»Wenn alle Menschen außer einem derselben Meinung wären und nur dieser einzige eine entgegengesetzte hätte, dann wäre die ganze Menschheit nicht mehr berechtigt, diesen einen mundtot zu machen, als er, die Menschheit zum Schweigen zu bringen, wenn er die Macht hätte.« John Stuart Mill
Demokratie und Populismus. Zwei Seiten derselben Medaille. Demokratie ist gut, Populismus verächtlich. So bei uns die allgemeine Wahrnehmung und Darstellung. Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt ist jeweils das Volk, »demos« auf Griechisch, »populus« auf Lateinisch. So gesehen bestimmt das Volk den jeweiligen Inhalt, sowohl in der Demokratie als auch im Populismus. Bezogen auf die Demokratie gilt bei uns allgemein und ohne religiöse Schwingungen: »Die Stimme des Volkes gleicht Gottes Stimme.« Die Römer sagten »vox populi, vox dei.« Das Römer-Wort »populus« für »Volk« ist bei uns negativ belegt und »Volkes Stimme« im »Populismus« – unausgesprochen – so dargestelllt: »vox populi, vox Rindvieh.« Man muss sich entscheiden: Gilt Volkes Stimme? Ist in der »Volksherrschaft«, ist in der Demokratie, das Volk der kluge Souverän oder der Idiot vom Dienst? Je nach Windrichtung und -stärke, wie es gerade passt, mal ja, mal nein, das kann nicht sein. Das ist logisch Unsinn, moralisch verwerflich und führt ins politische Chaos.
War 1933 die Machtübergabe an Hitler »populistisch« oder »demokratisch«? Seine Verbrecherpartei war seit 1930 die stärkste in Deutschland und bei den letzten halbfreien Wahlen vom 5. März 1933 stimmten knapp 44 Prozent für die NSDAP. Weitere acht Prozent der Deutschnationalen sicherten der NSDAP-DNVP-Koalition 52 Prozent der Wähler. Eines der damaligen Argumente zu Hitlers Gunsten lautete: Man könne eine, die stärkste, demokratisch gewählte Partei nicht dauerhaft isolieren. Die Folgen sind bekannt. Volkes Rolle wird teilweise schizophren konzipiert: Einerseits werden Plebiszite, Volksbefragungen, sogar bei Konservativen, immer beliebter. Andererseits warnen (die zum Teil selben) Befürworter von Volksbefragungen vor »Populismus«. Je nach Erfolgsaussichten oder Ergebnissen Jubel oder Katzenjammer. Ein ehemaliger SPD-Bundesminister belehrte mich: »Na wissen Sie, wenn Sie das Volk dazu fragen, dann …« Dann, meinte er, geschähe der größte Unsinn. In dieser brutalen, volksverachtenden Offenheit habe ich das weder vorher noch nachher gehört.
Daraus folgt: Freiheit ist mehr als Herrschaft der Mehrheit, denn nur als Herrschaft der Mehrheit kann Freiheit zur Tyrannei der Mehrheit umschlagen. Diesen Gedanken hat vor allem Alexis de Tocqueville Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem Klassiker »Über die Demokratie in Amerika« beschrieben. Man lese vor allem Kapitel 9 über die »Allmacht der Mehrheit und ihre Wirkungen«, wo er auch die »Tyrannei der Mehrheit« beschreibt. Diesem Problem widmete sich der Brite John Stuart Mill 1859 in seinem zeitlos gültigen, immer noch utopischen Essay »Über die Freiheit«. Beim Wiederlesen dieses Textes hatte ich das Gefühl, John Stuart Mill beschriebe Deutschland heute. Einige Kerngedanken und -sätze seien vorgestellt.
