Heilige sind in der Mehrheit keine moralinsauren Anstandsapostel oder verklemmte Gouvernanten, sondern »Brennende«: Verrückte, Erleuchtete, Ergriffene, Rebellen gegen Konformismus, Herdentrieb und Heuchelei. Zum Beispiel die Tagesheilige Santa Lucia – die am 13. Dezember besonders in Skandinavien mit traditionellen Bräuchen gefeiert wird.
Die Verehrung der Heiligen gehörte einst für katholische und orthodoxe Christen zu den bestimmenden Elementen des Volksglaubens. Um die Jahrhundertwende 1900 gab es in Deutschland an die 1200 Wallfahrtsorte, heute sind einige wenige, meist Marienstätten, übriggeblieben.
Heiligenverehrung war jahrhundertelang die Grundlage für eine Fülle gemeinschaftsstiftender Rituale: Heiligenfeste gewährten arbeitsfreie Feiertage, heilige Stätten waren das Ziel wallfahrender Volksmassen, Regionen gewannen in einem vielfältigen Brauchtum ihren Zusammenhalt.
Die frommen Legenden lieferten einen ganzen Kosmos an belehrenden und unterhaltenden Erzählstoff, an Geschichten, Sagen und Anekdoten. Die bildende Kunst versorgte die Phantasie mit Gemälden und Statuen, Altarplastik und Totenschreinen; die Musik lieferte Messen und Lieder; der Devotionalienhandel und das Geschäft mit den Hinterlassenschaften der Heiligen, den Reliquien, wurde zeitweise zu einem der mächtigsten Wirtschaftszweige.
Frühe religiöse Entwicklungsstufen überlebten in der Heiligenverehrung, etwa Magie und Totenkult im Reliquienwesen, Totemismus in den Standes-, Berufs- und Namenspatronaten, das Tabu in den Asyl- und Friedensgeboten heiliger Stätten. Die Verehrung der Heiligen verbindet die christliche Volksfrömmigkeit mit der Volksfrömmigkeit der anderen großen Weltreligionen.
Das chassidische Judentum kennt unzählige Wunderrabbis. Im Islam werden nicht nur vom niederen Volk Derwische und andere Persönlichkeiten verehrt, denen Fähigkeiten wie die willentliche Versetzung an andere weit entfernte Orte, die Herrschaft über Geister und Tiere, die Erweckung von Toten zugeschrieben werden. In Pakistan und Indien kommen zu den großen Sufifesten Hunderttausende Pilger – inzwischen oft unter Inkaufnahme von Terroranschlägen islamistischer Fanatiker. Bekannt ist die enge Verbindung des Sufismus mit Musik, ekstatischen Tänzen und einer berauschenden Festkultur, die näher kennenzulernen heute über das Internet und Portale wie YouTube allen Neugierigen jederzeit offensteht.
Die Sehnsucht nach dem Beistand überirdischer Mächte sucht sich in der globalisierten, vernetzten Gesellschaft andere Quellen, etwa in der esoterischen Subkultur, der ihr verwandten Fantasy-Literatur, bei neuheidnischen Naturkulten, bei Geistheilern, Astrologen oder Okkultisten der unterschiedlichsten Disziplinen.
Die theologische Literatur hat diesen Trend – ebenso wie die dem Zeitgeist huldigende Klerikerelite – unfreiwillig verstärkt. Auf fast allen religiösen Diskursfeldern sind die Entmythologisierer in der Offensive. Der Tradition wurden die vertrauten Glaubensinhalte, die Märchen und legendenhaften Elemente, die alten Riten und Bräuche ausgetrieben. Im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 – 1965) verstärkte sich diese Tendenz. Mit Kalenderreformen zugunsten eines einheitlichen Todestagsprinzips (womit andere Festtage der Heiligen unter den Tisch fielen) und der Streichung historisch ungesicherter Heiliger zerrüttete man das klassische System.
