„Sie kennen mich“ (nicht) – Ein kritischer Blick auf Angela Merkel

Diese kritische Biografie ist ein wichtiges Dokument. Mai trägt sachlich korrekt, aber nicht „ohne Zorn und Eifer“, sondern mit deutlich spürbarem Affekt von Ärger, Enttäuschung und Anklage, die entscheidenden Punkte vor. So macht er sich auch zum Anwalt all derer, die spüren, dass die Merkel-Jahre nicht blühend, sondern bleiern waren. Von Harald Walach

Angela Merkel sagte von sich, dass sie alles vom Ende her denken würde. Also fängt Klaus-Rüdiger Mai seine kritische Merkel-Biografie von hinten an. Mai beginnt am Ende von Merkels Amtszeit, der „besten Kanzlerin, die die Grünen je haben werden“. Beim Großen Zapfenstreich, ihrer Verabschiedung am 2. Dezember 2021 galten noch Merkels Coronavorschriften. „In der Pandemie-Diktatur fand Merkels Herrschaft ihre reinste Form“ und wurde für „manche zwölf Jahre zu spät“ beendet. Damit sind auf den ersten Seiten wie in der Exposition einer Symphonie alle Themen bereits angeschlagen, die das Buch auf seinen 397 Seiten Text und weiteren 18 Seiten Apparat – 402 Zitationsnachweise und 2 Seiten Literatur – durchführen wird.

Angela Merkel ist in Mais Darstellung eine im Grunde nur an sich selbst und ihrer Außenwirkung interessierte Person. Inhalte, andere Menschen, das Wohl des Landes oder gar der Welt interessieren sie nur insofern, als sie mit ihrer eigenen Person in Berührung kommen oder ihr selber Schaden zufügen können oder ihrem Aufstieg und ihrer Macht im Wege stehen. In der klinischen Psychologie, meinem eigenen Fach, nennt man so jemanden eine „narzisstische Persönlichkeit“. Mai enthält sich klugerweise solcher psychologisch-diagnostischer Beurteilungen, die ihm als Philosophen, Historiker und Literaturwissenschaftler nicht zustehen würden. Aber zwischen den Zeilen und im gesamten Text ist dies der überlaute Subtext dieser Biografie.

Man mag nun zu Mais Analyse stehen wie man will, eines muss man ihm lassen: Er belegt seine Aussagen sehr gut und überlässt damit das letzte Wort der Leserin und dem Leser. Vor allem was Merkels DDR-Vergangenheit angeht scheint mir diese Arbeit extrem erhellend zu sein. Da Mai die DDR aus eigener Erfahrung kennt, kann er verschiedene biografische Episoden, die Merkel entweder selber in Interviews erzählt hat oder die ihre früheren Biografen von ihr berichtet haben, klar einordnen.

Auf der einen Seite macht er deutlich, dass es für verschiedene Anschuldigungen, etwa Merkel sei bei der Stasi oder beim KGB gewesen, keinerlei Belege gibt. Auf der anderen Seite stellt er aber klar, dass Merkels vermeintliche Distanz zum SED-Regime und Sympathie für die Bürgerrechtsbewegung ebenfalls nicht stimmen kann. Zwar begann ihre Karriere im „Demokratischen Aufbruch“, einer Art moderater Bürgerrechtsbewegung, die bei den ersten und letzten freien Wahlen in der DDR nur 0,9% der Stimmen erhielt und die daher auch rasch in der CDU aufging. Aber diesen Schritt tat Merkel erst – vom Ende her denkend -, als klar war, dass die DDR am Ende und innerhalb ihrer Strukturen kein Fortkommen mehr war.

