Sahra Wagenknecht und Grüne: ein sozialistischer Familienstreit

Autor Mai führt von der Konterrevolution 1989 durch die Merkel'sche DDR-Wiederkehr in die Konterrevolution von heute. Einsichten in Zusammenhänge und Hintergründe, unbekannte Blicke auf Personen und Handlungen verspricht der Rezensent.

Klaus-Rüdiger Mai schreibt Sachbücher und Romane. Das macht auch sein neues Buch DIE KOMMUNISTIN besonders. Das Buch werden viele auf eine Geschichte der Wiedergeburt von Rosa Luxemburg als Sahra Wagenknecht verkürzen. Doch das ist nur die sehr lesenswerte Rahmenerzählung, mit der Autor Mai durch die Geschichte Deutschlands von einem Sozialismus in den nächsten führt – mit Wagenknecht, die Georg Lukács darin folgte, „Marx ausdrücklich über Hegel und nicht Hegel über Marx“ zu verstehen.

Dass ein vorbildlich Woker aus der SPD wie der Ex-OB von Düsseldorf Geisel in Wagenkechts Partei eingetreten ist, überrascht nicht – nur einen Moment, dass Stefan Grüll aus der FDP „die programmatisch strategische Ausrichtung“ des BSW „in einem zeitgemäß fortgeschriebenen sozial-liberalen Verständnis“ propagiert. Beide kannten Klaus-Rüdiger Mais Befund nicht, der Geisel nicht stören dürfte und Grüll noch heimsuchen wird:

Im linken Spektrum fällt sie zwischen den vielen postmodernen Schwätzern auf, zu denen sie häufig im krassen Widerspruch steht. Letztlich jedoch vermag sie nicht, die Ideologie des Marxismus hinter sich zu lassen, denn auch ein kreativer Sozialismus bleibt ein Sozialismus.

Die alten Parteien haben sich in der postmodernen Mitte versammelt und schließen dort die Augen vor dem globalen Wechsel, der im Westen fundamental ist. Auf der Suche nach Hilfe bleibt Bürgern, die nach ihrem Normal suchen, nur noch die AfD, nach Mai aber nicht als Alternative, „sondern als schlichte Notwehr“. Die deutsche Linke kümmern jene nicht mehr, für die sie früher Politik gemacht hat, die Arbeiter und Angestellten. In diese Lücke stieß die AfD, dorthin folgt ihr Wagenknecht und behauptet, das kann ich besser. Der Ausgang dieses Wettbewerbs ist offen.

Geisel und Grüll widme ich stellvertretend für andere Abtrünnige des Parteienstaats, als die sie nicht erscheinen wollen und deshalb Zuflucht zum BSW suchen, zwei Mai’sche Absätze:

Sahra Wagenknecht ist die Zauberin, die die Vergangenheit zur Zukunft verklärt. Der orthodoxe Marxismus gewinnt wieder an Boden – und Sahra Wagenknecht ist seine Lichtgestalt.

Ihre Anhänger finden sich auf linker wie auf rechter, auf sozialistischer und auf konservativer Seite des politischen Spektrums, selten übrigens bei wirklich Liberalen, die nichts mit den Lindner-Liberalen gemein haben.

Mai zitiert Antonio Gramsci: »Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, d. h. nicht mehr ›führend‹, sondern einzig ›herrschend‹ ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, dass die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: In diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.« Zur Autoimmunerkrankung des Westens, dem Postmodernismus, sagt Mai. Damit hat der Autor den Leser, wo er ihn hinhaben will: im Aufwachraum der Repressivität der 2000er-Jahre nach der Schein-Progressivität der Siebziger.

WIRTSCHAFT, HORATIO, WIRTSCHAFT
Sahra Wagenknecht: Hoffnungsträgerin oder Blenderin?
Kein Wunder, dass Wagenkecht Aufmerksamkeit findet in einer Wirklichkeit, die Mai so bebildert: „… intellektuelle Langweiler, Oberlehrer, die in jedem Tag, der anbricht, nur den Tag ihrer Apotheose wittern, sprachpolizeiliche Erbsenzähler, gesinnungsethische Dampfplauderer und woke Tartuffes, deren gemeinsame Befähigungen lediglich darin bestehen, einen Sprechzettel vollkommen zu verkörpern und selbst tausendmal gehörte Phrasen als eigenen spontanen Einfall wiederzugeben.“

Wer Wagenknecht als neue Sozial-Liberale interpretiert, hat auch nachträglich nicht realisiert, wie früh auch die FDP-Linke, nicht nur die der SPD Richtung Wokismus zog. Dazu bei Mai dies:

