Regulierungen aus Brüssel hebeln Bürokratiebremse aus

Der Einfluss der Europäischen Kommission ist über Regulierungen deutlich gewachsen. Zahlreiche Richtlinien und Verordnungen haben ihren Weg aus Brüssel in die nationalen Parlamente gefunden. Denn die auf Bundesebene seit 2015 geltende Bürokratiebremse (»one in, one out«) gilt für neue Regulierungen aus Brüssel nicht.

Regulierungen sind gesetzliche oder bürokratische Eingriffe in den Wirtschaftsprozess. Um ein Ziel zu erreichen, setzt der Staat keine fi­nanziellen Anreize für ein bestimmtes Verhalten, zum Beispiel durch Subventionen für die Installation von Solarpanels, sondern er verbietet ein Verhalten oder ordnet es an. In Zeiten knapper Kassen hat die Grü­nenvorsitzende Ricarda Lang für mehr Regulierung plädiert, weil der Staat so politische Ziele mit geringen Kosten im Vergleich zu teuren Subventionen erreichen kann. »Wer sparen will, braucht hartes Ord­nungsrecht«, hat sie am 25. August 2022 auf der Nachrichtenplatt­form X wissen lassen.

Die Regulierungen betreffen alle Lebensbereiche. In Sachsen müs­sen die Hauseigentümer in allen Schlafzimmern und Durchgangszim­mern Feuermelder installieren. Autos müssen regelmäßig zum TÜV. In Leipzig dürfen Bootsfahrer an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten den Eisvogel nicht stören. Der Brandschutz, über den Tübin­gens Oberbürgermeister Boris Palmer viel Ärgerliches zu erzählen hat, macht Fluchtwege zur Vorschrift. Das Haltbarkeitsdatum bei Lebens­mitteln soll uns vor verdorbenen Mägen schützen. Die Pizza Napole­tana darf maximal vier Zentimeter dünn sein und einen Durchmesser von höchstens 35 Zentimetern haben. Und besonders spannend ist es im Speisewagen der Deutschen Bahn, wo die Mitarbeiter aus den unterschiedlichsten Gründen einmal dies und ein andermal das »nicht dürfen«.

Der Schutz von Mensch, Tier und Umwelt ist löblich! Allerdings kann das Ziel von Regulierung auch ein anderes sein. Der US-amerika­nische Ökonom George Stigler hat in seiner Theorie der Regulierung argumentiert, dass der Staat mit seiner Macht, zu verbieten oder zu zwingen, einer Vielzahl von Wirtschaftszweigen selektiv helfen bzw. schaden kann. Es ist zwar unbestritten, dass Bauvorschriften unsere Wohnungen sicherer machen. Trotzdem würden weniger Vorschriften wohl auch ausreichen. Unbestritten ist hingegen, dass die Bauvorschrif­ten ein Konjunkturprogramm für Technische Überwachungsvereine, Gutachter, Energieberater oder die Anbieter von Dämmmaterialien sind.

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Regulierungen lassen sich leichter politisch durchsetzen, wenn sie dem Schutz von etwas dienen. Noch besser ist es, wenn Denkfabriken, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, mit Studien die Notwendigkeit öffentlichkeitswirksam bekräftigen. Welcher Politiker will sich dann noch widersetzen? Doch im Wind­schatten der Regulierungen können wirtschaftliche Interessen Einzug in die Gesetzgebung finden. Eine Helmpflicht für Fahrräder würde die Helmindustrie fördern. Eine strenger TÜV unterstützt Autobauer und Autowerkstätten. Druck, die Ersparnisse in grüne Finanzanlagen umzuschichten, freut die Verkäufer der neuen grünen Finanzprodukte. Während Gesetzgebungsverfahren grundsätzlich langsam und träge sind, kann es schneller gehen, wenn in einer Krise die Hütte brennt. Dann schließt der Staat unter Umständen über Nacht den Einzelhan­del und die Gaststätten, was dem Onlinehandel nützt.

