Storytelling im »globalen Dorf«

Michael Esders inspiziert das Schlachtfeld der Begriffe und Metaphern, das sich auf alle Lebensbereiche ausgeweitet hat. Er entziffert die Narrative, in denen Haltungen über den Common Sense, Mythen über Theorien triumphieren.

Die technische Infrastruktur der Massenmedien begünstigt die Ausbreitung moralisierender Deutungsmuster. Ins Gewicht fällt vor allem der Aufstieg des Fernsehens als Massenmedium, der die Personalisierung des Politischen forciert hat. Gehlen spricht 1969 von einer »Veränderung des Verpflichtungsgefühls« durch das Fernsehen, das Entfernungen schrumpfen lässt und Fernste zu Nächsten macht. Damit stimmt Marshall McLuhans Beobachtung überein, dass audiovisuelle Medien Raum und Zeit entwerten und die Welt auf das Miniaturformat eines »globalen Dorfs« oder eines Stammes schrumpfen lassen:

»Wir leben in einem einzigen komprimierten Raum,
der von Urwaldtrommeln widerhallt.«

Im »global village« der elektronischen Massenmedien wird mit der kalten, distanzierten und distanzierenden Rationalität der Schriftkultur und des linearen Denkens auch das ihnen entsprechende Ethos suspendiert. Es macht einer neuen Kultur der Unmittelbarkeit und Simultaneität Platz, die den idealen Nährboden für eine erweiterte, globalisierte Privatmoral darstellt. Mit dem Zusammenschrumpfen der Welt in den elektronischen Schaltkreisen erweitert sich zugleich das heimische Wohnzimmer und damit der Adressatenkreis der Familienmoral. McLuhan konnte diesem Trend durchaus positive Seiten abgewinnen und beobachtete neue Formen der Anteilnahme, des Engagements und des Dialogs, während Gehlen die Schattenseite einer Erosion des staatlichen und institutionellen Ethos betonte.

Ebenso erhellender wie grimmiger Lesegenuss
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Das World Wide Web hat mit den global-medialen Interdependenzen, die McLuhan beschreibt, auch das weltumspannende Verpflichtungsgefühl, von dem Gehlen spricht, über alle Maßen verstärkt. Symptomatisch dafür ist der Kosmopolitismus der »digital natives«, an den Personalisierung und Storytelling nahtlos anknüpfen können. Die Lagerfeuer des Erzählens glimmen heute millionen-, ja milliardenfach auf den Touchscreens und Displays. Das Netz hat die Erzählgemeinschaften, die zugleich Empörungsgemeinschaften sind, stark diversifiziert. Gleichzeitig hat sich das Erzählen zu einer Kommunikationsform der Augenblicklich- und Gleichzeitigkeit entwickelt. Unter dem Regime der Jetztzeit hat es nicht nur seinen epischen Atem, sondern auch die narrative Kraft eingebüßt, die der Zeit Struktur zu geben, Ereignisse zu sequenzieren und Distanz zum Geschehen herzustellen vermag. Im Biotop der digitalen Ort- und Grenzenlosigkeit steigert sich die »Informationshektik«, die nach Gehlens Beobachtung mit »moralhypertropher Aufgeregtheit« einhergeht.

Das narrative Prinzip könnte identitäts- und gemeinschaftsbildend wirken, aber im Verbund mit einer uferlosen Moralisierung entfaltet es einen gegenläufigen Effekt. Das Erzählen, das Walter Benjamin als die »handwerkliche Form der Mitteilung« charakterisierte, erscheint heute vor allem als Ausdrucksform der »überdehnten Hausmoral«. Genauer: Es ist zum Vehikel ihrer grenzenlosen Ausdehnung geworden, die längst auch den politischen Diskurs erfasst hat.

In diesem Erzählen gibt es nur Ich und Welt. Im grenzen- und konturlosen Dazwischen ist nichts auszumachen, was Loyalität verdiente. Alle intermediären Instanzen sind verschwunden. Das postheroische Gemeinwesen ist narrativ unergiebig. Auch der nach außen schützende, nach innen befriedende Staat taugt nicht als Held. Wo immer er personale Züge annahm, wurde er rasch als monströse Unperson denunziert. Das Titelblatt der Erstausgabe des Leviathan von Thomas Hobbes zeigt ihn als gekrönten Riesen, der sich aus unzähligen Einzelpersonen zusammensetzt. Das Schwert in der Rechten, den Bischofsstab in der Linken, hat er die Arme schützend über die Stadt gebreitet. Sein Gesichtsausdruck ist nicht unfreundlich, fast jovial. Diese einnehmende Darstellung änderte allerdings nichts daran, dass der Leviathan »zu einem grauenhaften Golem oder Moloch aufgedröhnt« wurde, wie Carl Schmitt beobachtete.