Zudem verleitete der – soziologisch erklärbare – Siegeszug der Mittelstandsgesittung auch in den bäuerlichen und Arbeiter-Milieus die volksnahe Seelsorge und ihre Textlieferanten zur Tilgung des Anstößigen, Sonderbaren, Skandalösen in der Heiligenliteratur. Das phantastische Material an Obsessionen, paranormalen Geisteszuständen, Mirakeln und befremdlichen Biographien wurde so lange gesiebt und verdünnt, bis nur noch der Gesinnungsappell zur dringenden Weltverbesserung übrig blieb. Aus Erzählungen vom Einbruch des ganz Anderen in die Wirklichkeit wurde in der konfessionellen Pädagogik die Propagierung eines bürgerlichen Wohlanständigkeitsideals.
Es mag ein befremdliches Vergnügen sein, die seltsamen, grobgeschnitzten Geschichten zu lesen, in denen die alten Legenden und Kalendersammlungen schwelgen. Sie malen in bunten Farben und drastischen Ausschmückungen die sonderbarsten Lebensläufe. Begebenheiten, über die in der heutigen christlichen Alltagsunterweisung der Mantel des Schweigens gebreitet wird, die aber den Fächer des Menschlichen viel weiter aufspannen, als dem kirchenkonformen Verstand oder „gesunder“ bürgerlicher Anständigkeit fassbar ist.
All diese Geschichten sind nicht zu verwechseln mit Historie. Sie folgten oft vorgegebenen Mustern und Konventionen. Es ging ihnen selten um historische Faktizität, sondern um packende Erzählung. Sie enthielten, ob real, ob erfunden, jedenfalls von den Autoren und ihren Lesern geglaubt, jenes „Numinose“, das bekanntlich sowohl das „mysterium fascinans“ (Anziehung) wie das „mysterium tremendum“ (Schauder) in sich vereinigt.
13. DEZEMBER
Hl. Lucia
Jungfrau und Märtyrerin
† um 303
Die schöne Jungfrau Lucia war bei den Jünglingen von Syrakus begehrt wie keine andere. Sie aber wies alle ab. Einer jedoch tat sich besonders hervor. Er machte ihr ihre schönen Augen zum Vorwurf, denn er habe sich auf den Tod in sie verliebt. Da riss sich Lucia die Augen aus und sandte sie ihm auf einem Teller. Bestürzt ließ er von seiner Werbung ab; Lucia aber erhielt von der Muttergottes ein noch viel schöneres Augenpaar.
Als ihre Eltern sie schließlich doch verlobten, verschenkte sie ihr Gut unter die Armen und verminderte dadurch ihre Mitgift. Sie gründete eine Armen- und Krankenstation, auch die todkranke, aber wundersam geheilte Mutter unterstützte nun ihre Tochter. Berichtet wird auch, dass Lucia ihren Glaubensgenossen Lebensmittel in die Verstecke brachte. Damit sie beide Hände frei hatte zum Tragen der Speisen, setzte sie sich einen Lichterkranz aufs Haupt, um in der Dunkelheit den Weg zu finden.
Der Bräutigam erzürnte darüber und verklagte sie bei einem Richter. Dieser lud sie vor und forderte sie als Erstes auf, den Göttern zu opfern. Da sie sich weigerte, verurteilte er sie zur öffentlichen Schändung in einem Freudenhaus. Die Kraft des Heiligen Geistes machte Lucia aber mit einem Mal so schwer, dass weder die vereinten Kräfte von tausend Männern noch ein Ochsengespann sie vom Fleck bewegen konnten. Da der Richter Zauberei vermutete, ließ er sie mit Urin begießen, denn man glaubte, dadurch den Bann lösen zu können. Aber es half nichts. Lucia blieb wie angewurzelt. Nun versuchte man sie mit Pech und Schwefel anzuzünden, aber das Feuer fügte ihr nicht den geringsten Schaden zu. Da stießen sie ihr endlich ein Schwert in die Kehle.