Öffentliche Institutionen wie die Finanzmarktaufsicht Bafin, das Umweltbundesamt oder das Potsdam-Institut für Klimafolgen­forschung profitieren, wenn es mehr Regulierungen gibt. Denn es braucht dann mehr Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, um Regulie­rungen zu schaffen, einzuführen, zu überwachen, zu rechtfertigen und anzupassen. Nach der Theorie der Bürokratie von William Niskanen hängen das Gehalt und das Ansehen von leitenden Beamten von der Anzahl der Mitarbeiter und dem Budget der Behörde ab. Der Chef eines großen Finanzamts verdient mehr als der Chef eines kleinen Fi­nanzamts. Oft besetzen Politiker die Leitungspositionen von großen Behörden mit ehemaligen Politikern. So zu Beispiel im Fall von An­drea Nahles, die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit geworden ist.

Behörden können deshalb dazu tendieren, mehr Kompetenzen an sich zu ziehen. Als die Europäische Zentralbank im Jahr 1999 ihre Arbeit aufnahm, war sie nur für die Preisstabilität im Euroraum zustän­dig. Ich habe als Student in der Vorlesung einmal gehört, das könne mit einer einfachen Regel auch der Hausmeister der Zentralbank allein machen. Die EZB kam im Jahr 1999 mit knapp 800 Mitarbeitern aus. Infolge der europäischen Finanzkrise erhielt sie zusätzlich die Aufgabe, mit dem sogenannten Einheitlichen Aufsichtsmechanismus die großen Banken im Euroraum direkt zu überwachen. Zusätzlich zu der deut­schen Bafin in Bonn und Frankfurt am Main, versteht sich.

Christine Lagarde forciert nun auch noch die Rolle der obersten europäischen Währungsbehörde bei der Umwelt- und Klimapolitik. Die Europäische Zentralbank macht neuerdings Klimastresstests mit Banken und richtet den Bestand der von ihr gehaltenen Unterneh­mensanleihen an der Nachhaltigkeit der Unternehmen aus. Schließlich ist es aus der Sicht der Europäischen Zentralbank nicht ausgeschlossen, dass der Klimawandel einen Einfluss auf die Inflation hat. Nach Di­rektoriumsmitglied Isabel Schnabel gibt es eine Klimainflation, eine grüne Inflation und eine fossile Inflation. Also hat die Europäische Zentralbank ein Zentrum für Klimawandel geschaffen, das die Klima­agenda der Europäischen Zentralbank lenken und gestalten soll. Der Rekrutierungsprozess läuft!

 

Anzahl der Mitarbeiter der EZB

So ist die Anzahl der Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank auf 4509 im Jahr 2022 angewachsen. Für deren Arbeits­plätze sind nun statt einem Wolkenkratzer zwei nötig. Zu dem angemie­teten Eurotower in der Frankfurter Kaiserstraße, wo ich noch als Mit­arbeiter ständig mit dem Aufzug auf und ab gefahren bin, gesellte sich ein kostspieliger, ressourcenfressender Neubau im Frankfurter Ostend, der höher als der Kölner Dom ist. Wie beim Kölner Dom über mehrere Jahr­hunderte hinweg wuchsen innerhalb weniger Jahre die Kosten des Turms von ursprünglich geplanten 850 Millionen Euro auf 1,2 Milliarden Euro in den Himmel. Der Personalaufwand für die Gehälter der Mitarbeiter in beiden Gebäuden ist von 52 Millionen Euro im Jahr 1999 auf 487 Millio­nen Euro im Jahr 2022 angeschwollen, was einem Durchschnitt von über 100 000 Euro pro Mitarbeiter entspricht. Das Spannende im Vergleich zu allen anderen Behörden ist, dass die Europäische Zentralbank alle not­wendigen Geldmittel sich einfach selbst bewilligen und drucken kann.