"Retter" und "Flüchtlinge" bis 2040
Auf Angela Merkel folgen Pia Klemp und Carola Rackete
Dieses Schreckensbild ist bis heute virulent, was etwa in der medialen und narrativen Aufbereitung der »Rettungsmissionen« Carola Racketes sichtbar wurde. Die »Kapitänin« wurde im Sommer 2019 international bekannt, als sie mit der »Sea-Watch 3« und vierzig Flüchtlingen an Bord ungeachtet des Verbots der italienischen Behörden und trotz mehrfacher Aufforderung zur Umkehr den Hafen der Insel Lampedusa anlief. Dabei drängte sie mit ihrem 600-Tonnen-Schiff ein viel kleineres Schnellboot der italienischen Zoll- und Steuerpolizei ab und rammte es sogar, woraufhin sie festgenommen und zwischenzeitlich unter Hausarrest gestellt wurde. Menschenrettung dürfe nicht kriminalisiert werden, lautete der Tenor der unzähligen Sympathiebekundungen des linksliberalen Mainstreams in Deutschland. Es fiel ihm leicht, die junge Frau zur Heldin grenzenloser Humanität aufzubauen und gegen den Leviathan in Stellung zu bringen. Die Ereignisse folgten einem alten Skript, ein Casting erübrigte sich: Hier die unerschrockene Lebensretterin, eine globalistische Jeanne d’Arc der Meere, Inkarnation der Moral, dort ein Staat, der die kalte Abstraktion des Rechts gegen alle Gebote der Menschlichkeit exekutiert und mit den Häfen auch die Herzen verschließt. Obwohl die Bilder des Anlegemanövers die gegenteilige Deutung nahelegten, drängte sich eine David-gegen-Goliath-Konstellation auf, die keinen Zweifel an der Verteilung der Sympathien gestattet: Gegen eine NGO-Heldin, welche die »Flamme der reinen Gesinnung« verkörpert, kann der Leviathan nur verlieren.

Auch unabhängig von der jeweiligen Figurenkonstellation begünstigt die narrative Struktur den gefühlsgeladenen Subjektivismus des Guten. Der narrative turn und die anhaltende Konjunktur des Storytelling haben den Resonanzraum einer Politik der reinen Gesinnung erheblich ausgeweitet. Im politischen Storytelling ging es dabei zunächst nicht um die Konstruktion eines großen, umfassenden, übergreifenden Mythos als kollektive Sinnressource und Triebkraft politischer oder sozialer Bewegungen. Die politische Kommunikation griff und greift vielmehr auf eine im Marketing bewährte narrative Strategie zurück, die hochgradig flexibel, wandlungs- und anpassungsfähig ist. Storytelling füllt die Vakanz nach dem von Jean-François Lyotard ausgerufenen Ende der »Metaerzählungen«. Im Marketing ist es zudem die Antwort auf den wachsenden Werbeüberdruss, der sich seit Mitte der 1990er Jahre – nicht zuletzt auch unter dem Eindruck der globalisierungskritischen Bewegung – zu einer handfesten Krise der Marken auszuwachsen drohte. Man stellte das Trommelfeuer werblicher Botschaften zumindest zeitweise ein und setzte auf poetische Umwege und die absichtliche Unabsichtlichkeit des Ästhetischen. Die fein dosierten Verwicklungen des Plots ersetzten die polierte Oberflächlichkeit der klassischen Warenästhetik. Marken erscheinen fortan als narratives Bedeutungskapital, das es sorgsam zu pflegen und zu mehren gilt.

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Spin Doctors und Politikberater kopierten und adaptierten die im Markenmanagement bewährte Strategie. Bislang unübertroffener Virtuose des politischen Storytelling war der ehemalige US-Präsident Barack Obama. Das wichtigste Projekt seiner ersten Amtszeit, die große Gesundheitsreform, rechtfertigte er beispielsweise bei einer Bürgerversammlung im US-Bundesstaat Colorado im August 2009 mit einer sehr persönlichen Erzählung, die Krankheit, Sterben und Tod seiner Großmutter vergegenwärtigte. Madelyn Dunham war zwei Tage vor der Wahl ihres Enkels zum ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten gestorben. Obama hatte eine Auszeit im Wahlkampf genommen, um seine schwer krebskranke Großmutter ein letztes Mal zu besuchen. Ein knappes Jahr später begegnete er dem Vorwurf, er wolle die medizinische Leistung für Senioren einschränken – Kritiker sprachen gar von geplanten »Todes-Komitees« – mit dem Rückgriff auf die eigene Biografie: »Ich weiß, wie es ist, wenn man erlebt, dass jemand, den man liebt, alt und krank wird.« Das emotional aufgeladene, moralisierende Erzählen ist hier nicht mehr nur rhetorisches Exempel, sondern integraler Bestandteil der Begründung; es flankiert nicht, sondern ersetzt das Argument.

