Rausch der Bevormundung

Der Alkoholgenuss und seine Feinde – diese Geschichte ist auch in Deutschland noch lange nicht zu Ende geschrieben.

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Rund hundert Jahre ist es her, als die USA „mit der größten Unmoral aufzuräumen“ gedachten, nämlich dem Genuss alkoholischer Getränke. Im Alten Europa hatte man bereits an der Türschwelle der Moderne, nämlich 1495, Ähnliches probiert. Maximilian I., Oberhaupt des römisch-deutschen Reiches, verkündete ein totales Trinkverbot für seine Untertanen. Verschiedene Reichstage erneuerten die Prohibition – doch, ach, sie wollte sich einfach nicht durchsetzen.

Volkserziehungs-Rausch

Daher versucht man es heute nicht mehr so grundsätzlich. Statt mit der Tür ins Haus zu fallen, will man über Ermahnungen „Bewusstsein schaffen“ und setzt hier und da eine kleine Regulierung um. Alkoholverbote auf öffentlichen Plätzen und in Nahverkehrsmitteln, Verbote von Flatrate-Tarifen in Gaststätten, paternalistische Präventionskampagnen, Debatten über Null-Promille-Grenzen für Autofahrer oder Forderungen nach Maßnahmen gegen „Koma-Saufen“. Warum nicht auf Flächen der Stadt München neben „sexistischer“ Reklame auch noch gleich Werbung für Alkohol oder – Weißbier ist Grundnahrungsmittel – zumindest für Schnaps verbieten, wie im dortigen Stadtrat während des Oktoberfests debattiert?

Ostern 2017 wurde sogar bei einem deutschen Fußballspiel (dem Derby Hannover 96 gegen Eintracht Braunschweig) im Stadion nur alkoholfreies Bier ausgeschenkt – aus Sicherheitsgründen, wie es hieß. „Alkohol ist bei öffentlichen Großveranstaltungen wie Fußballspielen eine Seuche“, urteilte bereits im Vorjahr der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). Damit steht er in der langen Tradition derjenigen, die Fehlverhalten auf das Wirken einer Substanz zurückführen, statt die Verantwortung des Einzelnen ernst zu nehmen. Gewalt, Kriminalität, Familienelend oder auch Verkehrsunfälle werden pauschal auf den Alkohol geschoben.

„Die positiven Wirkungen des Konsums, z.B. Entspannung oder Geselligkeit, unter den Tisch gekehrt.“

Doch der behauptete kausale Zusammenhang von Suff und Verbrechen lässt sich nach wie vor nicht belegen. In den USA der vorletzten Jahrhundertwende engagierten sich christliche Frauenverbände für die Alkoholprohibition, weil sie sich nicht trauten, die häusliche Gewalt durch prügelnde Männer zu thematisieren. Und aus Schlägern wurden Opfer des Trunks, bemitleidenswerte hilflose Kreaturen statt selbstbestimmter Individuen, die man auf ihr Handeln ansprechen und dafür zur Verantwortung ziehen kann. Heute sind es besinnungslose Jugendliche und Suchtklinikinsassen, für die man den Sündenböcken Bier, Schnaps und Wein die Schuld gibt. Umgekehrt werden die positiven Wirkungen des Konsums, z.B. Entspannung oder Geselligkeit, unter den Tisch gekehrt und sollen in der Wahrnehmung möglichst überschattet werden vom Randphänomen des Alkoholismus, um dadurch der Alkoholbekämpfung Auftrieb zu verleihen.

Dem amerikanischen Abhängigkeitsexperten Stanton Peele zufolge führen aber gerade in „alkoholfreundlicheren“ Ländern, etwa im südlichen Europa, die kulturellen Akzeptanzmuster von Kindheit an zu einem kompetenteren und weniger gesundheitsgefährdenden Umgang mit alkoholischen Getränken. Preiserhöhungen führen denn auch nicht zu weniger Alkoholismus, vielmehr hatten Preissenkungen in skandinavischen Ländern weniger Probleme zur Folge. Die Dämonisierung des Alkohols, so sein Fazit, schadet mehr als sie (vermeintlichen) Nutzen bringt.

