Nabokov wies in seiner berühmten Gogol-Studie die Ansicht zurück, „Tote Seelen“ sei ein reformerisches Werk. Tatsächlich erinnert der Stil des Romans eher an den klassischen Schelmenroman. Indes zeichnet er ein Bild des maroden sozialen Systems im nachnapoleonischen Russland
Ich habe Gogols einzigen Roman „Tote Seelen“ immer geliebt, wegen seiner grenzenlosen Phantasie, seines Reichtums an grotesken Details, seiner maßlosen Übertreibungen. „In Russland, wo alles, was es gibt, vorzieht, in die Breite zu gehen, sowohl Berge, Wälder und Steppen, als auch Lippen, Gesichter und Beine.“
Gogol lässt seine Protagonisten genauso reden und agieren. Der Gutsbesitzer Nosdrjow erzählt über seine Trinkgewohnheiten: „Einen Champagner hatten wir – was ist der vom Gouverneur dagegen? Der reinste Kwas. Stell dir vor, keinen Clicquot, sondern einen Clicquot-Matradura; das ist ein Doppel-Clicquot! Was haben wir gesoffen! Ob du´s glaubst, oder nicht, ich allein hab‘ beim Essen siebzehn Flaschen Champagner getrunken!“ Darüber konnte ich immer wieder lachen.
Beim Wiederlesen heute bleibt mir allerdings das Lachen im Halse stecken. Immer wieder lese ich die letzten Zeilen des Romans, den berühmten Troika-Satz: „Russland, wohin nur stürmst du? Gib Antwort! Es gibt keine Antwort. Es donnert die in Stücke zerrissene Luft, sie schwillt an zum Wind; alles auf Erden fliegt vorbei und mit scheelem Blick treten die andern Völker und Reiche beiseite und geben den Weg frei.“
Gogol – ein Prophet? Hat er die Geschichte Russlands voraussehen können?
Diese Frage kann ich natürlich nicht beantworten. Aber Gogols ganzer Erzählkosmos in den „Toten Seelen“ bringt mir die Entwicklung der russischen Gesellschaft im 19. Jahrhunderts näher. Keineswegs wollte er Kritik an den sozialen Umständen, wie etwa der Leibeigenschaft üben, ihm ging es um Moral. Mit scharfem Blick seziert er menschliche Schwächen. Er verspottet „die Banalität der Welt, von der sich der Mensch derart umflechten und umwickeln lässt, dass von ihm selbst nichts mehr übrigbleibt. Und wenn du zu seiner Seele vordringen willst, gibt es sie nicht mehr. Ein versteinerter Brocken.“ So in seinen Entwürfen zum Roman.
Wir sind an einem Sommertag im Jahr 2008 die einzigen Besucher. Eine ukrainische Kuratorin mit geblümtem Umhängetuch führt uns in das Arbeitszimmer Gogols. Hier erzählt sie uns ehrfurchtsvoll von Kindheit und Jugend des großen Dichters. Über die Hänseleien seiner Mitschüler auf dem Gymnasium, die ihn als „sonderbarer Zwerg “ verspotteten, der aber trefflich seine Mitschüler und Lehrer nachahmen konnte. In seinen Werken bediente er sich immer wieder ukrainischer Märchen, Teufelslegenden, die er Zeit seines Lebens sammelte. Das Ukrainische soll er beherrscht haben. Erst durch Gogol fand ukrainische Folklore Aufnahme in die Literatur.
Zwanzigjährig zog es ihn in die Hauptstadt, nach St. Petersburg, er wollte Alexander Puschkin begegnen, sich in den Salons mit Gleichgesinnten austauschen, denn er fühlte sich zum Dichter berufen.
Seine ersten Erzählungen wurden von der Kritik verrissen, er verbrannte sie kurzerhand und verließ fluchtartig die Stadt. Überstürzte Aufbrüche, rastloses Hin- und Herreisen zwischen Russland und Westeuropas mondänen Metropolen und Kurorten kennzeichnen seinen Lebensweg. Die Postkutsche wurde zu seiner Schreibstube. Er wolle „Russland aus der Ferne sehen, erst von Westeuropa aus könne er Russland in seiner ganzen Weite richtig erfassen“, schrieb er 1836 in einem Brief an Michail Pogodin, einem bekannten Historiker.
Er lässt sich für längere Zeit in Rom nieder, hier entstanden auch große Teile der „Toten Seelen“. Bei der Veröffentlichung des Werkes 1842 in Moskau und St. Petersburg hatte er wegen des Titels Schwierigkeiten mit der zaristischen Zensur, er wurde der Blasphemie verdächtigt: Wie können „Seelen“ denn tot sein, wenn die Kirche ihre Unsterblichkeit predigt! Aber Ende des Jahres 1843 konnte „Tote Seelen“ unter dem Titel: “Die Abenteuer Tschitschikows oder Die toten Seelen. Ein Poem“ erscheinen.