„Es muss demokratisch aussehen …“
Wie aus der DDR eine Diktatur wurde
Zuvor versuchte sie innerhalb der Strukturen voranzukommen. Mai gesteht ihr durchaus ihre intellektuellen Fähigkeiten zu, ausgezeichnetes russisches Sprachverständnis und sehr gute naturwissenschaftlich-mathematische Fähigkeiten. Doch andeutungsweise lässt er durchblicken, dass die lange Promotionszeit von 8 Jahren, die in der DDR unüblich gewesen sei, vielleicht nicht nur der Lustlosigkeit geschuldet gewesen sein könnte, in der die Jungwissenschaftlerin Merkel erkannte, dass ihr der wissenschaftliche Eros fehlte. Damals sei es ihr klar geworden, dass Wissenschaft nicht ihr Metier sei, eine Einsicht, die Merkel wohl auch ihren offiziellen Biografen vermittelt hat. Was sie den offiziellen Biografen jedoch nicht verraten hat, sind Gründe für die Ungereimtheiten, die Mai aufzählt: Warum andere, die an der polnischen Grenze mit Material der geächteten Gewerkschaft Solidarnosc aufgegriffen wurden, für ein Jahr oder länger ins Gefängnis wanderten, Merkel aber mit einer Verwarnung davonkam, die nie weiterverfolgt wurde; warum sie überhaupt eine Ausreisebewilligung zur Hochzeit einer Cousine nach Hamburg erhielt, die dann gleich noch mit einer Reise zu einem ausgebürgerten Physiker nach Konstanz verbunden wurde. Dies sind nur zwei Beispiele von einer ganzen Reihe von Indizien, die Mai zusammenträgt um zu suggerieren: All dies spricht dafür, dass Merkel sehr viel näher am Machtapparat der DDR war, als sie uns verraten hat und glauben machen will.

Die Fähigkeit zu wittern, woher der Wind weht und wohin er einen trägt kommt Merkel dann nach der Wende zu Gute, als sie es schafft, Kohl auf sich aufmerksam zu machen und zunächst als stellvertretende Pressesprecherin, später als Ministerin in seinem Kabinett zu dienen. Merkels Wege in der westdeutschen Politik sind gut bekannt. Nach den ersten 190 Seiten des Buches, die Merkels Kindheit, Schul- und Studienzeit in der DDR gewidmet sind, widmet Mai im zweiten Teil 110 Seiten dieser Vorbereitungszeit auf die Kanzlerschaft, wie man sie nennen könnte: Lehrzeit im westdeutschen Politikbetrieb. Auch dies ein Thema mit Variationen: Wie kann ich das System so nützen, dass ich nach oben komme.

Interessanterweise ist es eben nicht eine rein machiavellistische Geschichte von Dolch, Schmeicheleien und Ellenbogen, die hier erzählt wird, sondern, was aus Sicht des Historikers interessant ist, eine Mischung aus „Zufällen“ und Wendungen der Geschichte, aus der Merkel klug witternd die richtigen Konsequenzen zog. So etwa, als sie Stoiber den Vortritt als Kanzlerkandidat gegen Schröder ließ. Als Schröder gewann, versank Stoiber. Hätte Merkel sich vorgeboxt, wäre sie es gewesen, die untergegangen wäre. Nun schlug ihre Stunde. Sie konnte sich als Alternative präsentieren und wurde Kanzlerkandidatin und später Kanzlerin.

Die letzten etwa 80 Seiten des dritten Teils wenden sich unter der Überschrift „Kanzlerin der Spaltung“ Merkels Wirken als Kanzlerin zu. Anders als ihre Hagiographen in den Qualitätsmedien, lässt Mai kein gutes Haar an Merkel. Vielmehr argumentiert er, dass sie die Verantwortung zu tragen hat für den Niedergang Deutschlands als demokratische und wirtschaftliche Kraft Europas und macht gleichzeitig plausibel, dass sie diese Verantwortung nie tragen wird müssen. Denn dazu hat sie sich fleißig, konsequent und sehr klug ein großes Netzwerk von einflussreichen Claqueuren aufgebaut, das von der Justiz über die Presse in die höchsten Ränge der Medienhäuser, großen Stiftungen und Parteien reicht. Vor allem den Grünen, so Mai, galt ihre Sympathie, sichtbar daran, dass sie nicht zum Jubiläumsparteitag der CDU ging, mit dem Argument sie würde sich als Ex-Kanzlerin nicht ins Tagesgeschäft einmischen, aber am gleichen Tag eine Rede zur Verabschiedung des grünen Ex-Ministers Trittin hielt.

Die vier wirklich großen Herausforderungen ihrer Kanzlerschaft habe sie verspielt, so Mai, die er die vier großen „Sargnägel für Deutschland“ nennt.