Was die oben angesprochenen Fußballspiele betrifft, so hat die Uefa dieses Jahr das Trinken bei Champions-League- und Europa-League-Spielen auf deutschem Boden wieder gestattet. Manches lässt sich eben nicht so einfach dekretieren. In Baden-Württemberg wurde sogar eine landesweite Einschränkung wieder abgeschafft: Der Verkauf alkoholischer Getränke im Handel nach 22 Uhr, z.B. an Tankstellen, der ab 2010 verboten war, wurde Ende 2017 wieder erlaubt. Als dies untersagt war, sei einer Studie zufolge dadurch die Zahl der Alkoholvergiftungen bei jungen Leuten um sieben Prozent zurückgegangen – allerdings waren bundesweit, also nicht nur im Ländle, 2013 die einschlägigen Krankenhausbehandlungen von Kindern und Jugendlichen sogar um 13 Prozent gesunken. Davon abgesehen: Bei dem überwiegenden Teil dieser Krankenhauseinlieferungen handelte es sich um Vollräusche, die der Nachwuchs früher noch einfach zu Hause ausgeschlafen hat.

Obergrenzen

Weit unterhalb der Rauschschwelle liegen die als gesundheitlich unbedenklich empfohlenen Mengen reinen Alkohols. Solche Leitlinien existieren in vielen Ländern. Für Deutschland setzt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) das Limit bei täglich 20 Gramm für Männer fest, Frauen sollen sich mit zwölf Gramm begnügen. Selbst die puritanisch geprägten USA gewähren mit 28 Gramm eine größere Menge. In Spanien kommt es auf den Standort an: Für Kastilien mit der Hauptstadt Madrid gilt ein Wert von 30 Gramm, während für Katalanen (aus der Gegend um Barcelona) selbst 70 Gramm unproblematisch sind.

„Trinkfreude soll durch Einheitenzählen ersetzt werden wie Essgenuss durch Kalorienzählen.“

Der Volksgesundheits-Apparat in staatlichen Behörden und akademischen Elfenbeintürmen operiert ansonsten mit „Einheiten“ Alkohol, die ebenfalls umständliche Kalkulation erfordern. Dabei wird zeigefingerschwingend mitgeteilt, wie viel noch gerade so gestattet ist, und mit ein paar Gläsern an einem Abend ist man schnell ein „Binge-Drinker“ (früher: jemand, der auch mal ein Gläschen trinkt), der nicht „risikoarm“ konsumiert. Trinkfreude soll durch Einheitenzählen ersetzt werden wie Essgenuss durch Kalorienzählen.

2018 propagierte eine britische Studie ein Maximum von 100 Gramm pro Woche für unbedenklichen Trunk und fand dabei im Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und zahlreichen Massenmedien – wie so oft bei derartigen Themen – unkritische Claqueure. Die gewonnenen Daten geben das aber nicht her, von den Beschränkungen solcher Studien ganz abgesehen. Interessanterweise geht nach dem Stand der Forschung aber die Totalabstinenz gegenüber maßvollem Konsum mit einem höheren Sterblichkeitsrisiko einher. Sollten dann nicht konsequenterweise gesundheitlich erforderliche Alkohol-Mindestmengen festgelegt werden? Oder man sieht ein, dass mündige Menschen für die einfachen Dinge des Lebens keiner amtlichen Anleitung bedürfen.

Rausch der Volkserzieher

Hinter dem Feldzug gegen das Trinken stehen oftmals Organisationen mit einschlägiger Kontinuität: Etwa der Guttempler-Orden, eine Abstinenzlersekte, die bereits ab dem 19. Jahrhundert in den USA tätig war und im Hier und Jetzt Einfluss auf die politischen Vorstellungen z.B. der staatlich geförderten Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) ausübt. Die DHS war vor mehreren Umetikettierungen ursprünglich als „Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren“ unter dem NS-Reichsgesundheitsführer Ende der 1930er-Jahre gegründet worden.