Allerdings empfand die junge Sahra Wagenknecht wie die westdeutschen Linken und Linksliberalen die Friedliche Revolution in der DDR als Sieg der Konterrevolution – und dürfte es – gewählter ausgedrückt inzwischen – immer noch so sehen. Darin stimmt sie mit den Postmodernen überein, die eben die Friedliche Revolution als Beleidigung und die Wiedervereinigung als narzisstische Kränkung wahrgenommen hatten. Was sie als Marxistin von den Postmodernen hingegen unterscheidet, ist, dass sie die Vielgestalt linken Denkens nicht im gefälligen und selbstzerstörerischen Postmodernismus, der Chimäre, die sich mal identitätspolitisch, dann wieder postkolonial ausgibt oder sich in den Räuschen der Critical Race Theory, der Social Justice Bewegung, der Gender Studies oder der Queer Theory rekelt, nicht gegen ihren Marxismus eintauscht, einen Marxismus, der sehr stark von Georg Lukács und daher auch von Georg Wilhelm Friedrich Hegel geprägt ist.

Klaus-Rüdiger Mai wird mir meine Kurzfassung gestatten: Wagenknecht ist der intellektuell gepflegte Weg in den Wokismus-verbrämten Milliardärs-Kommunismus. Der sich damit ästhetisch angenehm vom proletisch-woken Kindskopf-Grünismus abhebt. Aber eben nur ästhetisch.

Sahra Wagenknecht war zwischen 15 und 20 Jahre alt, als die DDR implodierte. Den Herbst 1989 nennt sie ihre schlimmste Zeit. Habeck und Baerbock erleben nun auf ihren Thronen ihre schlimmste Zeit. Damals war, heute ist Konterrevolution.

Werte Leser, Autor Mai führt sie von der damaligen Konterrevolution durch die Merkel’sche DDR-Wiederkehr in die Konterrevolution von heute. Folgen sie ihm. Einsichten in Zusammenhänge und Hintergründe kann ich Ihnen ebenso versprechen wie Blicke auf Personen und Handlungen, die Ihnen so unbekannt gewesen sein dürften wie mir.

Denen, die sich für Linksliberale halten, widme ich ein Gedicht von Rainer Maria Rilke aus dem Jahr 1903.

Der Panther

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Klaus-Rüdiger Mai, Die Kommunistin. Sahra Wagenknecht: Eine Frau zwischen Interessen und Mythen. Europa Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 288 Seiten, 24,00 €.


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Kommentare ( 12 )

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LiKoDe
7 Monate her

Frau Wagenknecht ist wie auch andere nach der Auflösung der DDR sowie der Auflösung aller marxistischen akademischen Institute der Akademie der Wisenschaften (AdW) und dem allmählichen Zerfall der SED-PDS-Linke einfach eine Einzelgängerin. Da es schon in der DDR sowie der SED zu wenige wirkliche Marxisten gab, wie Lothar Bisky einst anmerkte, sind Marxisten wie Wagenknecht auf sich selbst gestellt. Es gibt aufgrund der Auflösung der marxistischen akademischen Institute der AdW ja auch keine philosophische Auseinandersetzung und Anleitung mehr. Wagenknecht wird einige Zeit gebraucht haben, um zu erkennen, dass es in der alten BRD erst recht keine Marxisten gab und die,… Mehr

Nibelung
7 Monate her

Sagen wir mal so, da haben sich zwei auch privat getroffen und verbunden im gleichen sozialistischen Geiste, die eine Seite aus der reaktionären katholischen Soziallehre heraus und die andere Seite über die kommunistische Sozialisation und Gegenheilslehre, was zwar im Grundgedanken gewisse Paralellen aufweist, aber in der Praxis nicht durchführbar ist, was man auch an den unterschiedlichen Experimenten der Übersetzung sehen kann und denoch zu keinem Ergebnis führt, weil die Fundamente völlig konträhr sind. Das bezieht sich nicht nur auf zwischenmenschliche Beziehungen sondern auch auf die Wechselwirkung im politischen Alltag, wo man sich sicherlich auch nicht immer grün ist und ein… Mehr

Vallis Blog
7 Monate her

Das Alte stirbt und das Neue kann nicht zur Welt kommen. Anders herum: Der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist nur übrig geblieben. Oder noch eine Phrase: It’s the economy, stupid! Das Neue hat auf the economy keine akzeptablen Antworten. Das Alte kann so nicht weiter machen. Marx analysiert nur und löst ganz genau NICHTS.

margit-kaestner
7 Monate her

Medial wird Frau Wagenknecht als letztes Bollwerk gegen die AFD aufgebaut, als Verkörperung des linken Zeitgeistes, der durch alle Parteien wabert. Nach 16 Jahren Merkel reicht es.