Auch die Europäische Kommission, die einst viele wegen ihres ge­ringen Einflusses nicht richtig ernst nahmen, hat durch die Regulie­rung an Bedeutung gewonnen. Zwar haben die Mitgliedsländer der Europäischen Union nur wenige Politikbereiche wie die Handels- und Agrarpolitik auf die Ebene der Europäischen Union verlagert. Über die Finanzierung der Union entscheiden immer noch die Nationalstaaten, weil es der Union immer noch an größeren eigenen Einnahmequellen fehlt. Doch mit der Regulierung scheint der Einfluss der Europäischen Kommission deutlich gewachsen zu sein.

Seine Botschaft ist global
Javier Milei: Freiheit in Wirtschaft und Gesellschaft
Zahlreiche Richtlinien und Verordnungen haben ihren Weg aus Brüssel in die nationalen Parlamente gefunden. Die Europäische Union kümmert sich nicht nur um die Krümmung von portugiesischen Gur­ken, Nagelfluh-Sitzbänke in den schönen Allgäuer Voralpen oder die Herkunft der Zutaten in Nürnberger Lebkuchen, sondern seit 2019 auch um die Klimaneutralität des Kontinents. Diese Herkulesaufgabe ist dabei nur eine von sechs selbst gesteckten Prioritäten. Die Euro­päische Kommission hat es sich unter anderem auch zum Ziel gesetzt, Europa stärker und digitaler zu machen sowie die Wirtschaft in den Dienst der Menschen zu stellen.

Aus der Sicht von Interessengruppen könnte es deshalb reizvoll sein, in mehr Einfluss auf die Europäische Kommission zu investieren. Denn in Deutschland gibt es auf Bundesebene seit 2015 eine Büro­kratiebremse. Nach dem Prinzip »one in, one out«, muss für jede neue Regulierung eine alte weichen. Für neue Regulierungen aus Brüssel gilt die Bremse allerdings nicht. Für eine Interessengruppe ist der Vor­teil ohnehin größer, wenn eine Nutzungspflicht wie bei Feuermeldern nicht nur für Deutschland, sondern gleich für alle 27 Mitgliedsländer gilt. Man sagt auch, dass der Widerstand der Öffentlichkeit gegen poli­tische Entscheidungen in Brüssel geringer ist. (…)

Der Einfluss der Europäischen Union auf unser Leben hat sich so in den letzten Jahren deutlich ausgeweitet. Die Europäische Union hat nicht nur konventionelle Glühbirnen, Plastikstrohhalme und Plastik­besteck verboten. Das Europäische Parlament hat beschlossen, dass ab dem Jahr 2035 Neuwagen mit Verbrennermotoren verboten sein sol­len. Die Europäische Union zahlt große Subventionen an die Land­wirte, wobei sie die Hilfen an Bedingungen zum Umwelt-, Klima-, Landschafts- und Tierschutz knüpft. Landwirte sollen 20 Prozent ihrer Flächen für die Renaturierung zur Verfügung stellen. Eine neue ge­plante EU-Regelung für Pflanzenschutz sieht vor, dass in geschützten Gebieten Pflanzenschutzmittel verboten sind. Das komme einem Ver­bot des Weinanbaus auf mehr als 30 Prozent der deutschen Weinan­bauflächen gleich, klagt der deutsche Weinanbauverband. (…)

Und da ist noch das Lieferkettengesetz, genauer gesagt das »Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten«, das in der deutschen Version am 1. Januar 2023 trotz eines Brandbriefs der Unternehmen in Kraft getreten ist. Es soll laut dem Bundesministe­rium für Arbeit und Soziales sicherstellen, dass die globalen Lieferket­ten deutscher Unternehmen die Menschenrechte respektieren. Dazu gehören der Schutz vor Kinderarbeit, das Recht auf faire Löhne und der Schutz der Umwelt. Unternehmen mit über 3000 Mitarbeitern sollen ein Risikomanagement einrichten, regelmäßige Risikoanalysen durchführen, Grundsatzerklärungen abgeben, Präventionsmaßnah­men verankern, Abhilfemaßnahmen ergreifen, Beschwerdeverfahren einrichten sowie – ! – das Lieferkettenmanagement dokumentieren und Bericht erstatten.