„Ohne Rücksicht auf nüchterne Fakten regiert man sich in einen Rausch der Bevormundung hinein.“

Restriktive alkoholpolitische Vorhaben aus dieser Ecke fanden vor ein paar Jahren Unterstützung beim Drogen- und Suchtrat der Bundesregierung. International vernetzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) diverse einschlägige Organisationen, wie die Guttempler, Eurocare (mit Beteiligung der DHS und Subventionen der EU), Verbände gesundheitswirtschaftlicher Akteure und weitere Lobbyorganisationen. Dabei wird die Taktik fürs globale Vorgehen und in den einzelnen WHO-Mitgliedsstaaten beraten. Es werden Resolutionen gefasst, die politischen Druck auf die Nationalstaaten ausüben sollen.

Bevormundungs-Rausch

Das totale Werbe- und Sponsoring-Verbot für alkoholische Getränke, ein Verbot des Automatenverkaufs, Warnhinweise auf Getränkebehältnissen und deutlich höhere – nach Alkoholgehalt ansteigende – „Spritpreise“ stehen in diesem Zusammenhang auf der Wunschliste. All dies erinnert an die Bekämpfung des Tabaks, dessen Erfolge Vorbildcharakter für die Trockenheitsapostel haben. Wie beim Tabak wird eine „Denormalisierungs“-Strategie gefahren, die zumindest bestimmte Konsumformen, letztlich aber auch den Genuss alkoholischer Getränke insgesamt, zum abweichenden, minderwertigen Verhalten deklassieren will.

Dabei geht der Alkoholkonsum seit Jahrzehnten zurück, auch bei Jugendlichen. Die Zahl der Verkehrstoten im mutmaßlichen Zusammenhang mit Alkoholkonsum sinkt ebenso seit Jahren. Nicht eine tatsächliche Problemlage, sondern der Hang zur immer kleinteiligeren Einmischung in das individuelle Privatleben leitet die Politik. Ohne Rücksicht auf nüchterne Fakten regiert man sich in einen Rausch der Bevormundung hinein.


Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Auszug aus dem kürzlich vom Autor gemeinsam mit Johannes Richardt herausgegebenen Sammelband „Genießen verboten. Über die Regulierung der kleinen Freuden des Lebens“ (Novo Argumente Verlag 2018).

Christoph Lövenich und Johannes Richardt (Hg.):
Genießen verboten.
Über die Regulierung der kleinen Freuden des Lebens

Genuss erscheint heute als Laster, als unkontrollierbare und behandlungsbedürftige Pathologie. Was steckt hinter diesen Entwicklungen? Wer sind die Akteure? Was steht uns noch bevor? Die Autoren des Sammelbandes hinterfragen die wachsende Regulierung der kleinen Freuden des Lebens.

200 Seiten, EUR 12,00, ISBN: 978-3-944610-53-5, Novo Argumente Verlag 2018

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Kommentare ( 42 )

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42 Comments
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5 Jahre her

„Ohne Rücksicht auf nüchterne Fakten regiert man sich in einen Rausch der Bevormundung hinein.“ Dazu braucht das Regierungs-Verwaltungspersonal keinen Rausch. Das ist deren tägliches Vergnügen. Das GG liefert das Konstrukt zur Entmündigung. Insbesondere die Art 20 ff des GG geben den Parteien die ganze Macht, verschleiert durch den Euphemismus parlamentarische Demokratie. Die Auswirkungen sind fatal: In jeder der 3 Gewalten haben sich die Parteien etabliert, indem fein nach Quote die massgebenden Posten unter den jeweiligen Funktionären verteilt werden. Oft die einzige Qualifikation: das Mitgliedsbuch. Eine Seltenheit: die Besetzung eines wichtigen Einflusspostens durch einen Parteilosen (kommt vor, wahrscheinlichmeistens Alibifunktion oder aber… Mehr

bkkopp
5 Jahre her

Vor 24 Jahren bin ich in einem grossen post-sowjetischen Land einer Gruppe von Public Health-Akademikern begegnet, die nach mehrmonatigen Umfragen und Reisen durch das Land zu dem Schluss gekommen sind, dass mindestens ein Drittel aller Land- und Industriearbeiter über 40 wegen Alkoholismus nicht oder nur sehr eingeschränkt arbeits- und leistungsfähig sind. Von Schweden bis Finnland haben sich auch Generationen damit herumgeschlagen, dass es viel zu viele Alkoholabhängige gegeben hat. In den USA muss es in den Jahrzehnten vor 1919 ähnlich gewesen sein. Ein sehr grosser Teil der erst kurz eingewanderten Industrie- und Landarbeiter hat den Stress der Arbeitswelt der Zeit… Mehr