»Überdies bedeutet der Wille des Volkes praktisch den Willen des zahlreichsten oder des aktivsten seiner Teile, nämlich der Mehrheit oder derjenigen, denen es gelingt, sich als die Mehrheit anerkennen zu lassen. Das Volk kann infolgedessen beabsichtigen, einen Teil der Gesamtheit zu bedrücken, und Vorsichtsmaßnahmen dagegen sind ebenso geboten wie gegen jeden anderen Missbrauch der Gewalt.« »Nur insoweit sein Verhalten andere in Mitleidenschaft zieht, ist jemand der Gesellschaft verantwortlich.« Und weiter: »Dies also ist das eigentliche Gebiet der menschlichen Freiheit. Es umfasst als erstes das innere Feld des Bewusstseins und fordert hier Gewissensfreiheit im weitesten Sinne, ferner Freiheit des Denkens und Fühlens, unbedingte Unabhängigkeit der Meinung und der Gesinnung bei allen Fragen, seien sie praktischer oder philosophischer, wissenschaftlicher, moralischer oder theologischer Natur.« Mill nennt noch die Freiheit in Wort und Schrift sowie die Gedankenfreiheit. Nur wenn jemand die Gesellschaft unmittelbar bedrohe, so Mill, haben Staat und Gesellschaft das Recht, einzugreifen. Ansonsten gelte die unbedingte Freiheit des Individuums vor und von Staat und Gesellschaft.
Atemberaubend ist das Kapitel »Über die Freiheit des Gedankens und der Diskussion«. Ich zitiere: »Wenn alle Menschen außer einem derselben Meinung wären und nur dieser einzige eine entgegengesetzte hätte, dann wäre die ganze Menschheit nicht mehr berechtigt, diesen einen mundtot zu machen, als er, die Menschheit zum Schweigen zu bringen, wenn er die Macht hätte.« »Denn wenn die Meinung richtig ist, so beraubt man sie der Gelegenheit, Irrtum und Wahrheit auszutauschen; ist sie dagegen falsch, dann verlieren sie eine fast ebenso große Wohltat: nämlich die deutlichere Wahrnehmung und den lebhafteren Eindruck des Richtigen, der durch den Widerstreit mit dem Irrtum entsteht.«
John Stuart Mill geht hier erheblich weiter als die gern zitierte Rosa Luxemburg. Diese hatte Lenin 1918 (zu Recht) belehrt: »Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenken, sich zu äußern.« Ihre rechtsterroristischen Mörder gewährten ihr nicht einmal das. Für »Rosa« war Freiheit Umgangsform der Diskussion, für John Stuart Mill (und ich hoffe für uns alle) ist Freiheit Lebensform und Lebensinhalt. »Bis in den Tod« wollte sich der 1788 gestorbene französische Aufklärer Voltaire für die Meinungsfreiheit einsetzen: »Du bist anderer Meinung als ich, und ich werde dein Recht dazu bis in den Tod verteidigen.«
So viel, in gebotener Kürze, zur Freiheit des Einen gegenüber Gesellschaft(smehrheit) und Staat. Was aber, wenn der Eine mit der Gesellschaftsmehrheit anders denkt, fühlt und Anderes will als »der« Staat, »die« Politik« und »die« medialen Multiplikatoren? Was, wenn eine dicke Mauer zwischen dem Einen mit dem Volk und der Minderheit aus Politik und Medien steht? Müssen dann der Eine plus Volk gegen diese Mauer rennen?
Für jenen Einen wird, egal ob alle oder nur Teile von Politik und Medien sich auf ihn stürzen, das Leben mordsgefährlich. Subjektiv wollen Politik und Medien diese Gefahr natürlich nicht verursachen, doch objektiv sind sie Auslöser dieser tödlichen Gefahr. »Es war einmal« im September 2010. Einen, Thilo Sarrazin, hatte die Einheitsfront von Staat und Medien an den Pranger gestellt. Dem Einen stimmte weit mehr als das halbe Volk zu. Galt vox populi als vox Rindvieh? Unabhängig davon, wie man sich positioniert, pro oder contra, in der Causa Hans-Georg Maaßen wirkte im Jahre 2018 ein ähnlicher politischer Mechanismus.
Zurück zum Problem Politik plus Medien gegen den Einen plus Volk: Verbarrikadieren sich jene hinter einer »Mauer« und bewerfen scheinbar nur den Einen, tatsächlich aber das Volk mit Parolen und Pädagogik? So schaffen sie Duckmäusertum. Oder wollen sie sich ein neues, ihnen genehmes Volk, formen? Ihre Mauer wird dauerhaft so wenig halten wie die Chinesische und Berliner Mauer. Sie wird auch deshalb Risse bekommen, weil (wann?) einige (wer und wie viele?) der sich hinter der Mauer Verbarrikadierenden zum Volk überlaufen, um eine neue Partei (gar »Volkspartei«?) zu gründen.
Kommunismus: von Anfang bis Ende Unfreiheit; unterschiedlich intensiv oder mörderisch. Kommunismus in Freiheit gab es nur in den Kibbutzim Israels, und die haben, weil frei, den Kommunismus längst abgeschafft.