TICHYS LIEBLINGSBUCH DER WOCHE
Eine Zeitreise durch Deutschlands Wirtschaftspolitik
Die WirtschaftsWoche titelte »Bürokratie pur«. Auch deshalb, weil es keine Klarheit gebe, was konkret zu tun sei. Sicher sei hingegen, dass das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, kurz Bafa, dass das Lieferkettengesetz mit 50 zusätzlichen Stellen am Standort Borna in Sachsen kontrollieren soll, mit seinem Fragenbogen mit allein 427 Antwortpositionen weit über die gesetzgeberischen Anforderungen hi­nausgehe. Ein Unternehmensvertreter kommentierte, dass diese Büro­kratie keinen Bezug zur unternehmerischen Praxis habe. Nur für klage­freudige NGOs, Anwaltskanzleien und Beratungsfirmen sei das Gesetz »Weihnachten und Ostern zugleich«. (…)

Wollen Sie noch mehr zu dem Thema lesen? Seit Oktober 2023 ist der sogenannte Klimazoll der Europäischen Union angelaufen. Der Zoll soll ab 2026 erhoben werden. Er soll einen Ausgleich dafür schaf­fen, dass die Europäische Union den Ausstoß von CO2 besteuert, viele andere Länder, aus denen die EU importiert, hingegen weniger oder gar nicht. Der Klimazoll gilt zunächst für Zement, Eisen/Stahl, Alu­minium, Dünger, Wasserstoff, Elektrizität und chemische Produkte, wobei sich die Höhe aus der Differenz der CO2-Bepreisung in der EU abzüglich der CO2-Bepreisung im Ursprungsland der Importe ergibt. Dieses »Meilenstein-Werkzeug« solle Produkten mit hohem CO2-Ge­halt von außerhalb der Europäischen Union, wenn sie in die Europäi­sche Union importiert werden, einen »gerechten« CO2-Preis geben, so die Europäische Kommission.

Die betroffenen Unternehmen müssen schon ab Oktober 2023 die bei der Herstellung ausgestoßenen Treibhausgase importierter Pro­dukte erfassen. Das gelte für direkte Emissionen und indirekte Emissio­nen wie den für die Produktion verwendeten Strom. Die Verordnung der Europäischen Kommission für diese Erfassung hat mit Anhängen über 100 Seiten. Der Leitfaden für die Importeure und jener für die Produzenten aus Drittländern sind zusammen über 360 Seiten dick.

Während die Europäische Kommission in der »Regulierungsfolgeab­schätzung« zu überschaubaren Kosten kommt, sprach der Geschäfts­führer des Verbandes der Chemischen Industrie in Deutschland von »bürokratischem Wahnsinn«, dessen klimapolitischer Erfolg mehr als zweifelhaft sei. »Nachweispflicht bis zur letzten Schraube: Klimazoll macht Unternehmen fassungslos« titelte der Focus.

Der Regulierung scheint also insbesondere auf der Ebene der Euro­päischen Union begünstigt durch den Klimaschutz wenig Grenzen ge­setzt, auch wenn im Jahr 2023 in Deutschland eine Diskussion um die Nachteile einer wuchernden Bürokratie eingesetzt hat. Bundeskanzler Olaf Scholz hat die gängelnde Bürokratie beklagt, auch wenn er diese uns allen zugeschrieben hat: »Wir haben es mit einer hinderlichen Bürokratie zu tun, die, wie schon gesagt, von uns allen gemeinsam über viele Jahrzehnte mit viel Liebe zum Detail geschaffen worden ist und die uns nun hemmt«, sagte er in einem Interview, in dem er sich gleichzeitig Sorgen über einen wachsenden Arbeitskräftemangel macht.

Leicht gekürzter und um die im Buch enthaltenen Fußnoten bereinigter Auszug aus:
Gunther Schnabl, Deutschlands fette Jahre sind vorbei. Wie es dazu kam und wie wir ein neues Wirtschaftswunder schaffen können. FBV, Hardcover mit Überzug, 320 Seiten, 25,00 €.


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