Liberalismus geprägt, radikalisierte sich durch Lassalles Schriften zum Sozialisten, derweil er als Fabrikant expandierte und wohlhabend wurde.
Die pragmatischen Reformisten versammelten sich später mehrheitlich in der Reichstagsfraktion. Dort stimmten die Abgeordneten 1884 beispielsweise der Subventionierung der Dampferlinien nach Übersee zu. »Eine Vertretung der Arbeiterschaft kann unmöglich der Bourgeoisie Subventionen bewilligen«, wetterte Parteichef Bebel und wusste einen beträchtlichen Teil der Genossen hinter sich.
Die Kompromissbereitschaft sozialdemokratischer Parlamentarier dürfte auch eine Reaktion auf das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« gewesen sein. Das sogenannte Sozialistengesetz hatte Reichskanzler Bismarck im Reichstag 1878 durchgesetzt, es wurde bis 1890 dreimal verlängert. Während dieser zwölf Jahre, die eine Art frühkindliches Trauma für die Partei darstellen, waren die Parteiorganisation und die ihr nahestehenden Gewerkschaften verboten. Gegen viele Genossen wurden Gefängnisstrafen verhängt, mal wegen Majestätsbeleidigung, mal wegen Verstoßes gegen das Sozialistengesetz. Andere Sozialdemokraten wurden als »Personen, von denen eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu besorgen ist«, vorsorglich aus ihren Wohnorten ausgewiesen.
Der Historiker Faulenbach weist auf die »relative Schwäche der liberalen Bourgeoisie« im Kaiserreich hin. »Das Bürgertum hatte erkennbar Mühe, seine Interessen gegenüber den traditionellen Führungsschichten durchzusetzen.« Geschwächt durch die gescheiterte Revolution von 1848/49 fügten sich bürgerliche Liberale in die von dem Reichsgründer Bismarck vorgegebenen Strukturen. »Die Rolle der bürgerlichen Demokratie musste deshalb von den Sozialdemokraten ausgefüllt werden.« (…)
Über diesen Irrtum stolperten ein Jahrhundert später auch die revoltierenden Studenten um 1968, als sie schließlich zur Kenntnis nehmen mussten, dass die Werktätigen lieber Bild-Zeitung als Mao-Bibel lasen und sich lieber ein Reihenhäuschen ansparten, anstatt in schmuddeligen Wohngemeinschaften mit alternativen Lebensformen zu experimentieren.
Das andere Merkmal tragen die Reformer, die Pragmatiker. Einer wie der heute 91-jährige Klaus von Dohnanyi. Von 1981 bis 1988 war der Spross eines Widerstandskämpfers gegen die Nazis Erster Bürgermeister in Hamburg. Aus dieser Zeit ist die Anekdote überliefert, dass Dohnanyi am Fenster seines Rathausbüros die Baukräne am Himmel abzählte, um sich einen Eindruck von der wirtschaftlichen Lage der Hansestadt zu verschaffen. Heute grämt sich der Silberkopf ob des Absturzes seiner sozialdemokratischen Partei. Wiewohl: »Das ist kein Absturz«, sagte er in der ZDF-Talkshow »Markus Lanz«. »Das ist ein langsamer Weg gewesen über viele Jahre. Ich glaube, er hängt damit zusammen, dass die Partei sich noch immer nicht damit abgefunden hat, dass es zu dem System, in dem wir in Freiheit leben, keine wirkliche Alternative gibt. Da gibt es ja Leute, die meinen, sie müssten Kapitalismuskritik üben oder sowas.«
Für Dohnanyi ist das ein Anachronismus. »Die SPD hat sehr grundsätzliche Probleme«, erläuterte er in einem FAZ-Interview. »Sie hatte ihre Geburtsstunde in einer Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts, in der sie dafür kämpfte, die Interessen der unteren Schichten, der kleinen Leute, zu verteidigen. Sie glaubt, das noch heute vordringlich tun zu müssen, obwohl wir längst in einer anderen Zeit leben. Heute geht es in erster Linie um wettbewerbsfähige Arbeitsplätze!« Die Partei habe sich an die heutige Zeit anzupassen, sie »muss sich weiter häuten«. Und sich von der Sorge verabschieden, sie würde dabei etwas von ihrem Kern verlieren: »Sie hat zu Beginn für die Chancen und Rechte von Menschen gekämpft, die als kleine Arbeiter und Angestellte von vielen Unternehmern ausgebeutet wurden. Heute sind nicht mehr die ›bösen‹ Unternehmer schuld daran, es sind die Kostenunterschiede zwischen uns und den aufsteigenden Ländern sowie die Tatsache, dass viele Menschen weniger Chancen und Entfaltungsmöglichkeiten als andere haben.«
Ein Reformer wie Dohnanyi ist gleichsam ein Sozialdemokrat ohne Misere. Leute wie er nehmen das Gegebene hin, Utopien sind ihnen fremd. Dass eine solche Haltung der Linkspartei Zulauf beschert, stört Dohnanyi nicht: »Zehn Prozent, die glauben, man könne noch in den alten Denkmustern verharren, wird es immer geben.« Neues Denken ist für die Pragmatiker in der Partei vor allem ökonomisches Denken, für sie gilt als progressiv, was wirtschaftlichem Fortschritt und Wachstum dient. Die gesellschaftlich Progressiven in der SPD sind alte linke Schule, überkommen und nicht mehrheitsfähig.