Nationalsozialismus: vor ihm die Freiheit. Der Freiheit seine Macht verdankend, schaffte der unverzüglich einsetzende NS-Terror eben diese Freiheit ab. Folgte das Volk den Freiheitsräubern?
Eine Mehrheit von etwas mehr als 50 Prozent, ja, bis zum Wendepunkt Stalingrad. Über Unfreiheit und Verbrechen von Kommunismus und Nationalsozialismus ist eigentlich längst alles gesagt; auch über die nicht nur theoretisch mögliche »Tyrannei der Mehrheit« in Freiheit. Der auch mich erschreckende, niederschmetternde Befund lautet: Die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit der Mehrheit sind auch und sogar unter den Rahmenbedingungen der Freiheit unseres Grundgesetzes gefährdet. »Du bist die Aufgabe, kein Schüler weit und breit.« So Franz Kafka. Ich frage bang: Welcher Schüler löst die Daueraufgabe unserer bundesdeutschen Freiheit?
Diesen Beitrag von Prof. Dr. Michael Wolffsohn haben wir seinem jüngsten Werk entnommen. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.
Michael Wolffsohn, Tacheles. Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik. Herder, 320 Seiten, 26,- €
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Wann wählen Menschen die „etablierte Staatsmacht“ ab? (wie es dann so plakativ heißt, der Verlust der Volksparteien) Wenn eine gewisse Gruppe einer Gesellschaft sich von der Mitwirkung am gesellschaftlichen Zeitgeschehen durch die „etablierte Staatsmacht“ ausgeschlossen fühlt. Sie fühlen sich so ihrer Identität der gesellschaftlichen Zugehörigkeit beraubt und suchen sich eine neue Identität als „Außenseiter“. Es braucht dann nur noch einen geschickten Demagogen, um die „Ausgestoßenen“ in einer „neuen Identität“ aufzufangen, indem er ihnen eine „neue Identität“ anbietet, welche dann auch mit Dankbarkeit angenommen wird um das Stigma des „Ausgestoßenen“ los zu werden. Diese „neue Identität“ muss schlicht und einfach sein,… Mehr
„Den meisten Menschen fehlt der Mut zur Freiheit.“ Das ist Pflicht der schulischen und dann der elterlichen Erziehung. Den letzten Satz meines Professors für Sozialkunde werde ich mein Leben lang nicht vergessen. „Zum Abschied möchte ich ihnen noch eines auf den Lebensweg mitgeben, Rechte bekommt man nicht geschenkt, seine Rechte muss man immer erkämpfen.“ (auch dann wenn sie in Gesetzen festgeschrieben sind) »Rechtsstaaten« ohne Gerechtigkeit.“ Genau das ist der Trick der Undemokratie, „repräsentative Demokratie“, denn genau der undemokratisch mit selektiven Interessen konstruierte „Rechtstaat“, ist schon die in Gesetzen gemeißelte Ungerechtigkeit. Dazu gehört dann noch die selbstgewählte Unfreiheit aus Bequemlichkeit und… Mehr
Lieber tot als rot.
Plakative Sprüche, der primitiven politischen Auseinandersetzung,
„mundgerecht“ zubereitet für das denkunwillige Volk, „panem et circenssis“.
Vermutlich war Deutschland vor 1914 das letzte Mal so etwas wie souverän. In Deutschland glaubt man noch dem gesprochenen Wort. Getreu dem Motto: „Ein Mann, ein Wort“. Viele Deutsche glauben nach wie vor den Worten der selbsternannten „Gutmenschen“ und wollen nicht sehen, dass diese „Gutmenschen“ alles Gute in diesem Land gerade voll Freude in die Tonne kloppen. Dazu gehören nicht nur die soziale Marktwirtschaft, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht aller Völker und der demokratische Staat mit seinen Rechten und Pflichten, seiner freien unabhängigen Presse, usw. . Alles heute nichts mehr wert, kann alles weg? – Es grummelt in der Bevölkerung, viele… Mehr
Aber ihre Geschwister und deren Kinder überleben, weil die Helden für sie kämpfen.
Richtig!
Wären alle, wie heute üblich, immer nur weggelaufen, dann hätte es keinen amerikanischen Freiheitskrieg. keine französische Revolution und damit bis heute auch keine Menschenrechte gegeben.
