Ralf Schuler: Die „Brandmauer“ ist Repräsentanzverweigerung

Schuler nimmt sich vor allem die CDU/CSU vor. Wörtlich schreibt er: „Erst viel zu spät hat die Union begriffen, dass die mit feixendem Kalkül immer wieder von SPD und Grünen eingeforderte Brandmauer ein großer strategischer Fehler war.“ Stimmt, denn mindestens ein Drittel der AfD-Wähler sind vormalige Unionswähler.

Ralf Schulers Buch Lasst uns Populisten sein. Zehn Thesen für eine neue Streitkultur“ erschien 2019, Anfang 2023 folgte sein Titel „Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde.“ Nun hat Schuler analytisch noch weiter ausgeholt.

In seinem neuen Buch „Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben“ kommt er zu dem gleichermaßen erschütternden und realistischen Ergebnis, dass bei den Alt-Parteien ein krasses Demokratieversagen vorliegt. Schuler identifiziert eine Reihe an Ursachen für dieses Versagen: unter anderem, dass die Alt-Parteien sich den Staat zur Beute gemacht haben; dass es quasi keine bürgerliche Opposition mehr gibt; dass die Medien, vor allem die öffentlich-rechtlichen, versagen; dass aus der sozialen Marktwirtschaft wieder mehr und mehr eine sozialistische Planwirtschaft wird.

Ausführlich und markant nimmt sich Schuler vor allem die „Brandmauer“-Ideologie aller Alt-Parteien, im Besonderen der CDU/CSU vor. Bereits auf Seite 8 seines Buches schreibt er den entscheidenden Satz:

„Wenn eine Regierung zwanzig bis dreißig Prozent der Wähler hinter eine Brandmauer verbannt und so vom Kampf um die Regierungsmehrheit ausschließt, stimmt etwas mit dem Demokratieverständnis nicht.“

Der „gelernte“ DDR-Bürger Ralf Schuler, geboren 1965 in Berlin-Köpenick und vom Arbeiter- und Bauernstaat mit Repressalien gegängelt, reagiert verständlicherweise sensibel auf „Mauer“-Metaphern. Aber das allein ist es nicht. Schuler betrachtet die Brandmauer, die alle Alt-Parteien und alle linientreuen Medien bis zum Überdruss bemühen, als „Repräsentanzverweigerung“. Denn, so Schuler zu Recht, das Bild der Brandmauer unterstellt, dass es Hunderttausende, ja Millionen an Wählern, Bürgern gibt, die im demokratischen Betrieb nichts verloren haben. Wörtlich: Offenbar „Menschen, die das Land abfackeln wollen. Menschen, gegen die man etwas errichten muss.“

Glanzvolle Verteidigungsschrift
Populismus? Wiederbelebung der Demokratie!
Klar, es geht um die Brandmauer gegen die AfD, die in Mitteldeutschland nach oben durchgestartet ist und zuletzt bei Wahlen Platz 1 oder Platz 2 errang. Die aber auch in der „alten“ Republik – siehe Hessen im Oktober 2023 – auf Platz 2 landete und sogar die SPD (mit Spitzenkandidatin Nancy Faeser) auf Platz 3 verwies.

Schuler versetzt sich in das Denken und Empfinden der Millionen, die AfD wählen und die qua Brandmauer wie Aussätzige behandelt werden. Folge laut Schuler: „Der bis dahin bewährte demokratische Politikbetrieb in unserem Land diskreditiert den Wählerwillen ganzer Regionen als untragbar. Etwas zum Wegsperren. Etwas, das hinter die Mauer gehört.“ Motto: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern!“

„Das riecht schwer nach Volkserziehung und vertieft alte Gräben, die nie ganz zugewachsen sind: Die Wessis sagen den Ossis, was richtig ist. Demokratiewürdig ist das nicht.“ Das schreibt Schuler, der sicher kein AfD-Ghostwriter ist. Gegen die Brandmauer setzt Schuler: Die Etablierten müssen einfach die Motive und die Nöte der AfD- und der Protest-Nicht-Wähler differenziert anschauen und angehen.

Wörtlich Schuler: „Durch Unberührbarkeit, Bannflüche oder Beschimpfung bekommt man das Problem eher nicht aus der Welt, sondern treibt den Trotz der Zornigen nur noch immer heftiger an.“ Alle Wähler, alle Bürger möchten ernstgenommen werden, nicht nur die „woken“, die gutsituierten, die besonders artikulationsfähigen und darob medial gehätschelten. Die allermeisten, die diese Merkmale nicht für sich beanspruchen können oder wollen, sind Teil der vernünftigen politischen Mitte.