Leibeigene waren wie Güter, die man willkürlich verkaufen oder verpfänden konnte. Für die Festlegung der Steuer mussten Gutsbesitzer in jenen Jahren sogenannte „Revisionslisten“ führen, in denen sie über ihren Besitz an Leibeigenen – den Seelen – Auskunft gaben und zum Zahlen verpflichtet wurden. Da diese Revisionslisten aber nur selten erneuert wurden, kam es häufig vor, dass auch für inzwischen Verstorbene noch Steuern entrichtet werden mussten. Der geschäftstüchtige Tschitschikow trägt nun die Namen der verstorbenen Seelen in seine Geschäftslisten ein und befreit den Gutsherren auf diese Art vor weiteren Steuerzahlungen.
Wie Gogol nun die verschiedenen Gutsbesitzer beschreibt, die der Tschitschikow auf seinen Kutschfahrten besucht, ist schon allein die Lektüre des Romans wert. Er teilt ihnen sprechende Nachnamen zu, so zum Beispiel „Korobotschka“ – Schachtel, für die „Hausherrin im vorgerückten Alter, die den Kopf immer etwas schief hält, derweilen aber unmerklich Geld in bunt gemusterten Leinensäckchen anhäuft, die sie in ihren Kommodenschubladen verwahrt“.
„Sobakewitsch“ – der Hundemann, für den „täppisch umhertapsenden und immer auf fremde Füße tretenden Gutsbesitzer.“
„Pluschkin“ – Plüsch, für den völlig verwahrlosten Geizhals, der „alles nach Hause schleppte, was immer er finden konnte: eine alte Schuhsohle, einen Weiberfetzen, einen Eisennagel, eine Tonscherbe.“
Vladimir Nabokov spricht von wahren „Namensorgien“, mit denen Gogol Menschen und auch Gegenstände charakterisiert.
Im Schlusskapitel verlässt Tschitschikow fluchtartig die Provinzstadt. Die Stimmung ist umgeschlagen. Seine Bertrügerein aufgeflogen. Erst jetzt erfährt der Leser in einem längeren Abschnitt von seiner dunklen Vergangenheit. Eine Läuterung Tschitschkows hat Gogol für den zweiten Teil des Romans geplant, dieser ist aber nur in Fragmenten erhalten. Schon aus den Fragmenten geht hervor, dass Gogol immer mehr für sich beanspruchte, auch geistlicher Lehrer des russischen Volkes zu sein. Gegen Ende seines Lebens fühlte er sich zum Missionar berufen. Briefe an Freunde und Aufsätze zu moralischen und sozialen Fragen werden immer einförmiger und langweiliger. Sein Freund und späterer Literaturkritiker Wissarion Belinski sprach von Gogol als einem „Prediger der Knute“.
Er starb 1852 im Alter von nur 43 Jahren als gebrochener, geistig verwirrter Mann an den Folgen übermäßigen Fastens. Das vermutlich druckfertige Manuskript des zweiten Teils hatte Gogol kurz vor seinem Hungertod im Ofen verbrannt. Sein Beichtvater, ein Puschkin-Hasser, hatte ihn dazu angestiftet.
Die „Toten Seelen“ lösen in mir einen seltsamen Reiz aus: über das Russland, das „in beständigem Halbdunkel dahinliegt“ (Nabokov) möchte ich weinen, und denke an das heutige Russland. Über Gogols meisterhafte Verflechtung von Alltäglichem, Banalem und im wahrsten Sinne des Wortes „Wunderbarem“ kann ich immer von Neuem nur staunen.
Christiane Bauermeister absolvierte Ihr Studium der Slawistik an der FU Berlin und ein Graduiertenstipendium des DAAD an der Universität Leningrad. Seit 1978 ist sie freiberuflich als Projektleiterin, Kuratorin, Film- und Buch-Autorin mit dem Schwerpunkt Russland tätig.
Nikolai Gogol, Tote Seelen. Roman. Neu übersetzt von Vera Bischitzky. Mit einem Nachwort von Barbara Conrad. dtv, 640 Seiten, Taschenbuchausgabe, 14,90 €.
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Die Russen sehen sich selbst kulturell schon seit mindestens 1000 Jhren in einer permanenten Opferrolle, gepaart mit einer gewissen überzogenen Geltungsssucht die immer wieder durchschlägt. Erst wurde der enge verbündete Byzanz besiegt, wodurch sich Russland von den damaligen europäischen Mächten gesellschaftlich und religiös isolierte, dann kamen die Mongolen von denen man sich aus eigener Kraft befreite, im 19. Jahrhundert kam dann der Angriff Napoleons, den Russland praktisch als einzige Nation widerstehen konnte, dann kam der Krimkrieg in dem sich Russland erneut isoliert mehreren europäischen Gegnern gegenpüber sah, danach folgte der WK1, durch den das ganze Land zusammenbrach was zur Revolution… Mehr
Ich habe nie geschrieben das die Russen Byzanz angegriffen haben, aber Russland war zur damaligen Zeit eng mit Byzanz verbündet.
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Meine Hochachtung, dass sich Frau Bauermeister traut, auf Tichys Einblick zu publizieren. Das ist im Kulturbetrieb ein schwerer Malus. Vielleicht hängt es- bei allem Respekt- mit ihrem Alter zusammen? Mit 25 ruiniert so etwas die Karriere. Trotzdem gebührt ihr mein Dank, sowohl inhaltlich als auch politisch.