Kassandra
7 Monate her
Antworten an  margit-kaestner

Mir kam eine Garde aus 3 Menschen gleicher Herkunft vor Augen:
Merkel für die union, KGE für die grünen und nun halt Wagenknecht, bei der man wohl annimmt, dass sie in den größeren politisch-medialen Erfolg geschrieben werden könnte – ohne dass die Gesellschaft davon profitieren würde.
Und der „Souverän“ merkt es nicht!
Zumal die Frage, wohin auch sie mit Deutschland will, unbeantwortet bleibt.

Haeretiker
7 Monate her

Die von Mai beschriebenen „… intellektuelle[n] Langweiler … “ sind das Personal, zu der übrigens auch die Wagenknecht selbst zählt, welches die Exekution der Leistungsbereiten und -fähigen vollziehen soll. Wagenknecht ist die Einzige die das nicht weiß.

Johann Thiel
7 Monate her

Nicht nur aus der Sicht des Historikers ein bestimmt interessantes und gehaltvolles Buch, aber ob Sahra Wagenknecht, Hegel über Marx oder Marx über Hegel versteht, erscheint mir als Frage derart akademisch, wie auch die ganze intellektuelle Auseinandersetzung mit „dieser Frau“ (wieder so eine) einfach nur absurd. Es ist doch zum Haare raufen, wer heutzutage etwas auf sich hält ist „Marxist“ oder war zumindest mal einer, oder hat sich wenigstens gefühlt, sein halbes Leben mit diesem Struwwelpeter (auch geistigen) beschäftigt. Und so wandeln wir zusammen mit Sahra Wagenknecht, Karl Marx und Rosa Luxemburg der Abenddämmerung entgegen, mit der Aussicht auf baldige… Mehr

Michael Theren
7 Monate her

grossartiger Beitrag…bleibt zu hoffen das niemand auf das Duo Wagenknecht Lafontaine hereinfällt, ob aus Vorsatz oder Ignoranz, stets haben sie seit Jahrzehnten Veraenderungern verhindert…

Peter Pascht
7 Monate her

Zara Wagenknecht ist ein 100% SED Kommunistin, erzogen als Komsomolisttin auch wenn sie die Menschen zu täuschen versucht. Was die Katze gebiert, das Mäuse frisst. Selbst ihren richtigen Vornamen verleugnet sie uns. H.M. Border nannte sie einmalsüffisant „die marte Sarah“ Es ist alles was sie erzählt schlichtweg nur unsinniges Zeug, mit dem sie offenbar eine politische Lücke entdeckt, den Zeitgeist-Troll. Auf mich wirkt ihre gespielte Unwahrhaftigkeit nur abstoßend, denn es die Unwahrhaftigkeit des kommunistischen Systems in dem sie erzogen wurde. Etwas anderes kann sie nicht. Deie Frau ist eine verlogene Heuchlerin wie Merkel. Im Frühsommer 1989 trat sie der SED,… Mehr

Last edited 7 Monate her by Peter Pascht
Franz Grossmann
7 Monate her

Ich finde es völlig abwegig, diese Lady als mögliche politische Führungsfigur hochzuschreiben. Sie hockt, ähnlich wie ihr greisenhafter Mann, schon immer in irgendwelchen politischen Ämtern, ohne jemals etwas konkretes gearbeitet zu haben. Ihre bisherigen Theorien sind kompletter Unsinn. Sie ist aktuell nur deswegen populär, weil sie der AfD einige Themen geklaut hat. Die Mainstreammedien jubeln sie hoch, weil sie der AfD evtl. Stimmen wegnimmt.

Kassandra
7 Monate her
Antworten an  Franz Grossmann

Ihr Abstimmungsverhalten im Parlament spricht wohl ähnlich Bände wie das eines Kubicki.
Aber wer betrachtet sich, bei der einen wie beim anderen, schon solches. Es könnten einem ja dann Schuppen von den Augen fallen!

Raul Gutmann
7 Monate her

Frau Wagenknecht ist eine ähnlich Rosa Luxemburg persönlich der Bürgerlichkeit verbundene Persönlichkeit. Die daraus resultierenden Widersprüchlichkeiten gleicht sie in ihrem persönlichen Umfeld aus.
Leider verspricht ihre politische Botschaft für ihre Anhänger/Wähler wenig Besserung