Über das Schreiben

»Jede Woche schreibe ich über das, was passiert, was mich bewegt, freut oder aufregt, worüber ich nachdenke. Dabei versuche ich, ehrlich zu sein, auch meine Schattenseiten nicht zu verschweigen und keine Angst davor zu haben, mich unbeliebt zu machen. Nicht immer gelingt mir das.« Von Harald Martenstein

Fast alles, was man über Politik wissen muss, steht meiner Ansicht nach bei George Orwell, dem Autor von 1984 und Farm der Tiere. Vor Jahren habe ich ein kurzes Orwell-Zitat über das Schreiben gefunden, es stammt aus seinem Essay »Politik und die englische Sprache«. Von Zeit zu Zeit lese ich diese Bauanleitung für Texte, bevor ich mein Tagwerk beginne. Hier ist sie:

»Benutze niemals eine Metapher, einen Vergleich oder eine Redewendung, die man oft gedruckt sieht.
Benutze niemals ein langes Wort, wo es auch ein kurzes tut.
Wenn ein Wort gestrichen werden kann, dann streiche es.
Benutze niemals das Passiv, wo auch das Aktiv geht.
Benutze niemals ein Fremdwort, ein Fachwort oder einen Jargon-Ausdruck, wo ein umgangssprachlicher Ausdruck passt.«

Am besten gefällt mir der Schlusssatz, mit dem Orwell sein Dogmengebäude sofort wieder einreißt:
»Brich jede dieser Regeln, bevor du etwas völlig Schreckliches schreibst.«
Das Wort »schrecklich« heißt im Original barbarious.

»Ein unverbrüchlich menschliches Buch«
George Orwell: Auf der Suche nach Wahrheit in einer Welt voller Lügen
Selbst Orwell schafft es nicht oder will es nicht schaffen, auf diesen paar Zeilen seine Regeln einzuhalten. Wenn ein Wort gestrichen werden kann, dann streiche es?

Das »dann« könnte bei Orwell ohne Weiteres gestrichen werden. Dies gilt auch für das englische Original, wo es heißt »always cut it«, ohne always versteht man es auch. Pittoreske Fremdwörter oder abgefuckte Jargon-Ausdrücke können außerdem überraschend wirken oder dem Text Farbe geben.

Man muss es machen wie beim Würzen, nach Gefühl. Schreiben ist mein Lebensinhalt. Natürlich gibt es auch andere Dinge, die mir wichtig sind. Wenn jemand mich fragen würde, wen oder was ich als Letztes verlieren wollte, wenn mir nach und nach alles genommen wird, würde ich sicher nicht »Schreiben« antworten. Aber der Drang zu schreiben ist etwas, das mich von anderen unterscheidet, meine übrigen Vorlieben sind ziemlich gewöhnlich.

Trotzdem muss ich immer einen inneren Widerstand überwinden, bevor ich mit dem Schreiben anfange. Es hat nur Sinn, wenn man bereit ist, sich angreifbar zu machen, das heißt, ehrlich ist und Phrasen vermeidet. Nachdem ich fertig bin, sehe ich mich beim Wiederlesen wie im Spiegel und erschrecke darüber, wie oft ich missverständlich formuliere oder Fehler mache. Etwas Perfektes habe ich leider nie zustande gebracht. Einen sehr schlechten Autor erkennt man meistens daran, dass er sich für sehr gut hält.

Kolumnist Martenstein verlässt Tagesspiegel
Bald auch "Die Zeit" ohne Martenstein?
Ich schreibe über das Schreiben, weil ich Angst davor habe, dass es mir eines Tages entgleitet. Heute habe ich die letzten drei, vier Mails meiner Mutter an mich noch einmal gelesen, Sätze, die im Nirgendwo enden, Wörter, die nur noch ein Schrottplatz für Buchstaben sind.

Dazwischen manchmal Klares, auch den »Senden«-Button erkannte sie noch. Ich wusste, wie es um sie steht, sie muss es auch gewusst haben. Sie wollte es nicht aussprechen, wie so viele. Sie dachte wohl, sie könne es vertuschen oder es gehe wieder weg.

Alle, deren Eltern dement geworden sind, leben mit der Wahrscheinlichkeit, dass es sie auch erwischt. Vor dem Tod habe ich weniger Angst als vor diesem Zustand, dem Ausgeliefertsein, gegen den Tod kannst du eh nichts machen. Wenn ich eines Morgens nach dem Aufstehen meine Brille suche und ich finde sie im Kühlschrank, in der Butter steckend – was für ein Stoff für eine selbstironische Kolumne wäre das!

Aber ich werde es vermutlich vertuschen und denken, dass es wieder weggeht. Die Idee des ewigen Kreislaufs steht ja auch bei Orwell im Mittelpunkt, die Opfer von gestern sind die Täter von morgen, so, wie die Schlaumeier von heute die Dementen von morgen sind.

Auszug aus: Harald Martenstein, Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff. Optimistische Kolumnen. C. Bertelsmann, 224 Seiten, 18,00 €.


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Kommentare ( 1 )

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Schwabenwilli
2 Jahre her

Harald Martenstein auf TE?
Alle Achtung!