Zukunfts- und Freiheitsenergie
Die dümmste Energiepolitik der Welt und der klügste Weg aus der Falle
In der Eurokrise verspielte sie die Haushaltssouveränität des Bundestages und damit der Bundesrepublik, indem sie der EU-Kommission die Macht übergab, deutsches Geld für den Rettungsschirm einzufordern, sollte es nötig werden, ohne dass das Parlament frei darüber verfügen kann. Man könnte ja nun argumentieren, dass das Parlament diese Souveränität durch Zustimmung von sich aus abgegeben habe. Mai würde vermutlich antworten, dass Merkel, „als Hohepriesterin der Göttin TINA (there is no alternative)“, wie in anderen Situationen, die entsprechenden Einpeitscher manipuliert habe, zuzustimmen.

Der zweite Sargnagel ist die Energiewende, die er detailliert diskutiert. Er stützt sich dabei auf freigeklagte Unterlagen zu Nordstream 1, der ersten Gaspipeline von Russland nach Deutschland. Von ihr habe die Regierung immer behauptet, es sei ein privatwirtschaftliches Projekt. Die Unterlagen zeigen: es war ein politisches Projekt, vorangetrieben von der Bundesregierung über Stiftungen und andere Konstrukte. Das Ziel war, die verheerenden Konsequenzen der Energiewende zu kaschieren und einigermaßen günstige Energie zur Verfügung zu stellen, wenn Flaute und Hochnebel über Deutschland die erneuerbare Energie stilllegen würden.

Auch bei Sargnagel Numero drei, der Migrationskrise, zeigt Mai, dass das Regierungsnarrativ, genauer gesagt Merkels Version, gelogen ist. Merkel hat immer behauptet, alles sei so schnell gegangen, dass sie keine Wahl hatte als die Grenzen zu öffnen, Göttin TINA hat gesprochen. Mai zeigt anhand von Dokumenten, dass dies falsch ist. Merkel war schon lange informiert. Sie verweigerte den ungarischen und den österreichischen Behörden das Gespräch. Das wird auch aus einem Brief des ungarischen Botschafters deutlich, den Mai in seinem Besitz hält und aus dem er zitiert. Die Abweisung von Flüchtlingen an der Grenze, die ohne Grund und Papiere ankamen war ebenfalls vom Innenministerium vorbereitet. Merkel bog die Befehle um. Denn sie wollte nicht die Verantwortung übernehmen. Es könnte ja ein schlechtes Licht auf sie fallen. Auch hier wieder das entscheidende Motiv: Es war nicht Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe, sondern die Sorge ums eigene Ansehen, die Merkel antrieb.

Beim letzten Sargnagel, der Spaltung der Gesellschaft, kehrt Mai wieder zum Ausgangspunkt zurück: zur Coronadiktatur und der Spaltung, die daraus entstanden ist. Die RKI-Files haben inzwischen belegt, dass die Aussagen der Regierung gelogen waren, sie stütze sich auf die wissenschaftliche Kompetenz des RKI beim Erlassen von Maßnahmen. Richtig war: Das RKI wurde angewiesen, politisch vorher definierte Maßnahmen mit wissenschaftlicher Begleitmusik zu rechtfertigen. Die Spaltung, die daraus resultierte ist gleichsam die Signatur von Merkels Kanzlerschaft und ihrer Persönlichkeit.

Ohne Aufarbeitung kein Lernen für die Zukunft
Wie das Virus unser Land zersetzt – immer weiter
Mais „kritische Biografie“ ist ein wichtiges Dokument. Es trägt zwar sachlich korrekt, aber nicht „sine ira et studio“ („ohne Zorn und Eifer“, wie Tacitus seine Aufgabe als Historiograph beschrieb), sondern mit deutlich spürbarem Affekt von Ärger, Enttäuschung und Anklage die entscheidenden Punkte vor. Damit macht sich der Autor zum Anwalt all derer, die irgendwie spüren, dass die Merkel-Jahre nicht blühend, sondern bleiern waren. Ich habe es mit wachsendem Interesse und Entsetzen gelesen. Denn erst wenn man im Detail die Hintergründe und Entscheidungen sieht erkennt man, wie die Dinge zusammenlaufen und man muss dem Autor zugestehen: Sein Narrativ einer Machtpolitikerin, die nur an ihrem eigenen Aufstieg Interesse hatte und an sonst nichts, überzeugt.