Auf alle (!) diese Menschen muss Politik eingehen – mit einem wohlverstandenen Populismus. Hier muss daran erinnert werden, dass der Begriff „Populismus“ das lateinische Wort „populus“ (= Volk) beinhaltet. „Dem Volk aufs Maul schauen“ – das klingt hemdsärmelig, aber es ist dies der Job der Politiker, die eigentlich nichts anderes sein sollten als die Anwälte des Volkssouveräns.

Schuler nimmt sich vor allem die CDU/CSU vor. Wörtlich schreibt er: „Erst viel zu spät hat die Union begriffen, dass die mit feixendem Kalkül immer wieder von SPD und Grünen eingeforderte Brandmauer ein großer strategischer Fehler war.“ Stimmt, denn mindestens ein Drittel der AfD-Wähler sind vormalige Unionswähler. Die Union muss sich also auch nicht wundern, wenn sie in der Sonntagsumfrage trotz eines fortwährend desaströsen Erscheinungsbildes der „Ampel“ bei nur (!) 30/31 Prozent dahindümpelt. Man ist offenbar genügsam geworden in der Ex-Merkel-Union.

Der Westen am Scheideweg
»Dekadenz ist der Normalfall«
Apropos Merkel: Sie ist wohl real die maßgebliche Beförderin der AfD gewesen. Mit ihrem Agieren in der Euro-Rettung, beim Atomausstieg, mit der willkürlichen Totalöffnung der deutschen Grenzen im Spätsommer 2015 und mit ihrem verfassungswidrigen Eingreifen in die (Nicht-)Wahl eines Thüringer Ministerpräsidenten Anfang 2020 hat sie der AfD erst den Schub verpasst, der sie schließlich in manchen Bundesländern auf über 30 Prozent schnellen ließ. CDU-Chef Merz hat dieses Erbe wie einen Klotz am Bein übernommen. Schuler schreibt dazu sinngemäß: Mit der von ihr initiierten Brandmauer-Hermetik habe Merkel für Merz bei Wahlen und für Koalitionsverhandlungen einen immer engeren Korridor hinterlassen.

Merkel und in der Folge Merz hätten dann die vom linken Lager oktroyierte Nazi-Keule aus dem Arsenal geholt und damit Hunderttausende an Wählern ein für alle Mal oder zumindest auf lange Zeit abgehakt. Ehemalige CDU-Wähler seien zu Nazis abgestempelt worden. Ferner habe sich, so Schuler, mit dieser Hermetik das Themenspektrum der Union verengt. Motto: Bloß nichts fordern, was – etwa in der Frage der Migration, der zugewanderten Kriminalität oder des Genderismus – auch die AfD fordern könnte.

2018 war Merz übrigens angetreten, die AfD „halbieren“ zu wollen. Schuler schreibt: Damals sei das noch möglich gewesen. Heute sei dieses Ziel – Merz räume das selbst auf Nachfrage ein – aussichtslos. Zumal – Schuler erinnert daran – Leute wie CDU-Mann Daniel Günther auf CDU-Parteitagsabenden schon auch mal zu fröhlichen Beats „Scheiß Nazis“ ins Saal-Mikro brüllen. Ja, der Frust bricht sich Bahn.

Für Schuler ist das nichts anderes als Anbiederung ans linke Milieu. Er schreibt denn auch zum Ende seines Buches (S. 287): „Die Union hat sich mit der Strategie der Nazi-Etikettierung und Ausgrenzung («Brandmauer») der AfD selbst ihr Grab geschaufelt: Während sie die bürgerliche AfD noch mit politisch-inhaltlicher Konkurrenz minimieren und womöglich hätte verdrängen können, darf sie von der radikalisierten AfD nun weder Themen noch Tonlage übernehmen, um die frustrierten Wähler wieder zurückzugewinnen. Der Rückweg für viele AfD-Unterstützer in die gesellschaftliche Mitte ist inzwischen vermutlich weithin verbaut, weil sie durch die Ausgrenzung mit einem Stigma versehen wurden, das als tiefe Verletzung empfunden wird und ihrerseits einen Vernichtungswillen gegenüber der gegnerischen Seite hervorbringt.“

Der Blogger und frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Gunter Weißgerber sagt es noch anschaulicher: Mit der Brandmauer-Ideologie lässt sich die Union von SPD, Grünen, den nahestehenden Medien und NGOs wie an einem Nasenring durch die Manege ziehen. Dass eine andere von der CDU errichtete „Brandmauer“ längst löcherig geworden ist, wäre ein weiteres Thema. Gemeint ist die angebliche Brandmauer der CDU gegenüber Ultralinken und Kryptokommunisten.

Ralf Schuler, Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Fontis Verlag, Hardcover, 304 Seiten, 24,90 €.


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