Die Pragmatiker machen sich keine Illusionen darüber, dass die Mehrzahl der Wähler im Lande nach den Interessen ihres Portemonnaies wählen, weil sie zumeist damit beschäftigt sind, über die Runden zu kommen oder über anstehende Anschaffungen nachzudenken. Nach Weltverbesserung, internationaler Solidarität oder gar nach gesellschaftlichen Umstürzen steht selbst unter SPD-Anhängern den wenigsten der Sinn. Utopische Visionen, die Vorstellungen einer gerechteren Welt sind auch in dieser Wählerklientel den Sonntagen vorbehalten, nicht den Werktagen, den privaten Besinnlichkeiten, nicht den öffentlichen Angelegenheiten des Problemeabarbeitens.
Aus diesem Grund ist die SPD für den Pragmatiker Dohnanyi »eine schwierige Partei. Einfach aus dem Grund, weil es immer noch einflussreiche Leute gibt, denen Hoffnung wichtiger ist als Wirklichkeit. Das ist aber auf Dauer keine Basis für gute Politik. Der linke Flügel der SPD hat wegen der Agenda 2010 Gerhard Schröder gestürzt. Wäre das nicht geschehen, wäre Angela Merkel heute wohl nicht Kanzlerin. Solange aber die SPD nicht durchgängig erkennt, dass es ohne Schröders Reformen nicht geht, hat sie ihr grundsätzliches Problem nicht behoben. Die Sozialdemokraten müssen anerkennen, dass die globalisierte Welt eine Welt der Wirtschaft und der Unternehmer ist.«
Leicht gekürzter Auszug aus:
Holger Fuß, Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt. Über das Ende einer Volkspartei. FBV, 256 Seiten, 22,99 €
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Brüder zur Sonne – Schwestern zum Mond.
Wollte der nicht Abtreibung bis zum. 9.Monat oder bin ich falsch unterrichtet?
Kühnerts „Socken – Gag“ auf dem Parteitag zeigte:
Rote Socken stinken innen gewaltig!
Der erfolglose Langzeitstudent wollte wohl was anderes ausdrücken, aber nicht alles gelingt so einfach.
„…eine politische Haltung, die die entschiedene Verteidigung von Rechtsstaat und Demokratie mit dem ausgeprägten Sinn für die Benachteiligten und Schwachen verbindet«
Den „Altparteien“ wird diese Haltung im Folgenden zugeschrieben und auch ausdrücklich den LINKEN.
Die Partei, die derzeit am heftigsten um den Erhalt des Rechtstaates und für die Benachteiligten und Schwachen kämpft, bleibt unerwähnt.
Dass die Sozialdemokratie Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden sei, halte ich für eine selbstgefällige Legende postmoderner Linker. Es gibt immer noch genug leistungs- und bildungsaffine Minderprivilegierte, dem Versprechen auf Chancengleichheit gegenüber aufgeschlossen. Der soziale Aufstieg sollte dann aber nicht durch eine Steuer- und Abgabenlast von über 60% für Durchschnittsverdiener bestraft werden.