Vor der gefährlichen Tendenz, aus der Intensität moralischer Gesinnung einen höheren Standpunkt abzuleiten und diesen gegenüber dem Recht und den Üblichkeiten des Common Sense zu privilegieren, warnte der Philosoph Hermann Lübbe schon früh. Sogar Verstöße gegen das Recht würden unter Berufung auf die vermeintlich bessere Sache gerechtfertigt, lautet sein Befund. Ein solcher Moralismus, in dem die Gesinnung über die Urteilskraft triumphiert, mündet nicht selten in eine Selbstermächtigung zur Gewalt, wie Lübbe am Beispiel der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zeigt. Unabhängig von diesen Großideologien gibt es laut Lübbe auch eine eher mikrologische Praxis der moralisierenden Debattenführung, die den politischen Gegner moralisch diskreditiert, seine Sachargumente neutralisiert und ihn schließlich mundtot macht: »Moralist in diesem Sinne ist, wer, statt ad rem, ad personam argumentiert.« Dieses ad personam ist mehr als ein rhetorischer Kniff. Im medial-narrativen Komplex wird es auf eine Weise strukturbildend, die das Argumentieren erübrigt, Themen gezielt einer diskursiven Erörterung entzieht und eine Rückkehr auf die Sachebene nahezu ausschließt.

Neben den flexiblen, tagespolitischen Spielarten des Storytelling gibt es stabilere narrative Formationen, die mögliche Bahnen einer Debatte ebnen und kanalisieren, bevor diese überhaupt begonnen hat. Der metapolitische Kampf um die Diskurshegemonie, um die Verwendung von Begriffen und ihre Deutungshoheit, beginnt nicht nur im vorbegrifflichen Bereich des Erzählens, sondern wird dort in vielen Fällen auch entschieden. Die Aura ästhetischer Absichtslosigkeit, die das Erzählen verbreitet, qualifiziert dieses als sprachpolitisches Instrument. Das Regime des moralisierenden Erzählens entwickelt ein wachsendes Raffinement darin, seine manipulativen Absichten zu verschleiern. Es adaptiert ästhetische Strategien und poetische Sprechweisen, um nicht als Regime in Erscheinung zu treten.

Auszug aus: Michael Esders, Sprachregime. Die Macht der politischen Wahrheitssysteme. Manuscriptum, 148 Seiten, 18,- €


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Kommentare ( 4 )

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Iso
4 Jahre her

Wenn ich in den Massenmedien mit Gendersprech zugetextet werde, dann fühle ich mich mit dieser Babysprache auf den Arm genommen, und schaltet immer öfter aus. Die Beeinflussung ist dann nicht mehr subtil genug, und erfüllt den Tatbestand krasser Propaganda. Schließlich suche ich mir andere Informationsquellen oder Unterhaltung. Die Massenmedien verlieren durch das Wirken dieser Lügnerinnen und Lügner an Reichweite, und sollten sich nicht wundern, wenn sie eines Tages umstrukturiert werden, ihr Geld also wieder selbst durch Inhalt und Nachfrage verdienen müssen. Was da gegenwärtig läuft, dass man mit 8 Milliarden Euro gefüttert wird, und selbst Zeitungsverlage Millionen erhalten, führt letztlich… Mehr

Dr. Friedrich Walter
4 Jahre her

Man will uns ständig einreden, daß wir zu einer Gemeinschaft gehören, mit der wir solidarisch zu sein und für die wir uns einzusetzen haben. Auch emotionale Anteilnahme wird von uns gefordert, sonst seien wir nicht „schwingungsfähig“ (behaupten systemkonforme Psychologen, um uns über Schuldgefühle zu manipulieren). Das fängt schon mit dem Begriff „Gesellschaft“ an. Was soll das sein? Für mich ist das ein fiktives Konstrukt von Soziologen, das in der Realität gar nicht existiert, sondern erfunden wurde, um uns zu manipulieren. Ich erlebe nur ein Konglomerat unterschiedlichster Interessensgruppen, die sich teilweise gegenseitig „bis aufs Messer bekämpfen“, die alle die Deutungshoheit über… Mehr

Petra
4 Jahre her
Antworten an  Dr. Friedrich Walter

Ihr Kommentar macht mir deutlich, auf welcher Basis meine eigene Enttäuschung, Distanz und Hoffnungslosigkeit steht. Er bringt auf den Punkt, was Politik (nicht nur die deutsche sondern die weltweite seit Jahrzehnten) für den Einzelnen bedeutet, welcher Verachtung und Geringschätzung ich, als Mensch, gegenüberstehe.
Für Politik, Medien und Wirtschaft bin ich nur Ware, Konsument, ein zu manipulierendes Objekt.
Auch ich schätze dankbar mein Alter. Ich bedauere die Jüngeren.
Vielen Dank für diesen Kommentar. Es gibt keine Hoffnung, keine Helden, keine erstrebenswerte Zukunft.

HGV
4 Jahre her

„Story telling“ ist in Unternehmen der neue Stil, das Management zu überzeugen. Die Geschichte muss stimmen. Die neuen Barden und Narren versuchen mit Klamauk und Unterhaltung zu überzeugen. Zahlen, Daten, Fakten und Zusammenhänge sind nicht wesentlich, sondern nur schmückendes Beiwerk. Ziel ist das Überzeugen des Managements und der Massen.