Aus der »sortenreinen« Existenz ihres Berliner Lebens flieht eine Werbetexterin aufs Brandenburger Land. Was sie dort erlebt, ist nicht immer begeisternd, aber am Ende echter und intensiver als alles andere. Ein Roman über Menschen in Blasen und deren vielleicht mögliche Überwindung.
Die äußere Handlung von »Über Menschen« ist schnell erzählt: Die Werbefachfrau Dora bekommt in der Hochphase der Pandemiepolitik genug von ihrem Berliner Großstadtleben und ihrem grün-neurotischen Freund Robert. Kurzentschlossen kauft sie ein altes Gutsverwalterhaus im brandenburgischen Bracken, das freilich genauso wenig existiert wie vermutlich alle anderen Orte in der Umgebung. In der von ihr gesuchten brandenburgischen Einöde erlebt sie nach den erwartbaren Anlaufschwierigkeiten einige Dinge, die sie das Leben mit anderen Augen ansehen lassen.
Der Roman erzählt eine von jenen Berlin-Brandenburger Aufs-Land-zieh-Geschichten, die inzwischen vermutlich Legion sind. Aus den selbstbezogen über dem Land schwebenden Innenstadtbezirken geht es direkt nach jenseits des Speckgürtels. Dort findet die Protagonistin zunächst ein amorphes Leben, das schrittweise immer wahrer zu werden scheint. Viel wahrer und echter, als das Großstadtleben je sein konnte.
Ist das schon wieder der typische Eskapismus der neueren deutschen Literatur und des dazugehörigen Kinos, wo es immer um ein Entkommen aus dem Alltag zu gehen scheint, ohne dass Spuren von ihm bleiben dürften, aber auch ohne dass die Alltagsmentalität wirklich überwunden würde? Es mag die nächstverwandte Idee sein, aber nicht dieselbe.
Zeit der Gleichzeitigkeiten
Was an Über Menschen auffällt, ist eine gewisse Gleichzeitigkeit der Gefühle. Das bezieht sich manchmal auf ganz Konkretes, Zufälliges, das der Protagonistin eben, zum gleichen Zeitpunkt passiert: Sorge und Vergnügen zum Beispiel. Aber es bezeichnet auch eine grundlegendere Ebene der Erzählung: Dora hat nämlich auch zu dem festen Inventar ihres Lebens – in Berlin ebenso wie anfangs in Bracken – häufig zwei Gefühle im Angebot, wobei sie es mit der Zeit vermeidet, die Entscheidung zwischen den beiden zu wichtig zu nehmen.
Über Menschen – der Titel ist eigentlich etwas oberflächlich, zumindest die Nietzsche-Anspielung hat kaum etwas mit dem Inhalt zu tun – ist insofern ein Roman für die Überwindung der Klischees, der Vorurteile, die in Deutschland – wie in vielen anderen Gesellschaften – zwischen den Angehörigen verschiedener Gruppen und Milieus bestehen.
Vor allem die »Kaste« der Herrschenden, Bestimmenden, Tonangebenden ist immer in Gefahr, diesen Kontakt zu den weniger zentralen Akteuren zu verlieren, eben weil sie sich selbst für so wichtig, ihre Weltsicht für gewissermaßen überlegen hält gegenüber den provinziellen Sichtbeschränkungen des »Volks«. Doch nur eines gerät dabei ganz aus dem Blick: die Sichtbeschränkungen der Tonangebenden in Bezug auf sich selbst und auf die Relevanz ihrer Perspektive für den Gesamtplaneten. Vielleicht sind ja auch diese existenzfernen Städter die »Über-Menschen«, auf die Juli Zeh insofern ironisch Bezug nimmt, zum Beispiel Doras perfektionistischer Vater. Durchaus möglich in einem so beziehungsreich komponierten Roman wie dem ihren. Der Titel spielt daneben auch auf den Vorgängerroman Unterleuten an, in dem Juli Zeh schon einmal eine Handvoll Brandenburger Originale dem philosophischen Erkenntnisgewinn zuführte.
Von der Blasenexistenz zur vollen Gegenwärtigkeit?
Insofern hat man auch als Leser einiges durchzustehen. Denn dieses Single- und Pärchen-Berlin, das da beschrieben wird, ist zum Teil ziemlich langweilig und nervtötend. Eine Art Rollenprosa aus der linken Wohlstands- und Neurosenglocke. Das bessert sich im Verlauf des Romans. Zwar bewahrt sich auch Dora bis zuletzt einen Teil ihrer politischen Hygienevorstellungen, aber es gibt doch eine Entwicklung hin zu einem anderen Lebensmodell und vor allem gelungene Momente, in denen die Figuren seiner Verwirklichung zustreben.
Ob diese Verwirklichung im Roman erreicht wird, kann dabei offen bleiben, ist vielleicht gar nicht so wichtig. Denn zuletzt soll es ja nicht mehr um die Blasen gehen, sondern um die Präsenz zwischen und abseits von ihnen. Von diesem geradezu theologischen Gedanken weiß man anfangs nichts oder wenig, bis er schließlich relativ unerwartet die Zügel übernimmt.
Irgendjemand hat einmal sinngemäß gesagt, dass das Sakrale in Berlin aus dem Chaos entsteht. Nicht viel anders scheint es in der Mark Brandenburg zu sein, wie man nun auch aus Juli Zehs Über Menschen wissen kann. Die Sprache bleibt dabei immer klar und geerdet, ist manchmal geradezu detailversessen, so dass man nicht in die Gefahr gerät, sich in Metaphysischem zu verlieren. Dennoch sind es die Punkte der Überschreitung der menschlichen Beschränktheiten, die den Roman interessant machen und ihm seine Bedeutung geben.
Juli Zeh, Über Menschen. Roman. btb, Klappenbroschur, 416 Seiten, 12,00 €.
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Ist gerade meine Lektüre und bin noch am Anfang, erstes Drittel. Was mich am meisten amüsiert ist die Trivialität der Figuren. Klischeehaft wird das wohlbekannte Stadtleben beschrieben und die Konsequenzen daraus, von der Hauptfigur gezogen. Der Weggang in die Provinz ist die anfängliche Ultima Ratio, die sich beim weitergehenden Beschnuppern der Tatsächlichkeiten in dem fiktiven Dorf Bracken nicht als Fehler aus diesem recht harten Bruch mit der Stadt herausstellen. Stop, weiter bin ich noch nicht. Allerdings muss ich hier und da doch leise in mich Hineinlächeln ob des unterschwellig erkennbaren Erkenntniszuwachses in Sachen Landleben und der Akteure durch die Erzählende.… Mehr