Vor der gregorianischen Kalenderreform war der 13. Dezember der kürzeste Tag mit der längsten Nacht. Im germanischen Kulturkreis begann damit das Neue Jahr, das mit Völlerei und reichlichem Biergelagen gefeiert wurde. In Norwegen waren die langen Luciennächte gefürchtet, weil an ihnen die wilde Jagd der Toten durch die Wälder brauste und Menschen mitnahm. Als Schutzmittel wurde Bier über die Bäume geschüttet, nach dem die Gespenster dürsteten. Ähnliche Vorstellungen gab es in Bayern, Böhmen, Kroatien und Ungarn.
Im Mittelalter wurden am Luciatag die Kinder beschert, der 24. Dezember wurde erst ab dem 16. Jahrhundert als Gabentag gefeiert. Bei Dante im „Inferno“ ist Lucia Trägerin des himmlischen Lichtes. Lucienbräuche finden sich auch in Süddeutschland: am Luciatag werden Kirschzweige abgeschnitten und in eine Vase gestellt; blühen sie nach vier Wochen auf, soll einem das Glück im kommenden Jahr hold sein.
Attribute: Sie wird abgebildet mit vier Ochsen; mit Halswunde und Schwert; mit Buch; mit Augen auf einem Teller; in Kessel über Feuer; mit Lampe; mit Palme und Schwert; mit Doppelkreuz.
Patronin: von Mantua, Syrakus, Toledo, Venedig; der Bauern, der reuigen Dirnen, Glaser, Kutscher, Messerschmiede, Notare, Pedelle, Sattler, Schiffer und Seefahrer, Schneider, Schreiber, Türhüter, Weber; des Augenlichts; gegen Blindheit (auch im geistigen Sinn) und Augenkrankheiten; gegen weibliche Blutflüsse; gegen Armut.
Vom Autor bearbeiteter und gekürzter Auszug aus:
Albert Christian Sellner, Immerwährender Heiligenkalender. Die erstaunlichen Geschichten der Rebellen Gottes. Conte Verlag, Neuausgabe Dezember 2022, Paperback, 636 Seiten, 22,00 €.
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Dakor, aber das alles ändert ja nichts am Mysterium des Todes, der uns dann aller Sorgen entledigt, auf Nimmerwiedersehen und der Einzelne darin entschwindet, so wie er gekommen ist und die kurze Zeit dazwischen wird eben von solchen Ereignissen geprägt, als Ausdruck tiefster Unsicherheit, weil wir wissen, daß wir nichts wissen und das macht dem Lebenden Angst und nur durch einen Gottesglauben auszuhalten ist, denn die Wissenschaft menschelt ja auch und darauf kann man sich nicht verlassen, also bleibt nur noch die genannte Möglichkeit übrig.
Ich habe doch tatsächlich antiquarisch noch die Orginal Erstausgabe von 1993 eschienen im Eichborn Verlag zu einem sehr anständigen Preis erstehen können. Mein Lieblingsheiliger ganz ohne Zweifel Antonius von Padua, unter anderem für das Auffinden verlorener Sachen zuständig, deshalb in Bayern auch der „Schlampertoni“ genannt, Seite 204 folgende. Toni hilft (wenn er will), mal einfach ausprobieren. lol
Die Rebellen Gottes, das gefällt mir gut. Ich habe gerade Stollen verschenkt, ich nenne sie Fastenbrot, sie sind ohne chi chi und etwas trocken. Ich gebe dazu eine Erklärung, da die meisten Leute von der Fastentradition in der Adventszeit gar nichst wissen. Der Artikel ist wunderbar geschrieben. Mir fiel dazu meine erste Reise nach Portugal ein. Es war glaube ich 1979 und natürlich Sommer. Soviele kirchliche Feste im Sommer wie dort, kannte ich nicht. Und sie waren nicht immer hübsch und adrett, eher wild, unmöglich und befremdlich und manchmal auch stinkend. Das viele Pulver was dort in jedem Ort verschossen… Mehr