Zitat: „Welcher Schüler löst die Daueraufgabe unserer bundesdeutschen Freiheit?“ Mein Beitrag, nicht als Schüler, sondern zur Völkerverständigung. Herr Wolffsohn, verweisen Sie in Ihren Texten nicht auf angebliche Grössen, denn die können in der Gegenwart keine Probleme lösen – die Meisten sind schon lange tot. Zudem sind es bloss Autoritätsargumente, die aus Sicht der Logik keine sind. In der Schweiz ist ein Autoritätsargument ein Ausdruck der eigenen Argumentationsschwäche – man ist ja nicht selbst darauf gekommen, sondern verweist auf Dritte. Das ist zwar in Akademikerkreisen ein ungeschriebenes Gesetz, um sich gegenseitig bekannt zu halten. Bekanntheit alleine hat aber mit Qualität nichts… Mehr
Werter Herr Wolffsohn, leider deckt sich meine Beobachtung genau mit Ihrer Einschätzung: „Ich nehme den öffentlichen Diskurs in unserer deutschen Freiheit so wahr: Erst das Ereignis, die Aktion und gegebenenfalls Provokation der Person. Dann die medialen und politischen Reaktionen. Selten übermitteln die medialen Multiplikatoren Nachrichten pur. Meistens werden Nachricht und Meinung intensiv vermischt, sogar in vermeintlichen »Nachrichtensendungen«, was bei öffentlich-rechtlichen Anbietern noch unseriöser als sonst ist.“ Ich persönlich mag aber Nachrichten pur ( auch wenn mir absolut bewusst ist, dass es eine rein objektive Nachrichtenübermittlung nicht gibt), ohne öffentlich rechtlich vorgekaute Einordnung derselben. Wie und wo ich welche Nachrichten in… Mehr
Líeber Herr Prof. Dr. Wolffsohn, erst einmal danke dafür, dass Sie sich zum Thema Freiheit äußern. Wenn Politiker verkünden, das Volk dürfe man nicht befragen, es sei zu dumm, zu unqualifiziert, würde falsch entscheiden, dann frage ich, wer sind diese Politiker? Außerirdische? Dass eine Mehrheit die Nazidiktatur erst ermöglichte, hatte verschiedene Gründe. Politische Manipulationen gehörte auch dazu. Früher Propaganda, heute Nudging genannt, waren schon immer effektiv genutzte Mittel. Ebenso wie „Brot und Spiele“. Aber ich vertraue dem Willen der Menschen nach Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit, allen Manipulationen zum Trotz. Wenn die Gefahr der Unfreiheit wächst, wächst auch das Bewußtsein für den… Mehr
„Ein ehemaliger SPD-Bundesminister belehrte mich: »Na wissen Sie, wenn Sie das Volk dazu fragen, dann …« Dann, meinte er, geschähe der größte Unsinn. In dieser brutalen, volksverachtenden Offenheit habe ich das weder vorher noch nachher gehört.“
Irgendwas müssen die Schweizer verkehrt machen, weil Sie den größten Unsinn einfach nicht verwirklichen wollen!
Woran liegt das, liebe Schweizer?
Geht morgen in den nächstbesten Supermarkt und schaut euch um. Die Freiheitsliebenden könnt ihr lange suchen. Es gibt sie nicht. Alle samt mit Feder im A…. äh Maske im Gesicht.
Zitat: „Meistens werden Nachricht und Meinung intensiv vermischt, sogar in vermeintlichen »Nachrichtensendungen«, was bei öffentlich-rechtlichen Anbietern noch unseriöser als sonst ist.“ Erschreckend ist für mich, dass die Konformität der als selbstverständlich und alternativlos präsentierten Meinungen nicht von einem diktatorischen Regime erzwungen wurde, sondern dass es ein freiwilliger Gleichschritt ist. Oder irre ich mich? Es gab in den letzten Jahren in ARDZDF nur zwei oder drei kritische Kommentare gegen Merkel, jedoch nicht in zentralen Punkten. Kein Kommentator und kein Magazin rührte an die Mär von den „Flüchtlingen“, keine Widerrede gab es zu der Chemnitz-Manipulation, keine Widerrede zu der Einmischung der Kanzlerin… Mehr
„Erfahrungsgemäss schlagen Pendel jedoch erst einmal bis zum anderen Extrem.“
Genau, geht nur so. Ist die träge Masse erst einmal in Bewegung…