A. Schmidt
5 Jahre her

Ohne Noilly Prat an vielen Suppen und Saucen, ohne Moscato D’Asti an Sauerkraut oder Desserts gibt es keinen guten Geschmack mehr, wie man ihn aus der Spitzengastronomie kennt! Das möge man mal bedenken!
Viele Deutsche trinken doch höchstens mal zu Weihnachten oder Silvester gerade mal ein Glas Sekt oder etwas Rotwein bei feierlichen Abendessen.
Denen das auch noch verbieten zu wollen, kann man nur als Anschlag auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung ansehen.

W aus der Diaspora
5 Jahre her

Es geht doch schon längst nicht mehr um so simple Verbote wie Alkohol. Im Kern geht es um Demokratie oder Diktatur. Auch das Ende der Kohleverstromung wurde doch wieder allein von Merkel iniziiert. Ja, diesmal hat sie zuerst eine Kommission eingesetzt, aber mit ausgewählten Personen, so dass nur das dabei herauskommen sollte was sie von Anfang an wollte. Der Bürger, vor allem in Deutschland wird mit unsinnigen Aussagen beschäftigt, so dermaßen, dass er den Kern nicht mehr sieht. Täglich wird eine neue „Sau“ durchs Dorf getrieben. Mal sind es Fahrverbote in Großstädten, mal ein Volksbegehren für die Bienen. Mal ein… Mehr

Oberbayer
5 Jahre her

Oder auf Lichtnahrung umsteigen. Das führt auch zum sozialverträglichen Frühableben.

Olivia
5 Jahre her

Wir saufen nicht mehr, heute nimmt man Ischias…

Oberbayer
5 Jahre her

Ja, noch eins. Ich ware noch auf die Erfindung des ultimativen Somas ala Schöne Neue Welt. Diese Droge wird dann bestimmt von der Obrigkeit begrüsst und die Einnahme gefördert werden.

Karli
5 Jahre her
Antworten an  Oberbayer

Gibt es schon lange. Gibt es zur OP-Vorbereitung. Ein Beispiel ist Dormicum.

Alexis de Tocqueville
5 Jahre her
Antworten an  Karli

Gibt es aber nur auf Rezept. Wann beginnt endlich die Förderung?

Oberbayer
5 Jahre her

Ich selbst trinke keinen Alkohol, da mein Körper sehr empfindlich darauf reagiert. Ansonsten sehe ich den Bemühungen, die Genuss von Alkohol von oben herab zu demonisieren und einzuschränken zu versuche, als eher schädlich. Alkoholische Getränke sind ein jahrtausende altes Kulturgut und bis in die Anfänge der Zivilisation rückverfolgbar(vor allem die Bierherstellung).
Daneben liegt es in der Verantwortung eines jeden Individuums, mit Genussmitteln klarzukommen. Trotzdem brauchen wir weiterhin, da es doch immer Kontrollverluste gibt, Einrichtungen, um Menschen mit Suchtproblemen zu helfen. Das gehört zum mitmenschlichen Umgang hinzu, und kann nicht durch Verbote abgelöst werden.

Tomas Kuttich
5 Jahre her
Antworten an  Oberbayer

Ehrenmorde sind in Teilen der Welt auch ein Jahrtausende altes Kulturgut. Ihr Argument taugt insoweit nicht besonders…

Gisela Fimiani
5 Jahre her

Wo sind die Proteste gegen den „Bevormundungs-Rausch“ auf immer zahreicher werdenden Ebenen? Wir lieben unsere Volkserzieher offenbar.

Andreas aus E.
5 Jahre her

Alkohol muss schon deshalb verboten werden, weil das haram ist.

Passt euch endlich an!!!

Oberbayer
5 Jahre her
Antworten an  Andreas aus E.

Hmm, kein Bier in Mekka?