Mais psychologisch-analytische Enthaltsamkeit empfinde ich als wohltuend. Wer Ohren und Augen hat, kann sich seinen eigenen Reim auf die Geschehnisse machen. Die einzige, plausible psychologische Spekulation die er sich erlaubt ist, dass vieles verstehbar wird, wenn man die übermächtige Position von Merkels Vater bedenkt, der als einflussreicher Theologe den Kindern eingebläut hat, sie müssten immer die Besten sein. Überblickt man die Details im Ganzen, dann sieht man hier das am Werk, was der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz „Normopathie“ genannt hat: psychologische Verzerrung, die so normal ist, dass sie nicht weiter auffällt, weil viele darunter leiden. Insofern stellt Merkel den Prototypen einer normopathischen Persönlichkeit dar, in diesem Falle mit stark narzisstischen Zügen, die um sich ein Feld von Jasagern und Anhängern aufbaut und alle Kritik in den kalten Orkus der Abzuwertenden verbannt. Das ist ihr gelungen. Die Protestparteien in Deutschland, von AfD über Basis und BSW wären ohne Merkels Alternativlosigkeit und Unfähigkeit zu einem parteienübergreifenden, gesellschaftlichen Diskurs in wichtigen Sachfragen nicht herangewachsen.

Mais Biografie ist ein wichtiges Dokument. Denn es liefert die Argumente des „advocatus diaboli“ („Anwalt des Teufels“), der in den katholischen Heiligsprechungsprozessen all jene Fakten auf den Tisch legt, die der vermeintlichen Heiligkeit entgegenstehen. Da Merkels Hofberichterstatter und sie selbst bereits fleißig an ihrer Heiligsprechung arbeiten, ist gerade diese Gegenrede wichtig.

Trotz der gewichtigen 400 Seiten Text fehlen einem am Ende doch noch einige Puzzlesteine: Wie konnte es kommen, dass der ganzen Presse der Schneid abgekauft wurde und fast alle in den Hofberichterstattungsmodus wechselten, sobald es um Merkels Politik ging?  Mai deutet an, dass Merkel auch hier gründlich vorgearbeitet hat und sich mit den Erbinnen der großen Medienhäuser befreundete. Aber im Detail wüsste man es doch gerne genauer. Vielleicht muss hierfür eine eigene Recherche herhalten, die vermutlich nochmals genauso dick sein würde. Denn schließlich ist das, was Mai über Merkels Versagen schreibt auch und vor allem ein Versagen der Presse, die es versäumt hat – mit sehr wenigen Ausnahmen – Merkels Entscheidungen kritisch zu hinterfragen.

Dass Politiker machtversessen sind und oft ihr eigenes Wohlbefinden über das der Partei und des Landes stellen ist keine Entwicklung der letzten zwanzig Jahre, sondern seit Machiavelli Standardwissen. Aber dass sie darin keinerlei Widerpart erleben, keinen ernstzunehmenden Widerspruch in der veröffentlichten Meinung, das ist eine durchaus neue Entwicklung. Ohne sie wäre das Phänomen Merkel, so wie Mai es ausbuchstabiert, nicht denkbar. Daher ist dieses Buch aus meiner Sicht Pflichtlektüre nicht nur für Bürger, sondern auch für Journalisten.


Prof. Dr. Dr. Harald Walach ist klinischer Psychologe mit einer über dreißigjährigen Erfahrung in der Evaluation komplementärmedizinischer Verfahren. Er ist Gründer und Leiter des Change Health Science Instituts und derzeit Professorial Research Fellow am Next Society Institute in Vilnius/Litauen.


Klaus-Rüdiger Mai, Angela Merkel. Zwischen Legende und Wirklichkeit. Eine kritische Biographie. Europa Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 416 Seiten, 26,00 €.


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Kassandra
3 Stunden her

Mich wundert, dass Beate Baumann in all den Biografien kein Extra-Kapitel gewidmet ist. Zumal sie auch an der Merkel Biografie mitgeschrieben haben soll, ja gar als Autorin genannt wird – aber, wie auf dem Buchcover auch dort gar nicht vorzukommen scheint. Wie auch die anderen alle, die sich jetzt noch auf unsere Kosten dort in Honeckers Büros Tag für Tag versammeln sollen.