Scharfsinniges Sittengemälde: Der Westen am Scheideweg

Eine dumme Zeit bringt kluge Bücher hervor. Das derzeit klügste hat Josef Kraus geschrieben. „Im Rausch der Dekadenz“ ist nicht nur ein meisterhaftes Sittengemälde unserer Zeit, sondern entwirft auf mehr als 300 Seiten das Panorama in dem wir selbst uns täglich bewegen als faktenreiches Wimmelbild. Kraus hat der gefährlichen Versuchung nicht widerstanden, ein Epochenbuch zu schreiben, und es ist ein glänzendes geworden. Von Ralf Schuler

Kraus greift ein Lebensgefühl auf, das viele Europäer seit Jahren beschleicht und das der zu früh verstorbene FDP-Chef Guido Westerwelle schon 2013 als „spätrömische Dekadenz“ beschrieben hat. „Sind die Tage des Westens gezählt? Ist er ermüdet? Werden antiwestliche Gegenkulturen zur Hauptkultur? Wird es einsam um den Westen? Jedenfalls schwankt der Westen. Nach Jahrhunderten der Europäisierung und Verwestlichung der Welt sehen sich Europa und der Westen massiven Bedrohungen von außen ausgesetzt: wirtschaftlich, demografisch, kulturell, religionspolitisch, militärisch. Siehe die Bedrohungen durch den Islamismus, siehe Chinas expansiven Darwinismus und siehe Russlands Nationalismus.“

Doch Josef Kraus belässt es nicht bei einer mit Selbstmitleid garnierten Beschreibung à la Hamlet („die Zeit ist aus den Fugen, oh Schmach und Gram, dass ich sie einzurichten kam“), sondern forscht nach, geht in die Tiefe: „Die wohl größte Bedrohung des Westens kommt aber von innen: Geburtenschwund, Wohlstandsverwahrlosung, Übersättigung, Nachlassen der Verteidigungsbereitschaft, Selbstzweifel bis hin zu Schuldneurosen, Deindustrialisierung, nihilistische „Moral“, Toleranzdelirium, moralisierende Totalitarismen, suizidale Sehnsucht nach dem Verschwinden aus der Geschichte. Es ist ein totalitär-wokes Gebräu aus Ideologien und Ersatzreligionen, das in schier rauschhafte Dekadenzphasen führt.“

Es gibt verschiedene Blickpunkte, sich dieser Realität zu nähern. Alexander Kissler erkennt in unserer Gegenwart „Die infantile Gesellschaft“, Alexander Wendt arbeitet die „Verachtung nach unten“ durch eine selbst ernannte Moralelite heraus, Kraus bindet diese analytischen Fäden zu einem zuweilen verstörenden Zeitgewebe zusammen. Und weil der renommierte Gymnasiallehrer Kraus seinen Schülern keine beleglosen Behauptungen hätte durchgehen lassen, arbeitet er sich in einem er- und bedrückenden Indizienprozess durch die Faktenlage der Gegenwart.

Rezension von Uwe Tellkamp:
Die Wohlgesinnten. Notizen zu Alexander Wendts Buch »Verachtung nach unten«
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) beispielsweise gehe mit gewichtigen „Empfehlungen“ mit von Alltag und Realität völlig abgelösten Projekten voran, schreibt der langjährige Chef des Deutschen Lehrerverbandes Kraus: „,Gender-Bias-Schulungen‘, Empfehlungen zur gendersensiblen Sprache, Gender-Monitorings, Erweiterung des Gender-Consultings, ,All Gender‘-Toiletten, Zertifikat ,Gender Kompetenz‘… Forschungsförderung in Deutschland eben!“ Und selbstverständlich will die DFG auch beim Kampf der „Wissenschaft“ gegen Rechts, gegen Rassismus und gegen GMF (Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit) nicht abseits sehen. „Erforscht werden hier jedoch nicht etwa die Folgen der Migrationspolitik, sondern es werden die Kritiker der Migrationspolitik unter die Lupe genommen.“

Kraus untersucht minutiös die personellen Verflechtungen zwischen Politik und Medien, die Wechsel von Journalisten in politische Ämter und ihre bruchlose Rückkehr in den Journalismus, häufig und gern in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkt, der per Staatsvertrag ausdrücklich „Staatsferne“ im Auftrag hat.