Sogar ein Ferdinand Lasalle steht heute einer AfD näher als den linksgrün dominierten Kartellparteien: „Was der Sozialismus will, ist nicht, Eigentum aufheben, sondern im Gegenteile individuelles Eigentum, auf die Arbeit gegründetes Eigentum erst einführen.“
Sehr gute Analyse, nur trifft dies mehr oder weniger auch die anderen „sozialdemokratisierten“ Parteien. Die Herausforderungen unserer Zeit sind keine mehr, für die traditionell „sozialdemokratische“ Parteien Lösungen anbieten. Eine kluge Partei könnte sich zwar theoretisch refomieren, auf neue Herausforderungen mit neuen Konzepten reagieren, aber die Tradition ist zu stark und die Masse eben nicht klug.Unser politisches System inklusive Parteien befindet sich in Auflösung. Das wird ungemütlich, aber ist, historisch gesehen, Normalität. Im übrigen Blair und Schröder sind nur an die Macht gekommen, weil sie sich von der traditionellen Sozialdemokratie verabschiedet haben. Sie sind mit ihrem Versuch, die Sozialdemokratie zu reformieren,… Mehr
Die SPD steht nur noch für Weltrettung. Meine Interessen als Arbeitnehmer mit 2 Kindern in der Familie ertreten die nicht mehr. Die plündern das Land nur aus. Menschen die anderer Meinung sind werden diffamiert, als Nazis bezeichnet. Was für ein Abstieg einer Partei die nur noch Kampf gegen Rechts, Klimahysterie und mieses Personal hervorbringt.
Sehr richtig.
Die SPD hätte sich niemals auf eine GroKo einlassen dürfen. Das war der Anfang vom Ende, pervertiert bis zur sozialistischen Überreaktion. Anstatt als starke Oppositionspartei der Regierungspartei Feuer unterm Hintern machen zu können und das eigene Profil zu schärfen (ohne gleich in sozialistische Alpträume zu verfallen), hat man sich prostituiert für ein paar Silberlinge. Das U-Boot der DDR hat dann alles dankbar aufgegriffen und verwendet, bis von der SPD nur noch hilflose Dummheit übrig blieb. Sogar die SED profitiert davon. Die neuen SPD-Vorsitzenden machen da keine Ausnahme. Selbst der Kampfbegriff „raus aus der GroKo“ war eine Lüge, wie jeder jetzt… Mehr
Was das größte Problem angeht, gebe ich Ihnen vollkommen recht. Aber bis auf die AfD wird die linksgrüne Antifa von allen Regierungenparteien hofiert. Es gibt kaum Widerspruch – im Gegenteil, und dass bereitet mir genauso große Sorgen. Gäbe es noch eine starke CDU und starke SPD, hätten sich diese Klima-Sekten niemals so ausbreiten können, wie sie es nun tun, denn um Regieren zu können, benötigen sie nun immer die entscheidenen Prozentpunkte der Grünen. Und die beeinflussen nicht nur EU und Bundespolitik, sie diktieren sie schon. Für mich hat also der Niedergang der beiden deutschen Altparteien durch deren übermäßige Schlechtarbeit direkt… Mehr
“ Möchten “ tun sie schon, aber “ wollen “ tun sie nicht. Die Sozialdemokratie hat schon seit ca. 1965/70 versagt für die Themen Wohnen, Gesundheit und Altersversorgung zu langfristigen Weichenstellungen zu finden.
Das Elend der SPd ist ihre Politik. Immer mehr Menschen erkennen, dass die „sozialen Wohlatent“ der SPD von den Begünstigten teuer erkauft werden müssen. Die Liste der sozialen Grausamkeiten dieser Partei ist lang, sehr lang. Erst die Altersarmut schaffen , dann die Grundrente für alle, auch die Millionärsgattin, als soziale Wohltat verkaufen wollen. Es sind nicht mehr so viele Leute , die der SPD noch auf den Leim gehen. „Franz Müntefering, der damals als Bundesminister für Arbeit und Soziales die stufenweise Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre in der ersten Großen Koalition unter Angela Merkel durchsetzte. Der Sozialdemokrat musste dem… Mehr