Das Spannende und gleichzeitig Desillusionierende an Kraus‘ Dekadenz-Diagnose ist die Tatsache, dass selbst in der politischen Klasse kein Wissensdefizit besteht. Kanzlerin a.D. Angela Merkel (CDU) veranstaltete im Wahlkampf 2013 eine groß angelegte Befragung nach den wichtigsten Themen der Bürger und ließ diese von Wissenschaftlern begleiten und auswerten. Das Ergebnis: Die Deutschen sind sich der Wurzeln ihres Wohlstands nicht mehr bewusst. Sie wollen soziale Gerechtigkeit per Verteilung, saubere Energie, ökologische Lebensmittel und weltweite Hilfe gegen Armut und Elend. Wie all das erwirtschaftet werden soll, ist ihnen weder klar noch von Interesse. Wird schon. Dass auf der Grundlage einer solchen Mentalität künftiger Wohlstand nicht zu sichern ist, war allen Beteiligten klar. Und jetzt der Wetterbericht…

Kraus spürt den zugrundeliegenden Fehlentwicklungen mit sezierender Genauigkeit nach, dokumentiert sich wandelnde Familienbilder, Trans-Hype, entgleisende Identitätspolitik und beschreibt den schleichenden Verfall von „Bürgerlichkeit“: „Stirbt der klassische Citoyen aus, wird er ersetzt durch den ,Bobo‘, den Bourgeois-Bohémien, den ,woken‘ Lifestyler, der trotz ostentativ präsentierter Zivilcourage die eigene Spießigkeit nicht begreift?“

Interview
»Dekadenz ist der Normalfall«
Bei der Beantwortung dieser Frage greift er auf einen alten Politiker-Trick zurück: Anstatt seinen Befund zu benennen, formuliert er seinen Wunsch. „Hoffentlich nicht, denn der Westen, Europa und Deutschland brauchen wieder mehr Bürgerlichkeit. Natürlich auch Parteien bräuchte es, die Bürgerlichkeit hochhalten. Die FDP in Deutschland ist es nicht, die Merkel- und Post-Merkel-Union auch nicht mehr. Und bei den ,Grünen‘ ist Bürgerlichkeit Maske für die eigene, meist gutsituierte Wählerschaft. Nicht einmal mehr die zu Unrecht diskreditierte und mit Spießbürgerlichkeit verwechselte Kleinbürgerlichkeit kommt noch zum Zug. Die SPD hat sie über Bord geworfen.“

Ist denn gar keine Hoffnung mehr, fragt man sich am Schluss des Buches, das Kraus seiner Familie gewidmet hat. Es bleibt dem Temperament und dem Grad der Melancholie des Lesers überlassen, ob man es als er- oder eher entmutigend begreifen will, dass Kraus für die Antwort mehr als zweihundert Jahre zurück auf Immanuel Kant zurückgreift und dessen Definition von „Aufklärung“ von 1784 bemüht: „A u f k l ä r u n g ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

Stimmt es uns also hoffnungsvoll, dass diese Erkenntnis schon 240 Jahre alt ist und die Zeit zur Beherzigung inzwischen gekommen sein sollte, oder neigen wir Kant in einem anderen Zitat zu und lassen die Hoffnung fahren: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen … gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.“

Die Antwort bleibt jedem Leser selbst überlassen. Josef Kraus‘ „Im Rausch der Dekadenz. Der Westen am Scheideweg“ zu lesen, sei hiermit in jedem Falle empfohlen.


Ralf Schuler, mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichneter Journalist, arbeitete für »Die Welt«, die »Märkische Allgemeine Zeitung« und bis 2022 als Leiter der Parlamentsredaktion für die »BILD« in Berlin. Heute verantwortet er den Videopodcast »Schuler! Fragen, was ist« bei NIUS. Seine Bücher, darunter sein neuestes Werk »Der Siegeszug der Populisten« sind im TE-Shop erhältlich.

Josef Kraus, Im Rausch der Dekadenz. Der Westen am Scheideweg. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, 336 Seiten, 24,00 €.


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